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Recht und Globalisierung

von Prof. Dr. Ernst Benda
In zwei Beiträgen "Staatssouveränität in der Ära der Globalisierung" und "Konstitutionalismus und Globalisierung", untersucht Prof. Dr. Ernst Benda, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts und früherer Bundesinnenminister, die Zukunft der Nationalstaaten und die Bedeutung der Verfassung für die Ordnung eines Landes. Die Globalisierung von Politik und Wissenschaft ist das prägende Element der gegenwärtigen internationalen Politik. Selbst Verfassung und Rechtsprechung sind von den Fragen der Globalisierung nicht verschont geblieben. Hier sind neue Antworten gefragt...KAS-Schriftenreihe China Nr. 23, Beijing, Chinesisch/Deutsch, 31 Seiten.

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Staatssouveränität in der Ära der Globalisierung

Vortrag in der Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung in Peking am 16.9.2003 und in Shanghai am 19.9.2003

1.

Mit dem Begriff der Globalisierung wird eine Entwicklung beschrieben, die primär nicht die Folge politischer Entscheidungen ist, sondern auf den Fortschritten von Wissenschaft und Technik beruht. Allerdings ist die Politik nicht ganz unbeteiligt, sondern hat die Rahmenbedingungen geschaffen, auf die Globalisierung angewiesen ist, wie die gerade in diesen Tagen wieder neu verhandelten Regelungen der WTO. Statt von „Globalisierung“ wird auch von „Entgrenzung“ gesprochen. Damit ist gemeint, daß die technisch-industrielle Revolution Fakten geschaffen hat, die bei politischen Entscheidungen, wie sie das Setzen einer Grenze darstellt, nicht ignoriert werden dürfen, wenn anders schädliche Auswirkungen auf die Politik vermieden werden sollen. Insofern kollidiert Globalisierung mit dem Anspruch der Politik auf Souveränität, also auf den Anspruch jedes Landes auf eine eigenständige, an den eigenen Interessen ausgerichtete Entscheidungsfähigkeit.

Das ist kein neuer Vorgang, aber das Konfliktpotential hat sich verschärft. Der Import politisch unerwünschter Zeitungen oder Bücher über nationale Grenzen ließ sich noch verhindern, indem ein umfangreiches Kontrollsystem errichtet wurde. Hörfunk- oder Fernsehsendungen überwinden jede nationale Grenze. Im nationalsozialistischen Deutschland war während des Krieges das Abhören von „Feindsendern“ unter strenger Strafandrohung verboten, aber dies hat nicht verhindern können, daß viele Menschen, die sich durch die eigene Propaganda unterinformiert oder getäuscht sahen, sich auf diese Weise unterrichteten. Heute kann durch das Internet ein weltweiter Austausch von Informationen aller Art erfolgen. Der freie Austausch von Nachrichten und Meinungen ist in den Ländern willkommen und erwünscht, die die Meinungsfreiheit verfassungsrechtlich schützen und garantieren, aber auch ein Land wie Deutschland plagt sich mit dem bisher ungelösten Problem, daß auf dem gleichen Wege etwa Pornographie importiert wird, deren Verbreitung bei uns – anders als in anderen Ländern - unter Strafandrohung untersagt ist. So kann die politische Entscheidung durch die Technik unterlaufen werden; sie wird wirkungslos oder ist mit einem unzumutbaren Aufwand verbunden.

Daß der Staat sich gegenüber von der Norm abweichenden Verhaltensweisen seiner Bürger nur in begrenztem Umfang durchsetzen kann, ist freilich kein neuer Sachverhalt. Der Staat definiert Grenzen, aber soweit sie nicht durch die eigenen Bürger oder Gäste des Landes respektiert werden, setzt ihre wirksame Überwachung einen unter Umständen nicht tragbaren Aufwand voraus. Wir haben jahrzehntelang mitten durch Deutschland und seine Hauptstadt Berlin eine befestigte Grenze gehabt, deren unkontrollierte Überschreitung mit Lebensgefahr verbunden war. Dies war nicht nur eine menschenverachtende, barbarische Einschränkung der bürgerlichen Freiheit, sondern auch eine volkswirtschaftlich unsinnige Investition von Personal und Material in ein Überwachungssystem. Das riesige Überwachungssystem, das die damalige DDR meinte errichten zu müssen, hat mit zu ihrem Zusammenbruch beigetragen.

Aber auch im normalen Leben einer Gesellschaft ist immer neu zu entscheiden, mit wieviel Aufwand die Entscheidungen der Politik durchgesetzt werden sollen. Auch die souveräne Entscheidung jedes Staates ist nicht frei, sondern steht in Abhängigkeit zu real existierenden Voraussetzungen. Dabei ist ein Gesichtspunkt das Maß an Freiheit zu eigenen Entscheidungen, das den Bürgern zugebilligt werden soll, und das Vertrauen darauf, daß sie von dieser Freiheit einen verantwortungsvollen Gebrauch machen werden; ein anderer Aspekt sind die mit einer vollständigen Kontrolle verbundenen Aufwendungen an Personal- und anderen Kosten. Der totale Polizeistaat mag effektiv erscheinen, aber ganz abgesehen von dem Verlust bürgerlicher Freiheiten, die mit ihm verbunden sind, ist er in volkswirtschaftlicher Sicht eine wenig überzeugende Investition von Mitteln, die an anderer Stelle fehlen. In den USA, aber auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern wird im Zusammenhang mit der notwendigen Abwehr des weltweit drohenden Terrorismus diskutiert, wie man dieser Erscheinungsform der Globalisierung begegnen kann, ohne die Freiheit, die geschützt werden soll, unzumutbar einzuschränken. Die mit der Globalisierung verbundene „Entgrenzung“ hat das jedem modernen Staat bekannte Problem nicht neu geschaffen, aber verschärft und noch deutlicher gemacht.

Im Bereich der Wirtschaft bewirkt Globalisierung, daß die Entscheidungen der in ihr Tätigen zwar von nationalen politischen Entscheidungen – wie dem Lohnniveau und der Qualifikation der Arbeitskräfte, der steuerlichen Belastung unternehmerischer Tätigkeit, Rechtssicherheit gegenüber regulierenden Eingriffen – abhängen, aber diese und andere Faktoren nicht mehr unausweichliche Rahmenbedingungen des Wirtschaftens darstellen, sondern miteinander in Wettbewerb treten. Der Unternehmer kann sich heute bei seiner Entscheidung, wo produziert werden soll, den für ihn günstigsten Standort aussuchen. Das Ende des Sowjetblocks und der Fall der Berliner Mauer 1989 bedeutete auch, daß viele andere Grenzen ihre Bedeutung verloren. Aus westlicher Sicht endete damit auch der Wettbewerb der Systeme, und der Kapitalismus hatte gesiegt. Die Marktwirtschaft, die bisher nur im Westen bestand, schien weltweit zum beherrschenden System zu werden. Länder, die an die sozialistische Planwirtschaft glauben, mußten und müssen sich jetzt mit der Frage auseinander setzen, ob Sozialismus in einem Land bestehen kann, wie die sowjetische Führung unter Stalin geglaubt hatte. Während der damit verbundene schwierige Anpassungsprozeß gerade die Politik dieser Länder zu neuen Entscheidungen zwingt, die mit ihrer bisherigen Ideologie in Konflikt geraten können, bedeutet Globalisierung in den westlichen Ländern eher den Verlust oder doch das Schwinden des früheren Glaubens an die Gestaltungsfähigkeit der Gesellschaft durch die Politik. Nicht der Staat, sondern der Markt entscheidet, wo große Investitionen getätigt werden, wo Standorte entstehen oder wohin das Kapital fließt. Da der Staat auf solche Investitionen angewiesen ist, um über Steuern und Abgaben seine eigene Tätigkeit finanzieren zu können, wird er abhängig, sogar erpreßbar. In meinem Lande, und sicher nicht nur dort, glauben viele Politiker, gegen die fortschreitende Globalisierung könnten sie ohnehin nichts ausrichten; nicht der Souverän, also nach demokratischem Verständnis das Volk, scheint die Entwicklung zu bestimmen, sondern die Kräfte der Wirtschaft. Wenn diese, wie gegenwärtig, stagniert und die Zukunftsaussichten ungünstig sind, gehen zaghafte Reformbemühungen meist dahin, die Rahmenbedingungen etwa durch Abbau von steuerlichen und Abgabenbelastungen so den anderer Länder anzupassen, daß Abwanderungstendenzen der Unternehmen begegnet und Investitionen durch ausländische Unternehmen ermutigt werden.

