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Literatur und Politik - Wider die Verrohung der Sprache im öffentlichen Raum

Rede der KAS-Literaturpreisträgerin Husch Josten in Rio de Janeiro am 08.11.2019

Auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung sprach die Schriftstellerin Husch Josten im November 2019 zur Verrohung der Sprache im öffentlichen Raum in Petrópolis und in Rio de Janeiro. Hier können Sie die Rede der KAS-Literaturpreisträgerin lesen.

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Wider die Verrohung der Sprache - Rede von Husch Josten in Rio de Janeiro am 08.11 herunterladen

Sehr geehrter Herr Rektor, Herr Professor Ferreira Lourenco,

sehr geehrte Frau Czymmeck,

sehr geehrter Herr Beloch,

sehr geehrte Frau Michahelles,

verehrte Frau Darcy de Oliveira,

guten Tag, meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

wie Sie vielleicht gelesen haben, komme ich aus Köln. Ich weiß nicht, ob Sie Köln kennen!? Oder den Kölner Dom. Das wäre noch am ehesten wahrscheinlich, denn unser Dom ist das meistbesuchte Bauwerk der Welt.

 

Zumindest behaupten das die Kölner Tourismus-Manager – und niemand in Köln würde eine solche Mitteilung jemals ernsthaft hinterfragen.

 

Vielleicht ist das hier in Rio ganz ähnlich. Jedenfalls bin ich sicher, dass auch der Zuckerhut mit höchst beeindruckenden Besucherzahlen aufwarten kann. Und ganz bestimmt sind die Menschen in Rio mindestens so stolz auf ihren Hausberg wie wir auf unsere Kathedrale. Denn natürlich geht es in beiden Fällen um weitaus mehr als um ein Stück Felsen und ein Stück Architektur.

 

Es geht um Symbole. Zuckerhut und Dom haben etwas zu bedeuten. Und sie bedeuten für sehr viele, sehr unterschiedliche Menschen etwas Gleiches.

 

Beides ist nicht selbstverständlich.

 

Denn damit ein Ding zu einem Symbol wird, müssen Menschen ihm eine Bedeutung zuschreiben. Es mag zwar sein, dass auch das Ding an sich schon eine Bedeutung mitbringt. So wie der Pão de Açúcar eben an das Zuckerbrot erinnert und der Kölner Dom in all seiner aufstrebenden Gotik an das Himmelsreich erinnern soll. Seine Funktion als Wahrzeichen aber, als Symbol für Heimat zum Beispiel, haftet ihm nicht natürlicherweise an. Diese Art von Bedeutung wird zugeschrieben. Und zwar: kollektiv.

 

Ich weiß nicht, ob es hier in Rio auch Lieder über den Zuckerhut gibt. In Köln gibt es zahlreiche Lieder über den Dom. Und viele Kölner, die längere Zeit nicht in ihrer Heimatstadt waren, summen eines dieser Lieder vor sich hin, wenn sie dann eines Tages wieder zurückkehren. Einige müssen dann sogar weinen vor lauter Heimat-Rührung. Das ist ein kollektives Phänomen. Es befällt junge Menschen ebenso wie Ältere, Männer ebenso wie Frauen, Arme ebenso wie Reiche.

 

 

Wenn man sich nun vorstellt, der Pão de Açúcar würde gerodet oder der Kölner Dom erhielte einen neon-gelben Anstrich, dann wird man schnell feststellen, dass das Symbol nicht mehr funktioniert. Die meisten Menschen müssten wohl immer noch weinen, aber aus anderem Grund.

 

Man hätte ihnen nämlich nicht nur einen Felsen oder eine Kirche genommen, sondern ein Symbol. Man hätte ihnen ein Stück Bedeutung und damit ein Stück Orientierung in der Welt, vielleicht sogar ein Stück Identität genommen.

