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Vertragsgrundlagen und Entscheidungsverfahren

Der Vertrag von Lissabon

Mit dem Vertrag von Lissabon hat sich die EU von einer Dachorganisation hin zu einer eigenständigen Rechtspersönlichkeit entwickelt. Kritische Stimmen monieren allerdings die fehlende demokratische Legitimation des Vertragswerks und fordern mehr Einflussmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger.

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Der Vertrag von Lissabon - eine neue verbesserte Rechtsgrundlage

Die aktuelle primärrechtliche Grundlage für das Handeln der Europäischen Union ist der Vertrag von Lissabon. Er trat am 1. Dezember 2009 in Kraft. Der Vertrag besteht aus zwei (Teil-)Verträgen, wobei der Vertrag über die Europäische Union (EUV) die Grundanlage der EU beschreibt, während der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) vor allem das Handeln der Organe und die Zuständigkeiten der EU präzisiert. Mit dem Vertrag von Lissabon gibt es für die institutionelle Organisation der europäischen Integration nur noch die Bezeichnung EU, die bisherigen Europäischen Gemeinschaften (EG und Euratom) gehen in der EU auf.

Der Vertrag nennt und bekräftigt die Werte und Ziele, auf denen die Europäische Union aufbaut. Er steht für ein Europa der Freiheit und Sicherheit und sieht neue Instrumente der Solidarität vor. Jeder Mitgliedstaat der EU muss die Grundwerte achten: Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Schutz von Minderheiten. Die sozialen Belange der Bürgerinnen und Bürger werden den wirtschaftlichen Zielen der EU gleichgestellt. Die EU erhält mehr Kompetenzen in den Bereichen Freiheit, Sicherheit und Recht. Das Leitbild der sozialen Marktwirtschaft wird erstmalig im europäischen Vertragswerk genannt, ebenso der Grundsatz der repräsentativen Demokratie.

Der Lissabonner Vertrag bedeutet nach einer Phase der Stagnation und des "Nachdenkens" einen Schritt in die Zukunft der EU, auch wenn er hinter den Zielen und Inhalten des nicht in Kraft getretenen Verfassungsvertrages von 2004 zurückbleibt. Der Reformvertrag weist eine hohe Detaildichte auf. Für Laien sind viele Regelungen nur schwer zu durchschauen. Von einem knappen, verstehbaren Grundvertrag ist er weit entfernt. Trotzdem ermöglicht der Reformvertrag im Vergleich zu seinen Vorgängern (EWG-Vertrag, Einheitliche Europäische Akte, Maastrichter Vertrag, Vertrag von Amsterdam, Vertrag von Nizza) mehr Transparenz und Klarheit.

Die EU - eine Rechtsgemeinschaft

Die beiden Teilverträge des Lissabonner Vertrages sind klassische intergouvernementale Verträge. Die Regierungen der EU-27 haben sie ausgearbeitet und nach den Regeln ihrer nationalen Verfassungen ratifiziert. Mit den Verträgen werden Souveränitätsrechte durch die Mitgliedstaaten auf die EU übertragen. Die EU gewinnt ihre Souveränität somit durch die Abgabe von Souveränitätsrechten seitens der Mitgliedstaaten ("Souveränitätsgewinn durch Souveränitätsverzicht") und bildet eine eigene Rechtsgemeinschaft, das heißt, die Organe der EU setzen für die EU, deren Mitgliedstaaten, ihre Bürgerinnen und Bürger (natürliche Personen) sowie Körperschaften (juristische Personen) unmittelbar geltendes Recht (Sekundärrecht). Die EU kann für die Mitgliedstaaten politisch handeln, Gesetze erlassen und durchsetzen - wenngleich nur im Rahmen ihrer in den Verträgen niedergelegten Zuständigkeiten. Die EU verfügt also über eine eigene Rechtspersönlichkeit. Sie ist befugt, völkerrechtlich verbindliche Verträge abzuschließen und internationalen Organisationen beizutreten. Das eigenständige Generieren von Zuständigkeiten ("Kompetenzkompetenz") ist für die EU und ihre Organe grundsätzlich nicht zulässig. Ferner bleiben die Mitgliedstaaten in bestimmten Bereichen, etwa in Teilen der Außen- und Sicherheitspolitik, weiterhin die entscheidenden Akteure.