Zwar entspricht es auch dem westlichen Freiheitsverständnis, wie es auch in den Verfassungen etwa der Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck kommt, daß die individuelle Lebensgestaltung, auch die eigenverantwortliche Übernahme der Lebensrisiken dem Einzelnen überlassen werden sollte und daß Wirtschaft am ehesten gedeihen kann, wenn sie vom Staat nicht mehr als notwendig beeinflußt und reguliert wird. Da viele der europäischen Länder, insbesondere auch Deutschland, sich als Staaten nicht einer völlig freien, sondern der sozialen Marktwirtschaft verstehen, und sie daher seit langem umfassende Systeme der sozialen Sicherung errichtet haben, die heute ohne drastische Reformen nicht mehr funktionieren, wird der Ruf nach freier, das heißt auch eigenverantwortlicher Lebensgestaltung als Rückzug des Staates aus seinen bisher selbstverständlichen Verpflichtungen verstanden.

Viele Menschen, die sich an die stetige Fürsorge des Staates für sein Wohlergehen gewöhnt haben, befürchten nun, daß sie der Staat im Stich läßt. Da der Staat nichts mehr verteilen kann, ist die Krise des Sozialstaates entstanden, und die Globalisierung bewirkt, daß die Kräfte der Wirtschaft sich an günstigere Standorte begeben und damit die Voraussetzungen verändert werden, unter denen Wachstum entstehen kann. Handelnder ist nicht in erster Linie der Staat. Er kann nur durch Veränderungen der Rahmenbedingungen reagieren. Wollte er Abwanderung verhindern, müßte er Kontrollen des Außenhandels und des Kapitalverkehrs einführen, also die offenen Grenzen wieder schließen; aber damit würde er sich gegenüber dem internationalen Wettbewerb in die Isolation begeben und damit alle Chancen auf Teilhabe verspielen. Dies wäre wirtschaftlich unsinnig und kontraproduktiv.

Im Bereich der Europäischen Union ist dieser Weg im Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander vertraglich ausgeschlossen. Die Freiheit des Verkehrs von Waren und Dienstleistungen ist geradezu die Grundlage der ursprünglich als Wirtschaftsgemeinschaft konzipierten Europäischen Union, die mit der Schaffung einer einheitlichen europäischen Währung die Idee einzelstaatlicher Souveränität auf einem zentralen Gebiet endgültig und nicht mehr rückholbar aufgegeben hat. Das Grundgesetz – die Verfassung Deutschlands – erlaubt solche Aufgabe von Hoheitsrechten zugunsten einer größeren Gemeinschaft oder zwischenstaatlicher Einrichtungen, wie auch das Bundesverfassungsgericht entschieden hat.

2.

Während in der Präambel der chinesischen Verfassung die Forderung nach gegenseitigem Respekt der Staaten für die Souveränität der anderen als das erste Prinzip der Außenpolitik genannt wird, spielt dieser Begriff im deutschen Verfassungsrecht nur eine geringe Rolle. Das Grundgesetz setzt ihn voraus, spricht aber ausdrücklich nicht hiervon, sondern von der Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten und der bindenden Wirkung des Völkerrechts. Dies ist schon durch den Umstand erklärbar, daß das Grundgesetz 1949, also zu einer Zeit entstanden ist, in der Deutschland noch ein besetztes Land war, das seine Souveränität erst 1955 und in vollem Umfange erst mit der staatlichen Einigung 1990 wieder erlangt hat.

Von Anfang an richteten sich die Hoffnungen auf Europa, und es gehört zur heutigen Wirklichkeit, daß zwar die Europäische Union zwar nicht oder noch nicht den Weg zu einem Bundesstaat gefunden hat und diese Zielsetzung auch umstritten ist, jedoch in Deutschland wie in den anderen Mitgliedstaaten schon jetzt ein großer Teil der besonders für die Gebiete der Wirtschafts- und der Sozialpolitik maßgeblichen Rechtsnormen nicht mehr vom nationalen Gesetzgeber, sondern als Gemeinschaftsrecht durch die europäischen Gremien bestimmt wird. Dies führt zumal in einem Lande mit föderalistischer Struktur wie der Bundesrepublik Deutschland zu Diskussionen über die Zweckmäßigkeit und Angemessenheit von Regelungen, die vielleicht den besonderen Gegebenheiten in einem Mitgliedstaat oder gar in einem kleineren Gliedstaat dieses Mitgliedes nicht genügend Rechnung tragen, und bei der aktuellen Diskussion über eine Verfassung der Europäischen Union spielt die Abgrenzung der Kompetenzen und die Wahrung des schon im geltenden Recht der EU enthaltenen Prinzips der Subsidiarität eine besondere Rolle.

Aber dabei geht es kaum um den geforderten Respekt vor nationaler Souveränität, die im Verhältnis zu Europa schon heute erheblich eingeschränkt ist, als vielmehr um die Frage, wie die Einheit Europas erreicht werden kann, ohne die gesellschaftliche, historisch gewachsene und kulturelle Vielfalt seiner Teile zu gefährden und wie durch Rücksichtnahme auf gewachsene Traditionen und Gebräuche Bürgernähe erreicht oder bewahrt werden kann. Da Europa schon seit Jahrzehnten zu einer wirtschaftlichen Einheit geworden ist, in der die Binnengrenzen nahezu bedeutungslos geworden sind, erschreckt insoweit, als es um Europa geht, der Gedanke an einen Verlust nationaler Souveränität niemanden mehr. Allerdings zeigen sich die Grenzen dann, wenn es um die Gestaltung einer einheitlichen Außenpolitik geht. Der Irak-Konflikt hat gezeigt, daß hier die Interessen und Auffassungen der Mitgliedstaaten weit auseinander gehen, und obwohl im Rahmen der Verfassung der Europäischen Union auch von einem europäischen Außenminister gesprochen wird, ist der Weg zu einer gemeinsam verantworteten Außenpolitik noch sehr weit.