 

Nicht anders, glaube ich, verhält es sich mit dem Thema, über das zu sprechen Sie mich eingeladen haben – mit der Sprache, mit unseren sprachlichen Symbolen, mit der Verrohung dieser Sprache im öffentlichen Raum, und mit dem, was diese Verrohung anrichten kann. Auch in der Sprache wird gerodet und neongelb gestrichen dieser Tage, dass es manchmal zum Weinen ist.

 

Ich möchte aber eines voranstellen:

 

Es geht mir hier nicht allein um die besondere Sensibilität, die man von einer Schriftstellerin für dieses Thema erwarten darf und muss.

Es geht nicht um den kulturpessimistischen Ton, mit dem sich die Liebhaber geschätzter Kulturfertigkeiten über deren Verschwinden beklagen.

Es geht um weit mehr — so lieb es mir wäre, wenn mein Beruf, wenn allein die Sprache es richten könnte. Ich bitte Sie deshalb um Verständnis dafür, dass ich auf dieses Thema selbst als Kölnerin (ja: auch wir feiern Karneval!) einigermaßen humorlos zugehen werde und auch ansonsten „ziemlich deutsch“.

 

Das hat schon mit dem Datum meines Besuches bei Ihnen zu tun. Wer als Deutsche kurz vor dem 9. November im Ausland eine Rede hält, kann gar nicht anders, als an diesen sogenannten „Schicksalstag“ der deutschen Geschichte zu denken:

 

Über den 9. November 1918: die Revolution der Arbeiter- und Soldatenräte, das Ende der Monarchie, die Errichtung der ersten demokratischen Republik auf deutschem Boden und über die Geburt einer politischen Legende, ohne deren Wirkmächtigkeit die nächsten „deutschen Schicksalstage“ nicht denkbar gewesen wären: das rechte Narrativ vom sogenannten „Dolchstoß“, mit dem die Demokraten dem deutschen Heer sozusagen an der Heimatfront in den Rücken gefallen seien und die Weltkriegsniederlage herbeigeführt hätten.

 

Befeuert auch durch dieses Narrativ wagten nur fünf Jahre später Adolf Hitler und General Erich Ludendorff ihren Putsch gegen die Republik – am 9. November 1923.

 

Dann, weitere 15 Jahre später: der 9. November 1938. Die Nacht der großen Pogrome in Deutschland, die Verwüstung und Schändung jüdischen Lebens, eine Vorankündigung dessen, was folgen sollte und auch dazu wieder eine sprachmusikalische Begleitung, die erst rund 60 Jahre später aus dem offiziellen Sound der Bundesrepublik verschwand: die „Reichskristallnacht“, ein Wort der Täter, das ihre Taten heroisierte und das die Brandstifter von damals erstaunlich lange überlebte.

 

Und schließlich: der 9. November 1989. Der sogenannte „Fall“ der Mauer, das Ende des Kalten Krieges und der Beginn eines neuen Zeitalters, dessen auch verstörende Züge wir – vielleicht - erst in diesen Tagen erahnen, wenn das Diktum der ersten friedlichen Revolution auf deutschem Boden auf einmal gänzlich unfriedlich klingt: „Wir sind das Volk“.

 

Auf einmal ist „das Volk“ nicht mehr nur das Volk der Verfassung, nicht mehr nur die Menge der Staatsbürger, ist es nicht mehr nur der demokratische Souverän;

auf einmal ist „das Volk“ wieder die Gruppe der Abstammungs-Richtigen, der Gleich-Sprechenden und der Recht-Meinenden;

auf einmal ist es wieder ein „Wir“, zu dem viele selbst dann nicht gehören sollen, wenn sie in zweiter oder dritter Generation in einem Land leben; zu dem aber auch all jene nicht gehören sollen, die angeblich die öffentliche Meinung beherrschen, denn, so rufen es aufgebrachte Bürger und rechte Politiker in den Parlamenten: „Wir sind das Volk“.