Auf diese Weise wird eine vorrangige Rechtsordnung gegenüber dem nationalen Recht ausgebildet ("Europarecht bricht nationales Recht"). Das sekundäre Gemeinschaftsrecht wird von den (Haupt-)Organen der EU - der Kommission, dem Rat der Europäischen Union und dem Europäischen Parlament (EP) - gesetzt. Der Gerichtshof der Europäischen Union legt das Recht aus. Im Laufe der Zeit ist so ein dichtes Netz von rechtlichen Regelungen entstanden. Das Primärrecht und das daraus entstandene sekundäre Gemeinschaftsrecht werden auch als "gemeinschaftlicher Besitzstand" (frz.: acquis communautaire) bezeichnet.

Der Vertrag von Lissabon verleiht der im Dezember 2000 von den Staats- und Regierungschefs der EU unterzeichneten Grundrechtecharta Rechtsverbindlichkeit, auch wenn sie nicht unmittelbar in das Vertragswerk aufgenommen wurde. EU-Bürgerinnen und -Bürger können sich vor dem Gerichtshof der EU auf dieses Dokument berufen (Ausnahme: Polen und Briten).

Die Kompetenzen der EU

Grundsätzlich gilt in der EU das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung: Die EU darf also nur innerhalb der Grenzen derjenigen Zuständigkeiten tätig werden, die die Mitgliedstaaten ihr übertragen haben. Im Laufe der Zeit sind der EU auf fast allen klassischen Politikfeldern von den Mitgliedstaaten Kompetenzen übertragen worden. Dabei können sich die Gesetzgebungskompetenzen der EU je nach Politikfeld unterscheiden.

So gibt es

  • ausschließliche Zuständigkeiten der EU: hier setzt die EU verbindliches Recht;
  • geteilte Zuständigkeiten: sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten können gesetzgeberisch tätig werden;
  • unterstützende Zuständigkeiten: die EU ergänzt oder koordiniert Maßnahmen der Mitgliedstaaten;
  • Sonderformen für die Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik sowie für die Außen- und Sicherheitspolitik.
Zwei Prinzipien sind für die Rechtsetzung leitend: Das Subsidiaritätsprinzip regelt, dass die EU in den Politikfeldern, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur dann tätig werden darf, wenn die Ziele von den Mitgliedstaaten allein nicht erreicht werden. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit bedeutet, dass grundsätzlich nur Maßnahmen ergriffen werden dürfen, die geeignet, erforderlich und angemessen sind.

Der Lissabonner Vertrag sieht erstmals die Möglichkeit der Rückverlagerung von Kompetenzen an die Mitgliedstaaten vor. Auf diese Weise begegnen die vertragsschließenden Staaten der Kritik, die EU sei eine alle Grenzen ausschöpfende und in Teilen sogar überschreitende Organisation, die einmal auf sie übertragene Aufgaben nicht mehr aufzugeben bereit sei.

Entscheidungsverfahren

Der Lissabonner Vertrag hat das Verfahren zur Vertragsänderung reformiert: Sowohl der zur Ausarbeitung der EU-Grundrechtecharta und des Verfassungsvertrages eingesetzte Konvent als auch das "Ordentliche Verfahren" zur Vertragsänderung wurden in das Vertragswerk aufgenommen. Ob ein Konvent zur Ausarbeitung von Änderungsvorschlägen eingesetzt wird oder nicht, bedarf immer der Zustimmung des EP. Über die Änderungsvorschläge muss zunächst eine Regierungskonferenz beschließen, abschließend müssen sie nach den nationalen verfassungsrechtlichen Verfahren von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Anders als die Regierungskonferenz setzt sich der Konvent nicht nur aus Regierungsvertretern der Mitgliedstaaten zusammen; an ihm nehmen auch Vertreter des Europäischen Parlaments, der nationalen Parlamente und der Kommission teil. Damit sollen die Änderungen am europäischen Vertragswerk auf eine größere politische Basis gestellt werden.

An dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren - zuvor Mitentscheidungsverfahren genannt - sind die Kommission, das EP und der Rat der EU beteiligt. Das Verfahren sieht drei Lesungen und gegebenenfalls ein Vermittlungsverfahren vor.