Daß die Volksrepublik China dem Gedanken der Souveränität einen ganz anderen Wert beimißt, hat gewiß historische und aktuelle Gründe. Sie darzustellen, sind meine Gesprächspartner viel besser berufen als ich selbst. Aus den mir zugänglichen Darstellungen entnehme ich – dies mehr als Rückfrage denn als Feststellung gemeint – für die Frage der Souveränität folgende Gesichtspunkte:

- Zur geschichtlichen Entwicklung wird geltend gemacht, daß China die Erfahrung gemacht habe, daß während der Periode halbkolonialer Unterdrückung durch westliche Staaten nicht nur seine Souveränität verloren ging, sondern auch das Volk seiner Menschenrechte beraubt worden sei. Erst mit der Wiedergewinnung der staatlichen Souveränität habe sich auch die Menschenrechtssituation wieder verbessert.

- Globalisierung bedeute eine wirtschaftliche Schwächung vor allem der Entwicklungsländer, ihre Souveränität werde zur letzten Verteidigungslinie. Führe die Globalisierung zwangsläufig zu einer Schwächung der Souveränität, so gelte dies vor allem für die Entwicklungsländer. Die ungerechte Weltordnung gefährde den Weltfrieden und führe zu der Verletzung von Menschenrechten in den Entwicklungsländern; diese Gefahr sei viel schwerwiegender als innerstaatliche Menschenrechtsverletzungen, die in einigen Staaten existierten.

- Ideologisch und wohl auch heute noch aktuell gebe es nach der Theorie des Marxismus-Leninismus keine unveräußerlichen, dem Staat vorgegebenen Menschenrechte, sondern nur solche Rechte, die der Staat gewähre. Daher sei die Existenz eines souveränen Staates Voraussetzung der Menschenrechte. Souveränität sei die Grundlage aller Menschenrechte. Daher stelle – wie es in der Überschrift eines prominenten Zeitschriftenaufsatzes heißt, die vor allem von den USA vertretene Theorie, Menschenrechte gingen vor Souveränität, eine „Absurdität“ dar. Wer diese These vertrete, begründe einen „neuen Interventionismus“ und mißachte die völkerrechtlichen Grundsätze der souveränen Gleichberechtigung der Staaten und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates.

Dies ist wahrscheinlich eine vereinfachende, vielleicht auch vergröbernde Darstellung einer Position, die in der Tat von dem Meinungsstand der sich als Rechtsstaaten verstehenden westlichen Demokratien weit entfernt ist. Auch die chinesische Verfassung untersch eidet sich mit ihrem schon in der ausführlichen Präambel ausgesprochenen Bekenntnis zu einer „volksdemokratischen Diktatur“ unter der Führung der Kommunistischen Partei und mit ihrem in ihrem Grundrechtsteil in Artikel 51 ausgesprochenen Vorbehalt, daß die Wahrnehmung der gewährten Rechte und Freiheiten nicht den Interessen des Staates oder der Gesellschaft zuwiderlaufen dürfe, sehr von unserem Verfassungsverständnis.

Aber es wird auch über Diskussionen berichtet, die innerhalb eines politisch wohl vorgegebenen Rahmens Alternativen erörtern und jedenfalls künftige Entwicklungen in gewissem Umfang offen halten könnten. Es ist eine aus meiner Sicht erwünschte Folge der Globalisierung, die nicht nur weltoffenen Handel und zunehmende wirtschaftliche Kooperation bedeutet, sondern auch eine mit der technischen Entwicklung etwa durch das Internet zunehmende und immer freiere Kommunikation, daß Ideen über die nationalen Grenzen hinweg miteinander ausgetauscht werden und in Wettbewerb treten können. Wer von der Richtigkeit seiner eigenen politischen und ideologischen Auffassungen überzeugt ist, muß den Test nicht scheuen, sich an anderen Meinungen zu messen.

3.

Die anläßlich des Irak-Krieges entstandene Auseinandersetzung hat gezeigt, daß auch in der westlichen Welt durchaus unterschiedliche Auffassungen über das geltende Völkerrecht und die staatliche Souveränität bestehen. Diese Auseinandersetzung ist nicht abgeschlossen, sondern kann zu einer neuen Definition des Begriffs der Souveränität führen. Auch in Deutschland und in anderen Staaten ist das Vorgehen der USA gegen den Irak auf Kritik gestoßen und demgegenüber für eine Stärkung der Rolle der Vereinten Nationen plädiert worden, deren wichtigste Aufgabe nach ihrer Satzung die Wahrung des Friedens in der Welt ist. Auch das Prinzip der Achtung staatlicher Souveränität gehört dazu; zugleich bedeutet die Teilnahme der Staaten der Welt an der Arbeit der Vereinten Nationen und die Achtung der von diesen gefällten Entscheidungen eine teilweise Aufgabe der Souveränität, die, wie sonst der Abschluß völkerrechtlicher Verträge, als freiwillige Beschränkung des eigenen Hoheitsrechts annehmbar erscheinen sollte. Auch die chinesische Verfassung spricht in ihrer Präambel davon, daß die Zukunft Chinas eng mit der der ganzen Welt verknüpft sei, und es heißt dort weiter, daß China beständig „Imperialismus, Hegemonismus und Kolonialismus“ bekämpfe, die unterdrückten Länder und die Entwicklungsländer in ihrem Kampf unterstütze, die nationale Unabhängigkeit zu gewinnen und ihre Wirtschaft zu entwickeln. Damit wird, unter den gegebenen Voraussetzungen, das Prinzip der Nichteinmischung aufgegeben und Intervention angekündigt. Dies mag aus humanitärer Zielsetzungen geschehen, aber auch dies bedeutet Intervention. Niemand wird die – ebenfalls in der Präambel zur Verfassung statuierte - Zielsetzung, dem Frieden in der Welt zu dienen und den Fortschritt der Menschheit zu fördern, kritisieren, aber dies sind auch Ziele, welche die USA zur Begründung ihres Vorgehens im Irak vorgetragen haben.

Bei jeder Intervention, die nicht militärischer Natur sein muß, sondern sich auch anderer Mittel bedienen kann, etwa wirtschaftlicher Sanktionen, entsteht natürlich die Frage, ob die Umstände des Einzelfalls das Eingreifen rechtfertigen. Hierüber zu streiten und zu entscheiden, ist nach den in der Satzung der UN festgelegten völkerrechtlich verbindlichen Regelungen die wesentliche Aufgabe der Vereinten Nationen und insbesondere seines Sicherheitsrates. Damit ist die Aufgabe, den Frieden in der Welt zu wahren oder, wo er gefährdet wird, wieder herzustellen, nicht mehr allein der souveränen Entscheidung jedes Staates überantwortet, sondern eine globalisierte Verantwortung. Hierbei sind Erfolge, aber auch Rückschläge zu verzeichnen, und über Möglichkeiten der Reform des Sicherungssystems wird diskutiert.