 

„Wir“, die sich empören,

„wir“, sagen sie, die sich dem „Untergang des Abendlandes“ in den Weg stellen,

„wir“, die sich gegen eine geplante „Umvolkung“ wehren und

„wir“, die wir die Zeit des Faschismus als einen „Vogelschiss“ (Alexander Gauland, AfD) betrachten, von dem wir uns den Glanz unserer „tausendjährigen Geschichte“ nicht nehmen lassen.

 

„Wir sind das Volk“ – wie muss das heute klingen in den Ohren jener, die sich vor dreißig Jahren in Deutschland im Namen von Demokratie und Rechtsstaat selbst ermächtigten? Eine neongelbe Kathedrale, ein grauer Zuckerhut. Diebstahl von Bedeutung und Identität. Gekaperte Symbole.

 

Fängt es so an? Das ist die Frage, mit der sich in Deutschland dieser Tage viele Menschen quälen. Sie fühlen sich erinnert, während wir doch schon weit über den Anfang hinaus sind…

 

Ich selbst habe vor ziemlich langer Zeit mein Geschichtsstudium beendet mit einer Arbeit über den Schriftsteller Bernard von Brentano und sein Buch „Der Beginn der Barbarei in Deutschland“. Diese Schrift erschien 1932 – zu einer Zeit, als viele noch glaubten, dass sich Hitler und der Nationalsozialismus von selbst demontieren würden. Brentano hingegen, dessen Barbarei-Begriff sich zunächst marxistisch auf den Kapitalismus und seine Folgen und erst in zweiter Linie auf den Nationalsozialismus bezog, war einer von gar nicht so wenigen, die das Unheil kommen sahen und die es an Warnungen vor dem „drohenden Untergang“ nicht fehlen ließen.

 

Genützt hat es nichts. Brentanos Stimme verhallte ebenso wie die anderer späterer Emigranten und Regimeopfer, darunter auffallend viele Schriftsteller, Dichter und Journalisten – Menschen, die in ihrer Nähe zur Sprache zugleich über eine Art von Frühwarnsystem verfügten für das Tatsachen-Potential und die Tätlichkeiten, die sich hinter Wörtern und Sätzen – ja, nicht einmal - verbargen.

 

Gestern durfte ich im Haus des großen Stefan Zweig in Petrópolis sprechen. Im Haus eines unverbrüchlichen Pazifisten, eines von tiefer Humanität beseelten Schriftstellers, eines Vertriebenen, der bei Ihnen eine Heimat fand und für „die geistige Einheit der Welt“ warb, um sie rang und seine Aufgabe im Wort, niemals im Schlagwort, nie in der Parole sah.

 

Was würden Brentano, den der deutsche Schriftsteller und Nobelpreisträger Thomas Mann aus guten Gründen auch einen „graziösen Querkopf“ nannte, Stefan Zweig und die anderen heute sagen, wenn sie – diesmal nicht nur in Deutschland – lesen und hören würden von politischen Amtsträgern, die ihre Gegner ins Gefängnis sperren oder sie vor einer global zugeschalteten Öffentlichkeit als – Zitat – „aufgeblasenen Arsch“ titulieren? (Donald Trump zu Mitt Romney)

Was würden Sie sagen über Politiker, die meinen, dass „das Problem der Diktatur war, dass sie nur gefoltert und nicht getötet hat“? (Jair Bolsonaro 2016 im Radio)

Und was von Menschen, die von „kulturfremden Völkern“ sprechen und das Flüchtlingselend im Mittelmeer auf der Straße kommentieren, indem sie skandieren: „Absaufen, absaufen“!

 

Ich bin sicher: Sie würden auch hier eine „Barbarei“ am Werke sehen, und sicher würden sie diese Barbarei auch als eine Barbarei der Sprache brandmarken. Aber ebenso sicher würden sie die Barbarei nicht für ein genuin sprachliches Problem halten.

