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Parteigründungen und Parteiwechsel

von Dr. Thomas S. Knirsch, Karina Kriegesmann

Die neue Partido Social Democrático (PSD) und die Eigenheiten des brasilianischen Parteiensystems

Bereits im Jahr 1980 wurde in Brasilien das 15 Jahre zuvor eingeführte Zweiparteiensystem durch ein Mehrparteiensystem abgelöst. Gut 30 Jahre später hat sich dieses derart fortentwickelt, dass allein in einer Regierungsallianz fast 20 Parteien vertreten sein können . Das Parteiengesetz lässt es zu, dass sich stetig Parteien neu gründen, von anderen abspalten oder auch wieder von der politischen Bühne verschwinden können.

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Aktueller Fall ist die am 21.03.2011 gegründeten Partido Social Democrático (PSD), die vom Oberbürgermeister von São Paulo, Gilberto Kassab, angeführte Abspaltung der DEMOCRATAS (DEM). Im Umfeld der DEM, sich selber als Partei der Mitte verstehend und der Christlichen Demokratischen Internationalen angehörend, sah Kassab keine weitere politische Zukunft für sich. Er kritisierte die nach seiner Meinung stetig ablehnende Haltung der DEM gegenüber allen Maßnahmen der Bundesregierung. Ebenso führte der Oberbürgermeister aus, dass eine angestrebte Annäherung seinerseits an die Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff vom Partido dos Trabalhadores (PT) ein Hauptgrund für seinen Parteiaustritt sei. Er fühle sich in einer Partei wie der DEM unwohl, die immer um des dagegen seins gegen alles stimme.

Ehe es zur Auflösung der parteilichen Bindung zwischen den DEM und Kassab kommt, vergehen sieben Monate langwieriger Verhandlungen. Am 18.03.2011 bitten schließlich Kassab und sein wesentlicher Verbündeter, der Vize-Gouverneur von São Paulo, Guilherme Afif Domingos, um eine Trennung von den DEM. Zuvor hatte Kassab Gespräche mit dem Partido do Movimento Democrático Brasileiro (PMDB) und dem Partido Socialista Brasileiro (PSB) geführt. Schließlich entscheidet er sich doch für eine Parteineugründung und damit für den Austritt aus der DEM.

Kassabs neue Partei sollte nun also Partido Social Democrático – kurz PSD – heißen. Der Parteiname, eine Hommage an Brasiliens früheren Präsidenten Juscelino Kubitschek, der in den 1950er Jahren eine Partei mit ebendiesem Namen vertrat. Der Parteigründer führte des Weiteren aus, dass, wie damals für Kubitschek, auch für ihn der Aspekt der Entwicklung maßgeblich sei.

Als Ort der Parteivorstellung wurde Salvador, Bahia, ausgewählt, um zu zeigen, dass die PSD eine große Reichweite haben werde und nicht bloß die Region von São Paulo umfasse, sondern einen nationalen Charakter besitze. Bei der Veranstaltung im Nordosten Brasiliens brachte Kassab ungefähr 600 Personen, darunter 70 Bürgermeister, zusammen. Bei den Anwesenden handelte es sich nicht nur um unzufriedene Parteimitglieder der DEM, sondern auch des Partido Progressista Brasileiro (PP) und der PMDB, die nun alle Unterschriften zur Eröffnung des Prozesses zur Parteigründung zusammentrugen. Insgesamt war die Partei schon zum Gründungszeitpunkt in neun Bundesstaaten Brasiliens vertreten. Zu den bekanntesten Überläufern zählten bereits zum damaligen Zeitpunkt Otto Alencar, Vize-Gouverneur von Bahia (ehemals PP), Indio da Costa (ehemals PSDB), sowie mittlerweile auch die Senatorin Kátia Abreu (ehemals DEM). Einer der Anwesenden meldete sich treffend mit der Aussage zu Wort, nicht im Moment, aber unter der Bedingung, dass Kassab ihn zum Kandidaten der Bürgermeisterwahlen 2012 mache, der PSD beitreten zu wollen. Abschließend merkte Kassab bereits damals garantierend an, dass die PSD bei den Kommunalwahlen im kommenden Jahr in jeder Gemeinde mit einem eigenen Kandidaten vertreten sein werde. Zudem kündigte er an, dass eine Arbeitsgruppe aus Vertretern aller Bundesstaaten nun das Parteiprogramm definieren werde.