Der bloße Hinweis auf das Gebot, die Souveränität der Staaten zu achten, löst die Probleme nicht. Die jüngste Geschichte liefert Beispiele für Völkermord und andere schwerste Menschenrechtsverletzungen. Angesichts solcher Vorgänge fällt es schwer, sich mit der Antwort zu begnügen, man müsse sie geschehen lassen, weil nur so das Prinzip der Souveränität und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes gewahrt werde. Umstritten ist, unter welchen Voraussetzungen der Sicherheitsrat eine Gefährdung des Weltfriedens nach Artikel 39 der UN-Satzung mit den in solchen Fällen zulässigen Sanktionen annehmen kann. Beispiele für eine sehr weitgehende Auslegung sind die Beschlüsse über Südafrikas Politik der Apartheid oder über Somalia, wo allerdings die staatliche Autorität, die sich auf ihre Souveränität hätte berufen können, zerfallen war. Erschreckend war das Ausbleiben einer Reaktion der UN auf den Völkermord in Ruanda 1994, dem hunderttausende Menschen zum Opfer fielen, ohne daß der Sicherheitsrat sich zu einem Eingreifen entschließen konnte – das Verhalten der Weltgemeinschaft wird in einer Darstellung der Vorgänge zutreffend als „Weigerung, das Wort Völkermord auszusprechen“, beschrieben.

Das Beispiel zeigt, daß Intervention oder Nichteingreifen nicht stets an der Schwere des Vorgangs orientiert sind, sondern von eigenen Interessen bestimmt werden. Auch die späteren Vorgänge im Kosovo-Konflikt, zu dem eine Sicherheitsrat-Resolution nicht zustande kam, weil ein Veto befürchtet wurde, zeigen, daß es nicht oder noch nicht ausreicht, sich auf die Einigung in der Weltgemeinschaft zu verlassen. Das Kosovo-Beispiel und andere Vorgänge haben zu einer lebhaften völkerrechtlichen Diskussion geführt. In der westlichen Welt führt sie tendenziell zu dem Ergebnis, daß in Fällen schwerster Menschenrechtsverletzung die Berufung auf das Prinzip der Nichteinmischung nicht mehr ausreicht. Es ist einleuchtend, daß hierdurch dem Mißbrauch Vorschub geleistet werden kann, indem unter dem Vorwand humanitärer Zwecke eine Intervention stattfindet, die in Wirklichkeit eigennützige Ziele befördern soll. In der völkerrechtlichen Diskussion werden daher weitere Voraussetzungen erörtert, unter denen – eher ausnahmsweise – ein Eingreifen auch ohne UN-Mandat gerechtfertigt sein könnte, etwa die Notwendigkeit hinreichender Versuche der friedlichen Konfliktbeilegung und im äußersten Falle die Beachtung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit.

Völkerrecht entsteht durch den Abschluß von Verträgen oder durch die übereinstimmende und allgemein gebilligte Staatenpraxis. Solange Interessen und Auffassungen weit auseinander gehen, kann sich eine übereinstimmende Meinung nicht entwickeln, und abstrakte Prinzipien nützen wenig, wenn sich eine konkrete Konfliktsituation ergibt. Es kommt letztlich auf die Umstände des Einzelfalls an. Dies mag an einem einfachen Fall aus dem Alltagsleben erläutert werden: In unserem Grundgesetz wie in Artikel 39 der chinesischen Verfassung wird die Wohnung als „unverletzlich“ bezeichnet – das heißt, für sie gilt, wie im Leben der Völker, das Prinzip der Nichteinmischung durch andere. Wie aber soll sich der Nachbar verhalten, wenn er zufällig sieht oder hört, daß in der angrenzenden Wohnung sich eine Gewalttat ereignet, etwa im Verhalten des Mannes, der dem Anschein nach seine Frau verprügelt? Es liegt nahe, in diesem Fall nach der Polizei zu rufen, die nachprüfen kann, was vor sich geht, und eingreift, wenn das geboten ist. Aber die Umstände können die Befürchtung nahelegen, daß es bis zu ihrem Eintreffen zu spät sein kann, um von dem Opfer Schäden an der Gesundheit oder gar am Leben abzuwenden. Soll dann zugesehen werden, oder ist ein Eingreifen erlaubt oder gar sittlich oder rechtlich geboten? Wenn es notwendig und zumutbar ist, dem Opfer zu Hilfe zu kommen, ist nach unserer Rechtsordnung das Nichteingreifen unter Umständen als unterlassene Hilfeleistung strafbar.

Aber auch in einem solchen Fall aus dem privaten Lebensbereich ist ein Irrtum über die reale Gefahrensituation oder sogar ein Eingreifen, das Anteilnahme vortäuscht, aber in Wirklichkeit der eigenen Neugier oder Sensationslust dient, denkbar, und nur wenn man alle Umstände berücksichtigt, kann man entscheiden, wie die richtige Verhaltensweise aussieht. Im Leben der Völker hilft der Umstand, daß fast alles, was geschieht, sich im Zeitalter der modernen Medien und der weltweiten Kommunikation nicht lange geheimhalten läßt, sondern bekannt wird. Auch dies ist eine Folge der Globalisierung, die möglicherweise noch wichtiger ist als die Entwicklung der Weltwirtschaft. Freilich zeigt das erschreckende Beispiel des Völkermordes in Ruanda, daß die – auch damals weltweit bekannten – Tatsachen nichts helfen, wenn die, die vielleicht hätten eingreifen können, beschließen, wegzusehen.

4.

Es gibt keine befriedigende Antwort auf die Frage, ob zwischen staatlicher Souveränität und weltweiter Verknüpfung durch die Globalisierung ein Ausgleich gefunden werden kann, und wie dieser im einzelnen aussehen soll. Die Wirtschaft, die Medien, die Wissenschaft und die Mittel der Kommunikation sind immer enger miteinander verknüpft. Das eröffnet für eine zusammenwachsende Welt Chancen und Gefahren. Auch Terrorismus und die weltweite Gefährdung der Umwelt sind Globalisierungsfolgen, und sie können nicht isoliert wirksam bekämpft werden.

Auf die vielen Fragen, die sich aus dieser Entwicklung ergeben, versuchen die Staaten der Welt unterschiedliche Antworten zu ergeben, die sich aus ihren jeweiligen historischen Erfahrungen, dem Stande ihrer Entwicklung und ihren weltanschaulichen Überzeugungen und ihrer Kultur ergeben. Der Begriff der Souveränität ist nicht überholt, wenn er bedeutet, daß die jeweiligen Überzeugungen und Interessen zu respektieren sind, auch wenn man für sich und die in seinem Land bestehende oder angestrebte Ordnung zu einem anderen Ergebnis kommt. Miteinander profitieren können wir von dem heute mehr als jemals zuvor möglichen Austausch von Argumenten; alternative Lösungen können uns, wenn wir sie zu prüfen bereit sind, helfen, die richtigen Antworten zu finden.

Konstitutionalismus und Globalisierung

Vortrag am 17.9.2003 im Institut für Recht der Chinesischen Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Peking

Zwischen dem heute gestellten und dem gestern behandelten Thema „Souveränität in der Ära der Globalisierung“ bestehen naturgemäß engste Berührungspunkte. Hieraus ergibt sich die Gefahr von Wiederholungen, die jedenfalls den Teilnehmern an der gestrigen Veranstaltung nicht zumutbar sein würden.

In knapper Zusammenfassung soll gesagt werden, daß das Recht eines jeden Staates, sich seine eigene Grundordnung in der Form einer Verfassung zu geben, natürlich der klarste Ausdruck des Prinzips der Souveränität ist. Mit der Verfassungsgebung, auch mit der Anpassung der Verfassung an veränderte Umstände oder gewandelte Auffassungen, bestimmt das Land, wie es leben will und welche Ordnungsvorstellungen das staatliche wie das gesellschaftliche Leben bestimmen sollen.