 

Nicht die Sprache der Barbaren hielten sie für ihren Gegner, sondern die Barbaren selbst. Und keinesfalls würden sie denken, dass ihnen mit Sprache beizukommen wäre. Nicht gegen die Verrohung der Sprache würden sie einschreiten wollen, sondern gegen die Verrohung der Verhältnisse. Sie würden auf einen Beginn der Barbarei hinweisen, der das Gebiet des rein Sprachlichen – sofern es das überhaupt je gibt – längst verlassen und auf das Leben selbst, auf die Gesellschaften und ihre Institutionen übergegriffen hat:

 

  • auf das älteste Parlament der Welt, das von einem nicht gewählten Regierungschef suspendiert wird;
  • auf ein Wahlsystem, das denjenigen ins höchste politische Amt bringt, dem es gelingt, durch die gezielte Manipulation einer Minderheitenmeinung eine vermeintliche Stimmenmehrheit auf sich zu vereinen – auch, wenn ihn in Wahrheit nicht einmal ein Viertel aller Bürgerinnen und Bürger gewählt hat;
  • auf den größten Binnenmarkt der Welt, Europa, der sich in zentralen Fragen der Humanität spalten lässt, weil seine politischen Führer die Rücksicht auf vermeintlichen Stimmenverlust höher bewerten als die Grundwerte der Gemeinschaft, für die sie Verantwortung tragen;
  • auf das bevölkerungsreichste Land dieser Erde, das sich anschickt, mit Hilfe künstlicher Intelligenz, das universale Menschenrecht auf freie Selbstbestimmung durch ein lücken- und gnadenloses System der sozialen Kontrolle zu ersetzen;
  • auf das größte Land Südamerikas, das aus ökonomischen Gründen ökologischen Raubau betreibt nicht nur an den eigenen Lebensgrundlagen, sondern denen der gesamten Menschheit,
  • und, ja, auch auf mein Land, in dem es gut 80 Jahre nach dem 9. November 1938 wieder möglich ist, eine jüdische Gemeinde mit Waffengewalt zu bedrohen und auf offener Straße unschuldige Menschen zu erschießen – im Namen einer expliziten rechten Gewaltstrategie.

 

Sie alle wissen: Diese Aufzählung der alltäglichen globalen Barbareien ist keineswegs vollständig. Ich könnte sie erschreckend lange fortsetzen und es wären dabei der internationale Terrorismus ebenso zu erwähnen wie die Verbrechen, die im Namen seiner Bekämpfung verübt wurden und werden; es wären durchaus barbarisch zu nennende Angriffe auf unsere informationelle Selbstbestimmung zu nennen;

Inhaftierungen und Folter wären zu erwähnen, eingesetzt gegen Regierungskritiker in Staaten, mit denen wir florierende Handelsbeziehungen pflegen und militärisch verbündet sind;

auch an die Tatsache wäre zu erinnern, dass weltweit 42 Milliardäre soviel Besitz angehäuft haben wie die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung.[1]

 

Wie wichtig oder unwichtig ist vor dem Hintergrund solch allseits roher Verhältnisse die Frage nach der Verrohung der Sprache? Ich bin mir da – auch und gerade als Schriftstellerin – nicht wirklich sicher. Zu schnell kommt es mir vor, als würde sich noch während des Untergangs der Titanic jemand dafür interessieren, ob die tapfer weiterspielende Bordkapelle den richtigen Ton trifft.

 

Aber die Sprache ist eben kein Schmuckwerk, keine notfalls verzichtbare Zugabe des Lebens, keine Begleitmusik. Sie ist und bleibt das Medium unseres Denkens und – wichtiger noch: ein Medium unseres Fühlens.