Mit der Parteivorstellung sowie ihrer darauffolgenden offiziellen Anerkennung hat Kassab nun seinen Weg geebnet, um bei den Wahlen im Jahre 2014 als Kandidat für das Gouverneurs-Amt in São Paulo antreten zu können. Es stellt sich nun die Frage, welches Profil diese auf dem politischen Parkett neue Partei vertritt und wie sie sich im Kontext aller brasilianischen Parteien positionieren wird. Diesbezüglich erklärte Kassab die soziale Prägung der Partei. Sie werde sich der Aufhebung der gesellschaftlichen Ungleichheiten und der Entwicklungsförderung widmen. Zudem werde sie sowohl liberale als auch die genannten sozialen Aspekte vertreten und so beispielsweise die Einkommenstransferprogramme unterstützen.

Politische Ausrichtung und Reaktionen auf die PSD

Eine konkrete Beschreibung der politischen Ausrichtung der Partei ist jedoch schwierig. Einerseits wolle man sich der Regierung von Dilma Rousseff (PT) annähern. Andererseits vermeidet Kassab eine klare Positionierung zwischen eben dieser Regierung und der Opposition. Es hieß, dass die PSD „unabhängig geboren“ werde. Außerdem sprach der Oberbürgermeister von einer PSD, die eine „verantwortungsvolle Opposition“ sei und die Regierung dann korrigiere, wenn diese falsch handele. In Widersprüchen stellte er mehrfach die unabhängige Position seiner Partei heraus, die sich weder links noch rechts noch in der Mitte einordnen ließe. Es wurde offensichtlich, dass er einen dritten Weg zwischen PT und PSDB anstrebt, welcher er sich besonders in São Paulo sehr verbunden fühlt. Er bestätigte, dass die Partei dafür da sei, die Probleme des Landes anzugehen.

Die auf die Parteigründung folgenden Reaktionen sind vielfältig. Die DEM, denen ein Großteil der Überläufer zur PSD angehörte, zeigten sich betroffen. Gerade einmal zwei Tage vor der Parteivorstellung in Salvador hatte Kassab dem Parteivorsitzenden der DEM, José Agripino Maia, offiziell seinen Parteiaustritt mitgeteilt. Insgesamt reagierten die DEM mit harscher Kritik auf die neu entstandene PSD und bezeichneten sie als „Partei ohne Würde“. Man verkündete öffentlich, dass sich die DEM in Opposition zur PSD sähen.

Reformbedürftigkeit des politischen Systems

Die aufgezeigten Gründe für die Abspaltung, der Ablauf der Parteigründung und Reflexionen über ihre Positionierung erlauben einen umfassenden Einblick in die alltägliche Realität des brasilianischen Parteiensystems. Es ist erkennbar, dass eine Vielzahl von größeren und kleineren Parteien vorliegt, die allesamt Einzug in den Nationalkongress erhalten haben, da sie an keiner Prozenthürde scheitern können. Dass sich vor diesem Hintergrund keine klaren und andauernden Konstellationen in der Parteienlandschaft ergeben können, wird offensichtlich. Koalitionen und Allianzen sind hier nicht für die Ewigkeit geschaffen und bleiben oft nicht einmal über eine Legislaturperiode in ihrer anfänglichen Konstellation bestehen. Dieses Phänomen ruft Zersplitterung und die von Senatspräsident José Sarney angesprochene Instabilität hervor.

Etwas überspitzt liegt die Schlussfolgerung nahe, dass jeder Politiker eine neue Partei gründen kann oder kurz vor den Wahlen einer anderen beitritt, sobald er sich auf diese Weise größeren persönlichen Erfolg verspricht. Der Fall der PSD zeigt zudem auf, dass es den Parteien oftmals an politischem Profil mangelt und dass ihre Leitlinien weder für den Außenstehenden noch für andere Politiker klar erkennbar sind. Es sind viel mehr die einzelnen Politiker, also individuelle Persönlichkeiten oder eben auch nur ihre Nummern in der Wahlwerbung, die im Gegensatz zu den Parteien die politische Dominanz darstellen.

Dieses in Deutschland nur schwer vorstellbare Szenario prägt Brasilien seit vielen Jahren auf einzigartige Art und Weise. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass seit einiger Zeit eine Reform des Wahlrechts angestrebt wird, die den aufgezeigten Erscheinungen entgegenwirken soll. Insgesamt verdeutlicht das Geschehen rund um die PSD allerdings, dass Abspaltungen von Parteien, Neugründungen und Parteiwechsel zum Erreichen persönlicher Ziele, die ernorme Anzahl von tatsächlichen und potentiellen Überläufern und die unklaren sowie nicht erkennbaren Definitionen der politischen Ausrichtung sowie der inhaltlichen Wertevorstellungen weiterhin ein permanenter und für Brasilianer nicht mehr sonderlich überraschender Bestandteil der politischen Kultur des größten Landes Südamerikas sind.

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13. Juli 2012
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Creative Commons. Agência Brasil. Foto: Antonio Cruz/ABr Creative Commons. Agência Brasil. Foto: Antonio Cruz/ABr

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