Verfassung wird – so hat es unser Bundesverfassungsgericht wiederholt für die deutsche Verfassung, das Grundgesetz, gesagt - auch als eine „Wertordnung“ verstanden. Sie ist nicht nur eine äußere Ordnung, die durch Organisationsvorschriften die Mechanismen der Staatswillensbildung regelt, sondern sie will auch durch einige prinzipielle Entscheidungen bestimmen, von welchen Wertvorstellungen sich das Gemeinwesen leiten läßt. Auch die chinesische Verfassung enthält, wenn ich sie richtig deute, insbesondere in ihrer Präambel Wertvorstellungen, die sich allerdings inhaltlich von den im Grundgesetz enthaltenen deutlich unterscheiden. Auch sonst gibt es einen wichtigen Unterschied: Nach unserem Verständnis solche Wertvorstellungen nicht durch die Verfassung oder überhaupt durch staatliche Entscheidung geschaffen. Der Staat enthält sich eines Urteils über philosophische Auffassungen oder weltanschauliche Überzeugungen und ist ihnen gegenüber zur Neutralität verpflichtet. Solche Auffassungen und Überzeugungen ergeben sich aus den in der Gesellschaft gebildeten und vertretenen Meinungen, soweit über sie ein Grundkonsens besteht. So bedeutet die in der Präambel des Grundgesetzes enthaltene Formulierung, das deutsche Volk habe sich „im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ diese Verfassung gegeben, nicht die Festlegung auf das Christentum oder gar die Verpflichtung zur Verfolgung einer staatlichen Politik, die den sich hieraus ergebenden Prinzipien entspricht. Vielmehr herrscht nicht nur Glaubensfreiheit, sondern auch staatliche Neutralität in Glaubensfragen, die allerdings eine Kooperation zwischen dem Staat und den Kirchen eher erlaubt als nach der strengen Trennung von Staat und Kirche, wie sie in den USA oder in Frankreich besteht.

Die Wertvorstellungen, von denen das Grundgesetz als in der Gesellschaft bestehender Konsens ausgeht, kommen vor allem im Grundrechtskatalog zum Ausdruck. Er stellt schon in seinem ersten Artikel mit dem obersten Prinzip der Achtung und des Schutzes der Würde des Menschen eine Forderung auf, aus der sich weitreichende Konsequenzen für das staatliche Handeln ergeben. Wiederum ist die Quelle der Hervorhebung der Menschenwürde, die ja auch – allerdings beschränkt auf die Bürger der Volksrepublik China – in Artikel 38 der chinesischen Verfassung als unverletzlich bezeichnet wird, nicht nur die christliche Lehre, sondern auch die humanistische Philosophie, historisch maßgeblich war vor allem die bewußte Abkehr von dem Unrechtsregime des totalitären Nationalsozialismus. Andere Grundrechte nennen die wesentlichen Grundlagen des Zusammenlebens in der Gemeinschaft, die der Staat nicht nur respektieren, sondern durch aktive Politik schützen soll, wie die Freiheit der Entfaltung der Persönlichkeit, die Gleichheit aller, den besonderen Schutz von Ehe und Familie, das Privateigentum – das alles sind nicht nur Freiheitsrechte, die dem Einzelnen garantiert werden, sondern aus ihnen ergeben sich Gestaltungsaufgaben für den Staat und Grenzen seiner Tätigkeit.

Auch die chinesische Verfassung versteht sich nach ihrem Text als eine solche Wertordnung, allerdings mit einem sehr unterschiedlichen Inhalt. Allein schon die sehr ausführlich formulierte Präambel erläutert die geschichtliche Entwicklung des Landes und die grundsätzlichen Wertvorstellungen, die die heutige Gesellschaft prägen sollen, und in der Konkretisierung in den Einzelvorschriften kommt zum Ausdruck, auf welche Weise diese Prinzipien in den einzelnen Staatsorganen und im Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern durchgesetzt werden sollen. Die Festlegung auf eine philosophische Lehre wie die des Marxismus-Leninismus, die ja auch erhebliche praktische und politische Konsequenzen für den Staat und seine Bürger hat, wäre mit dem deutschen und überhaupt dem westlichen Verfassungsverständnis sc hwerlich vereinbar. Nach der in der westlichen Welt bestehenden Auffassung sind wir skeptisch gegenüber der Existenz unveränderlicher Wahrheiten oder eines zwingenden Ablaufs der Geschichte. Die unterschiedlichen Auffassungen, die innerhalb der Bevölkerung bestehen, werden nicht nur hingenommen, sondern als Ausgangspunkt eines Austauschs von Meinungen und alternativen Regelungsmöglichkeiten begrüßt, die die Chance bieten, am Ende einer freien Diskussion die relativ beste Lösung eines gegebenen Problems zu finden. Dies setzt vor allem den Schutz der Meinungsfreiheit sowohl für die einzelnen Bürger als auch für die Presse und andere Medien voraus.

Auch wenn es bei der Regelungen durch eine Verfassung in erster Linie um die Ordnung der inneren Verhältnisse eines Landes geht, können diese nicht vollständig von den Umständen getrennt werden, die jenseits der Grenzen bestehen. Stets bestimmt die historische Entwicklung des Landes, seine geographische Lage und die innere Ordnung mindestens der unmittelbaren Nachbarn mit, wie die Verfassungsordnung aussehen soll. Besteht Anlaß zu der Befürchtung, daß von benachbarten Ländern eine Bedrohung ausgehen könnte, muß die Abwehr äußerer Gefahren organisiert werden; dies hat unter Umständen sehr erhebliche Auswirkungen auf die innere Ordnung, weil nicht nur hierfür Ressourcen an Menschen und an Material bereitgestellt werden müssen, sondern auch die Existenz starker bewaffneter Streitkräfte ein Machtpotential im Innern darstellt, dessen Beherrschung Vorsorge durch die Gestaltung der inneren Machtverhältnisse erfordert. Nachbarn sind potentielle Gegner, von denen eine Bedrohung ausgehen kann. Die Geschichte Europas ist eine Geschichte ständiger und blutiger Kriege, bei denen es um territoriale Streitigkeiten, aber auch um heute kaum noch verständliche Auseinandersetzung ging, wer die richtige Religion hatte – zumeist waren dies unter dem Deckmantel von Wertvorstellungen in Wirklichkeit Kämpfe um den Erhalt oder die Erweiterung der eigenen Macht.

Aber die Zeit der europäischen Bruderkriege ist vorbei, und niemand kann sich vorstellen, daß eine Meinungsverschiedenheit in Europa heute noch durch Krieg ausgetragen werden könnte. Die Nachbarn sind heute Partner, mit denen Handel betrieben wird. Sie kooperieren miteinander, oft in den grenznahen Gebieten in Regionen, die sich, etwa in der alltäglichen Zusammenarbeit der Gemeinden, über nationale Grenzen hinwegsetzen. Die Staaten arbeiten zusammen, um gemeinsam Gefahren abzuwehren, die sich etwa aus Kriminalität oder aus Problemen für die Umwelt ergeben. Gefährdungen, die grenzüberschreitend wirken, können nicht isoliert bekämpft werden, sondern müssen in grenzüberschreitender Partnerschaft erkannt und abgewehrt werden. Dies alles hat zwangsläufige Auswirkungen auf die innere Ordnung. Sind die durch den Austausch von Waren und Dienstleistungen sich ergebenden Chancen nicht auf eine Region beschränkt, sondern wirken sie weltweit, wie es durch das Schlagwort der Globalisierung angedeutet wird, oder bestehen Gefährdungen über die Kontinente hinweg, wie in dem international tätigen Terrorismus oder durch Beeinträchtigungen des Klimas, die in anderen Teilen der Welt entstehen, so ist nicht nur Zusammenarbeit erforderlich, sondern jedes Land muß seine eigene Ordnung so gestalten, daß es zu dieser Kooperation in der Lage ist. Je enger die Welt zusammenwächst, desto stärker muß auch die innere Ordnung auf die von außerhalb kommenden Chancen und Risiken reagieren.