 

„Mit der verbalen Entwertung einzelner Gesellschaftsmitglieder fängt es an, und dann dauert es nicht mehr lange, da geht einer quer über die Straße und haut dem anderen vor den Kopf, weil es ja eh nur Ungeziefer ist“ – so hat es der deutsche Dichter Durs Grünbein vor gut einem Jahr formuliert und vor der „sprachlichen Aufrüstung“ gewarnt, vor der Rede von „Kopftuchmädchen, Messermännern und sonstigen Taugenichtsen“, die es bis ins Parlamente geschafft hat.

 

Spätestens jetzt, nach den Ereignissen in der deutschen Stadt Halle, wo ein Rechtsextremist vor wenigen Wochen in der Synagoge am Feiertag Jom Kippur ein Massaker unter den dort versammelten Juden anrichten wollte, nicht hereinkam, zwei Passanten erschoss, spätestens jetzt sollte auch dem letzten klar sein: Mit der Sprache verrohen auch die Gefühle, besonders das Mitgefühl und damit auch die moralischen Maßstäbe.

 

Die Rede von der Flüchtlings“welle“ etwa: Wer würde es angesichts einer solchen Welle – und man denkt ja sofort an eine Welle im Tsunami-Format, nicht etwa an seichte Wellen auf feinem Sand - wer also würde es angesichts einer solchen Welle für moralisch geboten halten, dem Wasser Einlass zu gewähren, vielleicht mit dem Argument, man könne es dann ja immer noch umleiten und der Welle durch großflächigen Auslauf die Kraft nehmen? Und wieviel moralischer steht derjenige da, der die Errichtung oder Verstärkung von Deichen fordert, um verlässlichen Schutz zu bieten gegen das anbrandende Unglück?

 

Neuerdings spricht man in solchen Fällen von „Framing“, vom Aufruf spezieller, normativ aufgeladener Kontexte durch die Verwendung bestimmter Metaphern oder anderer Sprachfiguren. Schließlich macht es einen moralischen Unterschied, ob das „Boot“ voll ist oder das „Schiff“, und auch in der Automobilindustrie kommen die Verantwortlichen viel glimpflicher davon, wenn die Öffentlichkeit weltweit über einen „Diesel-Skandal“ redet und nicht über einen „Betrugs-Skandal“. Dabei ist diese „Kombination von illegalen Manipulationen verschiedener Autohersteller zur Umgehung gesetzlich vorgegebener Grenzwerte für Autoabgase und – im Gegenzug – der politischen Einflussnahme zu deren Absicherung“[2] nichts als Betrug.

 

Hier wird nicht nur der Zuckerhut gerodet oder die Kathedrale gestrichen. Hier werden nicht nur Bedeutungen manipuliert.

Hier verwischt Sprache moralische Tatbestände – und schafft Räume des scheinbar moralisch vertretbaren, die eben noch tabu waren. Aus „das wird man doch noch sagen dürfen“ wird „das wird man doch noch tun dürfen“.

 

Dabei ist es wichtig zu wissen, dass dieses „vor den Kopf hauen“, von dem Grünbein spricht, keineswegs erst und ausschließlich in der Folge sprachlicher Verrohung, sozusagen als außersprachlicher Akt vollzogen wird. Es ist auch schon die Sprache selbst, die zuschlägt.

 

Die deutsche Philosophin Petra Gehring spricht von der „Körperkraft der Sprache“[3]. Und sie sagt damit: Sprache funktioniert nicht einfach wie das Ventil am Schnellkochtopf und entlässt einen Druck, der unabhängig vom Ventil im Kessel existiert. Es ist vielmehr so, dass sich heftige Emotionen erst im und durch den Sprechakt selbst konstituieren.

 

Wer je die Menschen beobachtet hat, die im schummrigen Licht ihrer Fackeln den Schlachtruf der „Lü-gen-pres-se“ skandieren oder „Merkel muss weg“ in Endlosschleife wiederholen, der weiß, was Gehring mit der Körperkraft der Sprache meint. In solchen Sprech-Momenten wird nicht nur vorhandener Hass verbalisiert, es wird auch neuer Hass durch Sprache in die Welt gebracht.

 

Und dort trifft er auf jene, die gemeint sind – trifft sie mit körperlicher Kraft, einer Kraft, die sogar messbar und sichtbar gemacht werden kann. Längst wissen Neurowissenschaftler, dass die Opfer von „hate speech“ auf die verbalen Attacken exakt so reagieren, wie auf körperliche Angriffe. In beiden Fällen werden von ihrem Nervensystem dieselben Schmerzbetäubungsstoffe ausgeschüttet – der sprichwörtliche „Schlag in die Magengrube“, den uns jemand per Sprache versetzt, ist also nicht nur ein sprachliches Bild, sondern eine neurologische Tatsache.

 

Was aber bedeutet es, wenn solche Schläge nicht mehr der persönlichen und privaten Auseinandersetzung vorbehalten bleiben, sondern zum zeitgenössischen Soundtrack werden, zum Klang der allgemeinen Wirklichkeit? Wenn sich die Gesellschaft im Klima eines sprachlichen Darwinismus veheddert, einer Welt aus Freund und Feind, Schwarz oder Weiß?

 

Nicht nur in den USA trennt die Frage der Trump-Anhängerschaft bereits ganze Familien und Freundeskreise. Auch hier aus Brasilien berichtete kürzlich ein Psychotherapeut: „Wenn alles Politische plötzlich ins Private reicht, kann man sich der Frage, auf welcher Seite einer steht, kaum mehr entziehen. In meiner Praxis behandle ich Frauen, die sich scheiden ließen nach der Wahl. Jugendliche, die von zu Hause ausgezogen sind, weil ihre Eltern ihnen fremd geworden sind.“[4]

 

Ich bin sicher: Ganz abgesehen vom persönlichen Leiden, das durch die rohen Verhältnisse ausgelöst wird, leidet auch die Demokratie. Sie ist eine Staats- und Gesellschaftsform der Mitte. Aber wieviele Menschen können noch ruhig und in Frieden leben, wenn links und rechts der Krieg tobt?

 

Unweigerlich muss man an Thomas Mann denken, an den Zauberberg und „die große Gereiztheit“. Der Titel für eines der letzten Kapitel in diesem Endzeitroman diente einem deutschen Sachbuchautor[5] kürzlich als Vorlage für die Betitelung der eigenen Zeitdiagnose: Alle schreien aufeinander ein, man versteht sein eigenes Wort nicht mehr, Türen schlagen und Totgeweihte haben die geladene Waffe im Anschlag. Das Ende kennt man. Aber müssen auch wir – wie Hans Castorp im Zauberberg – im allgemeinen Taumel der Zeit verloren gehen, der Welt abhanden kommen?

 

Ich kann und will das nicht so sehen. Ich kann und will allerdings auch nicht glauben, dass es ausgerechnet eine besondere Sprachdisziplin sein wird, die uns davor bewahrt. Gewissen Formen der Sprachdisziplin oder besser: der Sprachdisziplinierung, traue ich sogar eher das Gegenteil zu, viele fühlen sich ausgeschlossen von zu viel Akribie, von der Sprachwissenschaft, weil sie immer unsicherer werden im Umgang mit „ihrer“ Sprache: Was ist richtig? Was darf man sagen, ohne missverstanden, ohne fehlinterpretiert zu werden?

 

Nicht wenige derer, die auf die „Lügenpresse“ einbrüllen, tun das aus genau diesem Grund: Weil sie sich durch Sprachtabus und -dogmen ausgegrenzt fühlen. Nach dem Motto: „Wer so spricht, mit dem spricht man nicht.“ Man überlässt ihn lieber seinen eigenen Echokammern, in denen schließlich Hass gedeiht.

 

So wird die Welt nicht besser, die große Gereiztheit nicht kleiner und so werden die rohen Verhältnisse nicht erträglicher.