Damit wird die Frage, welche Verfassung das andere Land hat, zu einem legitimen Gegenstand des eigenen Interesses. Das erlaubt nicht die Einmischung in eine Angelegenheit, die jedes Land für sich zu entscheiden hat. Zulässig und notwendig ist jedoch die Bemühung um bilaterale Vereinbarungen, wie sie zumal zwischen unmittelbar benachbarten Ländern auf vielen Sachgebieten üblich sind. Sie können verfassungsrechtliche Probleme aufwerfen. In zahlreichen Verträgen hat Deutschland nach dem Kriege mit seinen ehemaligen Gegnern und auch neutralen Staaten die vermögensrechtlichen Fragen geklärt, die sich aus den im Kriege erfolgten Konfiskationen des Feindvermögens ergaben. Da diese Bereinigung der Kriegsfolgen oft mit der Entscheidung verbunden war, daß beschlagnahmte Vermögenswerte nicht an ihre ursprünglichen Eigentümer zurückgegeben wurden, sondern bei dem Staat verblieben, der sie konfisziert hatte, ergab sich die Frage, wie dies mit der Garantie des Privateigentums durch das Grundgesetz vereinbar war. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat die Linie verfolgt, daß zur Bereinigung einer ungewöhnlichen Situation das Recht auf Eigentum entweder ersatzlos oder gegen eine – hinter dem Wert der beschlagnahmten Güter zurückbleibende, unter sozialen Gesichtspunkten gestaffelte – Entschädigung zurücktreten mußte.

Ähnlich hat das Verfassungsgericht nach der staatlichen Einigung 1990 die durch die frühere sowjetische Besatzungsmacht in Ostdeutschland vorgenommenen Enteignungen nicht rückgängig gemacht. Solche – in der rechtlichen und politischen Diskussion umstrittenen – Entscheidungen zeigen beispielhaft, daß außenpolitische Gesichtspunkte und der Ausgleich von Interessen, die über die innerhalb eines Landes hinausgehen, die in der Verfassung zum Ausdruck gekommene Gestaltung der zunächst eigenen internen Angelegenheiten beeinflussen oder verändern können. Allerdings ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Regierung, die ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen trifft, hierbei an die durch die Verfassung gezogenen Grenzen gebunden, und im Verfahrensrecht sind Vorkehrungen getroffen, die es ermöglichen sollen, schon vor dem Zeitpunkt, in dem ein solches Abkommen völkerrechtlich verbindlich wird, nachzuprüfen, ob ein Widerspruch zum nationalen Verfassungsrecht besteht.

Wenn einmal Völkerrecht entstanden ist, gilt es nach ausdrücklicher Bestimmung des Grundgesetzes als Bestandteil des deutschen Bundesrechts; es geht den innerstaatlichen Gesetzen vor und erzeugt Rechte und Pflichten unmittelbar für die deutschen Bürger. Das Grundgesetz erlaubt auch, daß Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen werden und daß – wie es wörtlich heißt – der Bund „sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen“ kann ; er wird dabei in die Beschränkung seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen“. Dies ist, wie es in einer Kommentierung dieser Bestimmungen heißt, die Konsequenz der zunehmenden internationalen Interdependenz: „Die elementare Aufgabe des Staates, Frieden, Sicherheit und materielles Wohlergehen der Bürger zu gewährleisten, kann auf vielen Gebieten nur noch im zwischenstaatlichen Verbund erfüllt werden. In nationalstaatlicher Isolation läßt sich unter den historischen Bedingungen der Gegenwart weder die Existenz des Gemeinwesens nach außen sichern noch effektive Daseinsvorsorge im Innern betreiben“ (Tomuschat, BK, Rnr. 1 zu Art. 24 GG).

Interessant ist, daß diese zutreffende Beschreibung der globalisierten Welt von heute genau dem Bild des Menschen in seiner staatlichen Gemeinschaft entspricht, wie ihn das Bundesverfassungsgericht schon zu Beginn seiner Tätigkeit 1951, also vor mehr als 50 Jahren beschrieben hat: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums“ – man beachte die Anknüpfung an der gestern erörterten Begriff der Souveränität! - „das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. ... Dies heißt aber: der Einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, daß dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt.“ Diese aus der Verfassung, aber auch aus einer realistischen Sicht der tatsächlichen Verhältnisse hergeleitete Beschreibung der Position, in der sich der Einzelne in der heutigen globalisierten Welt nach unserem Verfassungsverständnis befindet, scheint mir gut geeignet, auch die Lage der Mitglieder der Völkerfamilie zu umschreiben.

Dabei ist freilich die vom Gericht beschriebene Grundvoraussetzung von entscheidender Bedeutung: daß dabei „die Eigenständigkeit ... gewahrt bleibt“. Dies gilt für die Einzelnen in gleicher Weise wie für die Völker. Die Wahrung der Eigenständigkeit bedeutet nicht Isolation, aber Freiheit zu eigener Entscheidung. Insoweit ist es nur zu verständlich, wenn Völker und Länder, die in der Geschichte unterdrückt, durch stärkere Nachbarn in koloniale oder andere Abhängigkeit versetzt oder geteilt worden sind, auch nach dem Erlangen der vollen Unabhängigkeit dem Gedanken der eigenen Souveränität, so wie dies gestern erörtert worden ist, desto größere Bedeutung beimessen. Hierin schwingt nicht nur der berechtigte Stolz auf die eigenen Leistungen und den eigenen Beitrag zur kulturellen Vielfalt der Welt mit, sondern auch die Erinnerung an frühere Zeiten der Unterdrückung und eine mögliche Wiederholung der Geschichte, auch wenn seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Zeit der Kolonialisierung wohl endgültig und unwiderruflich zu Ende gegangen ist.