 

„Wer sich auf die Veränderung der Sprache versteift, hat aufgehört, sich für die Veränderung der Welt zu interessieren“, hat der österreichische Philosoph Robert Pfaller geschrieben und man kann ihm gar nicht genug zustimmen.

 

Nicht auf die Beurteilungsfähigkeit von Sprache kommt es an, sondern – ganz im Sinne Hannah Arendts - auf die Schulung des Urteils schlechthin. Auf die Urteilsfähigkeit jedes einzelnen von uns. Auf Ihre Urteilsfähigkeit. Kaum zufällig hielt die Widerstands-Philosophin Arendt gegen Ende ihres Lebens die Ausbildung der Urteilskraft für das politischste aller geistigen Vermögen. „Über das Urteilen“ war das letzte in ihrer Schreibmaschine eingespannte Blatt überschrieben. Geht es nicht vor allem darum? Um unsere unablässige Suche nach und unsere Handhabung von „guten Gründen“, mit denen wir gegen die Verrohung der Verhältnisse selbst einschreiten können und müssen; mit denen wir uns den Rohheiten und Zumutungen entgegenstellen, die uns allerorten bedrängen?

 

Als Schriftstellerin versuche ich dies auf meine Weise zu tun. Mit meiner Sprache. Alles Schreiben zielt auf ein Lesen - so wie das Sprechen auf das Hören zielt. Schreiben ist ein sozialer Vorgang und hat - meist - Soziales zum Gegenstand: Wir erzählen von Menschen, die es - so oder so - miteinander versuchen: als Freunde oder Feinde, als Paare, als Gruppe, als Gesellschaft. Darin liegen meines Erachtens die Möglichkeiten der Literatur:

Dass sie eigene und fremde Erfahrungen vermittelt. Dass sie frei ist, das zu tun und - in Unfreiheit - die Politik mit der Freiheit des Wortes konfrontiert.

Dass sie Empfänglichkeit weckt und die Sensibilität schult für das Leben und Leiden der anderen und für unsere Historie.

Dass sie, wie Bodo Kirchhoff es einmal formuliert hat[6], unsere Einsamkeit lindert und beweist, dass wir nicht allein sind in Schmerz oder Freude (was uns etwas kleiner macht). Und dass sie uns durch diese Gemeinschaft brüderlicher empfinden lässt (was uns wiederum größer macht).

 

Das ist das Potenzial der Literatur, das Ihr Landsmann, der brasilianische Schriftsteller Luiz Ruffato vor sechs Jahren bei der Buchmesse in Frankfurt so gut und treffend formuliert hat, als er sagte:

 

„Unsere Einzigartigkeit zu erklären, ist eine Form des Widerstands.“

 

Ist es eine Illusion, zu glauben, dass Verrohungsprozesse durch Kunst, durch Literatur aufzuhalten wären?

 

Vielleicht ist dies eine lebensnotwendige Illusion. Sicher jedenfalls ist: Es sind stets die Künste, die von den Verrohungsmächtigen verboten werden, allen voran ist es die Literatur — allen voran sind es Autoren wie Stefan Zweig, deren Bücher verbrannt werden, deren friedvolles, weitsichtiges Gedankengut dem kleinen Geist des Hasses zu gefährlich erscheint. Das lässt zumindest hoffen, dass die Kraft der Worte weitaus größer ist, als die Geschichte uns darlegt.

 

Doch am sichersten ist der Widerstand aufgehoben zunächst und vor allem in der Haltung eines jeden Menschen, in seiner Art, die Welt zu sehen — mit seinem Urteilsvermögen, wie Hannah Arendt sagte.

 

Auf der Restaurant-Terrasse eines Hotels wurde ich vor kurzem Zeugin eines Gesprächs am Nachbartisch. Es sitzen dort: Vater und Mutter, beide etwa Anfang 30 und die beiden Töchter, vielleicht acht und vier Jahre alt. Die Kinder haben je einen Zeichenblock und Buntstifte vor sich, und ich kann erkennen, dass die ältere Tochter offenbar das Hotel zeichnet, für jedes Zimmer malt sie ein Fenster und fragt dabei ihren Vater:

 

„20 Zimmer für ein Hotel – ist das groß genug?“

Eine erstaunliche Frage für eine Achtjährige, denke ich: „Groß genug wozu?“, könnte man fragen, aber der Vater weiß, was seine Tochter meint und was sie wissen will. Jedenfalls antwortet er:

 

„Kommt darauf an, was ein Zimmer kostet.“ Es müsse schon einiges kosten, damit sich das Hotel rechnet. Sofort will die Tochter wissen, was genau denn „einiges“ sei. Und gibt eine – typisch kindliche – Schätzung ab:

 

„100 Euro?“.

„Nein“, sagt der Vater, „deutlich mehr“. Ob sie denn wisse, was zum Beispiel das Zimmer koste, in dem sie wohnen. Die Kleine schätzt: „200“?

„Nein!“

Da macht sie den entscheidenden Sprung:

„1000?“

„Na ja, nicht ganz, aber fast!“

 

Der Vater lacht und ist stolz. Die Tochter hat soeben eine neue Welt betreten und kommt auf Ihre Zeichnung zurück:

 

„Dann sind 20 Zimmer genug, oder?“

„Ja, wenn Du sie alle zu dem Preis vermieten kannst.“

„Na ja, es sind ja große Zimmer. Familienzimmer.“

„Schon, aber besser nennst Du sie Suiten.“

„Wie schreibt man das?“

 

Der Vater buchstabiert, hat dann aber noch eine bessere Idee:

 

„Du brauchst auch eine Präsidenten-Suite.“

„Warum das denn?“

„Weil die Leute sich dann so wichtig vorkommen wie ein Präsident und bereit sind mehr zu zahlen.“

 

Die Tochter versteht den Trick sofort und sagt:

 

„Dann mach’ ich auch ein Königszimmer, da glauben die Leute dann, dass sie Majestäten sind und zahlen noch mehr.“

 

Wieder lacht der Vater und ist stolz, und ich staune. Staune, wie schnell sich natürliche Gastfreundschaft und das Interesse am Anderen in betriebswirtschaftliche Berechnung verwandeln lässt, wie leicht sich die Maßstäbe verschieben und die Verhältnisse verrohen, das Gefühl korrumpiert wird.

 

Sprachlich ist alles in bester Ordnung auf der Hotelterrasse, aber ich denke an meinen bevorstehenden Vortrag hier bei Ihnen und bin sicher: So fängt es an. Und ein Satz fällt mir ein vom österreichischen Schriftsteller Karl Kraus: „Die Kultur endet, indem die Barbaren aus ihr ausbrechen“.[7]

 

Vielen Dank!

 

[1] https://www.welt.de/wirtschaft/article172684758/Oxfam-42-Milliardaere-besitzen-so-viel-wie-die-halbe-Welt.html

[2] Quelle Definition: Wikipedia

[3] https://www.amazon.de/dp/B07K88W1NQ/ref=dp-kindle-redirect?_encoding=UTF8&btkr=1 und https://de.wikipedia.org/wiki/Petra_Gehring

[4] https://www.spiegel.de/plus/amazonas-braende-in-brasilien-jair-bolsonaro-ist-ein-perverser-a-f125ceb9-9451-4a32-80e9-a982e8f72444

[5] Bernhard Pörksen. Siehe: https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/die-grosse-gereiztheit/978-3-446-25844-0/

[6] Bodo Kirchhoff, Frankfurter Poetikvorlesung, 1994/95: „Legenden um den eigenen Körper“

[7] https://www.tagesspiegel.de/berlin/zur-verrohung-der-politischen-sprache-die-verflachung-des-denkens-kann-gefaehrlich-werden/24160190.html

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