Unter Konstitutionalismus verstehen wir die Bedeutung einer Verfassung für die Ordnung der eigenen Angelegenheiten des einzelnen Staates. Dies gilt bei allen Unterschieden des Ansatzes für die chinesische Verfassung in gleicher Weise wie für die deutsche. Die Verfassung als rechtliche Grundordnung eines konkreten Gemeinwesens ist die Grundlage, auf der sich die politische und die rechtliche Einheit ”Staat” aufbaut. Auf ihrer Grundlage wird die Bildung eines Gesamtwillens ermöglicht. Natürlich stellt sich die Aufgabe der Gesamtwillensbildung immer, heute jedoch dringender denn je; in einer pluralistisch gestimmten Zeit und in einer Zeit, in der der Staat in immer weitere Lebensbereiche eindringt. Viele Gegensätze, Konflikte und Probleme, die früher im gesellschaftlichen Raum ausgetragen wurden, geraten nunmehr in den öffentlich-staatlichen Bereich; sie werden politische Konflikte, die auf der Basis der Verfassung gelöst werden müssen. Wir haben es zu tun mit einer Verstaatlichung des gesamten gesellschaftlichen Lebens, mit der Überwindung des historisch auf die konstitutionelle Monarchie zurückgehenden Dualismus von Staat einerseits und Gesellschaft andererseits. Staat und Gesellschaft sind keine völlig autonomen Bereiche mehr. Der Staat ist heute eine Erscheinungsform der Gesellschaft, nämlich insoweit diese sich als politische Einheit konstituiert und durch die damit legitimierten Organe den Gesamtwillen zum Ausdruck bringt und durchsetzt.

Verfassung muß daher den Prozeß regeln, durch den die politische Einheit, die Bildung des Gesamtwillens und dessen Durchsetzung gewährleistet werden kann. Verfassung ist also zunächst Organisationsnorm. Sie ordnet den Prozeß der politischen Willensbildung, garantiert dessen Freiheitlichkeit und bestimmt die verfassungsmäßigen Machtträger. Verfassung setzt aber auch die Bedingungen, die eine Machtausübung ”im Namen des Volkes” legitimieren; sie setzt zugleich der Macht Grenzen. Der wesentlichste Ausdruck der machtbegrenzenden Funktion gegenüber dem einzelnen sind für uns die Grundrechte, die in ihrem klassischen Verständnis dem Einzelbürger einen Freiheitsraum vor der öffentlichen Gewalt schaffen. In einer Zeit des zunehmenden Vordringens des Staates in den gesellschaftlichen und individuellen Bereich ist die Erhaltung dieses Freiheitsraums wichtiger denn je.

Verfassung ist aber nicht nur Grundordnung der staatlichen Willensbildung und -durchsetzung, nicht nur machtbegründende, machtlegitimierende oder machtbegrenzende Grundnorm, nicht nur Garantie individueller Freiheit, sondern sie enthält darüber hinaus auch inhaltliche Leitgrundsätze und Zielsetzungen für das staatliche Handeln, so wie es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland etwa im Sozialstaatsprinzip verkörpert ist. Endlich enthält die Verfassung auch Leitgedanken für den Bereich des nichtstaatlichen Lebens des Gemeinwesens. Wenn es im Grundgesetz heißt, daß die Menschenwürde zu schützen sei, daß der Zusammenschluß zu Vereinigungen garantiert und daß die Freiheit von Kunst und Wissenschaft gewährleistet werde, dann ergibt sich bereits aus dem Inhalt der entsprechenden Verfassungssätze, daß diese Prinzipien über den engeren staatlichen Bereich notwendigerweise und berechtigterweise hinausreichen.

Zugleich ist Verfassung immer nur Grundordnung und zudem Ergebnis einer bestimmten geschichtlichen Situation. Der historische Verfassunggeber regelt natürlich nur die Fragen, die ihm im Zeitpunkt der Verfassungsschöpfung wesentlich erscheinen. Verfassung stellt bestimmte Grundentscheidungen außer Streit, entzieht sie jedenfalls der einfachen Parlamentsmehrheit und garantiert so die Kontinuität des Gemeinwesens. Als Antwort auf die für den historischen Verfassunggeber wichtigen Fragen ist jede Verfassung zeitgebunden und lückenhaft.

Verfassung ist aber schließlich auch nicht nur Grundform, sondern Grundnorm, sie ist also Rechtsnorm. Der Sinn jeder Rechtsnorm liegt in ihrer Verwirklichung. Sie beansprucht Geltung, verwirklicht sich aber nicht von selbst. Soziologisch gesehen ”gilt” eine Norm nur dann, wenn sich die Adressaten nach der Verhaltensordnung der Norm auch in der Wirklichkeit richten. Als Norm ist auch die Verfassung auf Realisierung angelegt. Verwirklichung der Verfassung bedeutet also, daß sich die jeweiligen Adressaten verfassungsgemäß verhalten. Dies setzt wohl die Möglichkeit voraus, abweichendes, das heißt also verfassungswidriges Tun oder Unterlassen zu ahnden und damit zu verhindern. Verfassung ist also immer erst Entwurf einer Ordnung des Gemeinwesens, nicht schon Spiegel der Wirklichkeit, sondern Gestaltungsauftrag. Es kommt alles darauf an, aus dem Verfassungstext Verfassungswirklichkeit werden zu lassen.

Verfassungswirklichkeit wird in verschiedenem Sinn gebraucht. Geht man von der Bedeutung der Verfassung als Norm, als rechtlicher Grundordnung des Gemeinwesens aus, so stellt Verfassungswirklichkeit zunächst die Frage nach der konkreten Verwirklichung der Verfassungsnorm in der Realität. Es wird also untersucht, ob der politische Prozeß nach den Regeln der Verfassung verläuft, oder ob sich die Machträger, die Mandatsträger bei der Erfüllung ihrer staatlichen Aufgaben in den verfassungsrechtlichen Grenzen halten; ob die staatlichen Organe den grundrechtlich geschützten individuellen Freiheitsraum achten; ob sich die politischen Machtträger in ihrem handeln an den von der Ve rfassung gesetzten Leitprinzipien und Staatszielbestimmungen ausrichten; ja schließlich, ob der Gesamtzustand des Gemeinwesens auch über den engeren staatlichen Bereich hinaus dem Entwurf der Verfassung entspricht. Es geht also nicht um den Gegensatz zwischen Norm und Wirklichkeit, sondern es geht um die Durchsetzung der Norm als tatsächlicher Verhaltensordnung des Gemeinwesens. ”Verfassung und Verfassungswirklichkeit” ist hier als Frage und Aufforderung zu verstehen, die Realität dem Grundgesetz anzupassen, das Grundgesetz aus der Norm zur Wirklichkeit werden zu lassen.

Nun enthält die Verfassung vielfach allgemein formulierte Sätze, die sie befähigt, auch soziale Veränderungen aufzufangen. Die Interpretation des Textes kann den gewandelten Sozialbedingungen Rechnung tragen. Unsere Rechtsprechung hat zum Beispiel die Eigentumsgarantie, die früher klassisch im wesentlichen das Grundeigentum meinte, mittlerweile weithin auf alle vermögenswerten privaten und darüber hinaus sogar auch auf öffentlich-rechtliche Rechtspositionen ausgedehnt. Der Interpretationswandel geschah, weil die Garantie des Eigentums nach der Grundkonzeption der Verfassung als Sicherung der individuellen Existenz zu verstehen ist. Heute wird deutlich, daß unter unseren sozialen Verhältnissen Existenzsicherung für die allerwenigsten unserer Bürger in Grund und Boden liegt, vielmehr geht es im wesentlichen, jedenfalls der Zahl und auch der Bedeutung im übrigen nach, um ein Anrecht auf Vergütung für die Gemeinschaft erbrachten Leistung.

Nach unserem Grundgesetz ist Hüter der Verfassung das hierfür bestellte Bundesverfassungsgericht. Nur durch seine verfassungsgerichtliche Interpretation erhält die verfassungsrelevante Realität letztlich normative Kraft. Es ist ganz offensichtlich, daß der Verfassungsgerichtsbarkeit bei der Durchsetzung der Verfassung im allgemeinen und bei diesem Prozeß des Verfassungswandels im besonderen eine wichtige Rolle zukommt. ”Normale” Rechtsnormen, die sozusagen ”gewöhnliche” Rechtsordnung, wird ja in ihrer Geltung durch den Staat gewährleistet. Der Staat setzt die Norm mit Hilfe des Rechtsstabes, das heißt der Rechtsfunktionäre, notfalls zwangsweise, das heißt mit Zwangsvollstreckung oder mit Strafandrohung oder Strafverhängung durch.

Bei der Verfassung ist dies anders; es gibt keine übergeordnete Staatsgewalt, die sie gewährleisten könnte. Nicht die Staatsgewalt steht über der Verfassung, sondern es ist gerade umgekehrt. Lediglich ein Verfassungsgericht ist in der Lage, als einziges Verfassungsorgan des Staates, der Verfassung autoritativ Nachdruck zu verleihen, sie in gewisser, allerdings beschränkter Weise zu sanktionieren. Das Gericht entscheidet über die Verfassungsmäßigkeit staatlicher Akte. Eine funktionierende Verfassungsgerichtsbarkeit schafft also der geschriebenen Verfassung Geltung, sie verhindert, daß sich eine Realverfassung gegen das Grundgesetz etabliert, daß eine vom geschriebenen Verfassungstext abweichende Wirklichkeit an die Stelle der Verfassung tritt. Sie sorgt dafür, daß die Spannung zwischen politischer Wirklichkeit und geschriebener Verfassung nicht zur Entkräftung und Aushöhlung der normativen Kraft der Verfassung führt. Der Vorrang der Verfassung vor dem Gesetz wird durch die unmittelbare Anwendung der Verfassung durch die Verfassungsgerichtsbarkeit gesichert.

Natürlich kann die Verfassungsgerichtsbarkeit ihre Funktion, nämlich die Durchsetzung der Verfassung, nur unter einer Grundvoraussetzung erfüllen: Eine Verfassung hat in einem freien Gemeinwesen nur dann die Chance, Realität zu werden, wenn sie sich nicht allzuweit von den tatsächlichen Verhältnissen entfernt. Zu ihrer Verwirklichung bedarf die Verfassung der - zumindest grundsätzlichen - Annahme durch die Adressaten. Dies gilt auch in Ländern, die eine Verfassungsgerichtsbarkeit nicht für ein geeignetes Mittel halten. Auch sie sind darauf angewiesen, daß die Bürger bereit sind, die in der Verfassung getroffenen Entscheidungen zu akzeptieren.

Die in China in Gang gekommenen, allerdings noch nicht zu Entscheidungen gereiften Diskussionen über eine mögliche Reform der Verfassung sind geeignet, sich des noch bestehenden oder auch hier und da nicht mehr sicheren Konsenses über die Nützlichkeit bestehender Regelungen zu vergewissern, und es ist sicher nicht zufällig, daß hierbei die zunehmende Einbindung in eine weltweit entgrenzte Wirtschaftsordnung und die sich hieraus ergebende Notwendigkeit eine Rolle spielen, den Handel über die Staatsgrenzen hinweg zu erleichtern und die wirtschaftliche Tätigkeit ausländischer Unternehmen im eigenen Interesse zu erleichtern, ohne damit die Eigenständigkeit der Ordnung des Gemeinwesens zu gefährden.

Je enger die Welt zusammenrückt und je stärker sich die wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Probleme eines Landes nicht nur auf die unmittelbaren Nachbarn, sondern auch auf geografisch weit entfernte Länder auswirken, desto mehr wird es notwendig, daß sich eine allgemeines Bewußtsein für nur noch scheinbar entfernte Probleme entwickelt. Die gerade laufenden Verhandlungen in der WTO werden hierfür Beispiele zeigen, etwa in dem Umstand, daß die staatliche Subventionierung einer bestimmten etwa landwirtschaftlichen Produktion in dem einen Lande zur massiven Gefährdung der Lebensgrundlagen eines anderen Landes führt, wofür es ganz aktuelle Beispiele gibt. Damit wird nicht nur ein Problem grenzüberschreitender Gerechtigkeit angesprochen, bei dem es meist die Entwicklungsländer sind, die die eigennützigen Maßnahmen zumeist der reicheren Länder bezahlen müssen. Auch der Blick auf das zumindest längerfristige eigene Interesse an der Überlebensfähigkeit sollte zu der Überlegung zwingen, ob die ungehemmte Förderung nationaler Egoismen auf Dauer nicht den eigenen Interessen eher schadet als nützt. Verfassungsrechtliche Fragen mögen damit nicht unmittelbar angesprochen sein; aber auch für diese gilt, daß eine Sichtweise nicht mehr ausreicht, die über den Rand des eigenen Landes nicht hinausblickt.

Hoffnungen auf weltweite Regelungen, die die bisherige Aufgabe des Ausgleichs von Interessen so übernehmen könnten, wie dies bisher in jedem Land – mit ganz unterschiedlichen Antworten – durch seine Verfassung geschieht, sind gewiß verfrüht. Das den Vereinten Nationen zur Verfügung stehende Instrumentarium funktioniert nur teilweise, wie gestern am Beispiel der Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen dargestellt worden ist. Auf europäischer Ebene wird der ernsthafte und hoffentlich erfolgreiche Versuch unternommen, durch eine gemeinsame Europäische Verfassung den alten und historisch lange zerstrittenen Kontinent zum gemeinsamen Handeln jedenfalls nach innen, der Hoffnung nach auch in gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik zu bringen.

Ähnliche, wenn auch bisher weniger weitreichende Bemühungen gibt es in anderen Kontinenten, etwa in Afrika oder in Asien. Regionale oder kontinentale Zusammenarbeit, nicht Zusammenschlüsse, mögen die nächste Stufe sein, bei der die nationale Verfassungsgebung nicht überflüssig wird, aber doch mehr als die nur jeweils eigenen Belange sieht. In der westlichen Welt äußern manche die Hoffnung, das Ergebnis der Globalisierung werde die weltweite Demokratisierung unter dem Vorzeichen einer freien Marktwirtschaft sein. Viele in anderen Teilen der Welt werden dies für eine wenig attraktive Perspektive halten, und jedenfalls sind solche Zukunftsutopien nicht sehr realistisch. Sie politisch voranzutreiben, könnte eher den Effekt haben, daß die ohnehin bestehenden Meinungsverschiedenheiten vertieft werden und die wirtschaftliche Kooperation, von deren Notwendigkeit die meisten heute überzeugt sind, unter den entstehenden politischen Dissonanzen leidet.

Ein besserer Weg ist es, miteinander über die Frage zu sprechen und notfalls auch – friedlich – miteinander zu streiten, wie die Welt von morgen aussehen sollte. Dieser philosophische Diskurs steht am Beginn auch jeder nationalen Verfassungsgebung. Es geht dabei nicht in erster Linie um Mechanismen und Instrumentarien der Willensbildung, sondern um die Frage, wo gemeinsame Wertvorstellungen liegen, wo sie auseinandergehen und ob es einen Weg gibt, Meinungsverschiedenheiten in einem geduldigen, die andere Meinung respektierenden Austausch der Gedanken zu überwinden.

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