Nach wie vor hat grundsätzlich die Kommission das alleinige Initiativrecht für Gesetzgebungsakte; in speziellen Fällen gibt es aber auch die Möglichkeit, dass eine Gruppe von Mitgliedstaaten, das EP oder der Rat der EU die Kommission dazu auffordern, eine Gesetzesinitiative einzuleiten. Der Gesetzesvorschlag der Kommission wird dann von EP und Rat der EU erörtert. Bei unvereinbaren Positionen ist ein Vermittlungsverfahren vorgesehen. Wird hier keine Einigung erzielt, ist der Rechtsakt gescheitert; kommt eine Einigung zustande, haben Rat und EP jeweils sechs Wochen Zeit, den gemeinsamen Entwurf zu erlassen; geschieht dies nicht, ist der Rechtsakt ebenfalls gescheitert. Entscheidend bei diesem Gesetzgebungsverfahren ist, dass sowohl das EP wie auch der Rat gleichberechtigt an dem Gesetzgebungsprozess beteiligt sind.

Der Rat der EU entscheidet entweder einstimmig, mit einfacher oder qualifizierter Mehrheit. Sieht der Vertrag eine Abstimmung mittels qualifizierter Mehrheit vor, werden die Stimmen der Mitgliedstaaten gewichtet. Eine qualifizierte Mehrheit ist nach dem Vertrag von Lissabon erreicht, wenn drei Bedingungen erfüllt sind: Zustimmen müssen mindestens 55 Prozent der Mitglieder im Rat, die mindestens 15 Staaten repräsentieren und gemeinsam mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung abbilden. Vier Staaten können eine Sperrminorität bilden. Bis zum 31. Oktober 2014 wird - so ist es in einem Protokoll zum Vertrag von Lissabon festgehalten - diese qualifizierte Mehrheit nicht angewandt, sondern es gilt die Regelung aus dem Vertrag von Nizza:

  • Die Mehrheit der gewichteten 345 Stimmen muss erreicht werden, das heißt 258 Stimmen;
  • die Mehrheit der Mitgliedstaaten muss zustimmen, und
  • diese Mehrheit muss 62 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.
Die Staffelung der Stimmen von mindestens drei und maximal 29 Stimmen bevorzugt die kleineren Mitgliedstaaten. Durch die Bevölkerungsquote erhalten die Mitgliedstaaten mit großem Bevölkerungsanteil wiederum mehr Gewicht. In einer Erklärung zum Vertrag von Lissabon sind weitere Ausnahmen und Quoren für die Zeitspanne zwischen dem 1. November 2014 und dem 31. März 2017 sowie ab dem 1. April 2017 festgeschrieben. Dies macht deutlich, wie sensibel und schwierig das Thema der Gewichtung und damit des Einflusses der Mitgliedstaaten auf Entscheidungen im Rahmen der EU ist. Häufig werden die Entscheidungen im Rat jedoch im Konsens getroffen, sodass die Abstimmung mittels qualifizierter Mehrheit gar nicht zur Anwendung kommt - auch wenn sie im Vertrag vorgesehen ist.

Im Rahmen der Entscheidungsverfahren sind verschiedene Gesetzesnormen vorgesehen. Diese lassen sich wie folgt charakterisieren:

  • Verordnungen gelten unionsweit unmittelbar, sind in allen Teilen verbindlich und stehen über nationalem Recht;
  • Richtlinien müssen von den Mitgliedstaaten, an die sie gerichtet sind, in nationales Recht umgesetzt werden, ihre Ziele sind verbindlich;
  • Beschlüsse Beschlüsse sind für die benannten Empfänger, zum Beispiel Staaten oder Unternehmen, in allen Teilen verbindlich;
  • Empfehlungen sind unverbindlich, ebenso wie Stellungnahmen.
Rat und EP üben gemeinsam auch die Haushaltsbefugnis aus. Der Vertrag von Lissabon legt folgende Instrumente für den Bereich des Haushaltes fest:

  • Eigenmittel: Hierbei handelt es sich um Einnahmen der EU aus eigenem Recht, auch wenn die Mitgliedstaaten letztendlich darüber befinden und die EU keine eigenen Steuern erhebt.
  • Mehrjähriger Finanzrahmen: Die EU verabschiedet für sechs Jahre einen Mehrjährigen Finanzrahmen; hiermit werden Schwerpunkte für das zukünftige Handeln gesetzt und Planungssicherheit sowohl für die Mitgliedstaaten als auch für die Organe der EU hergestellt. Im Jahr 2006 wurde der Mehrjährige Finanzrahmen für die Jahre 2007 bis 2013 verabschiedet.
  • EU-Haushaltsplan: Er beinhaltet die Einnahmen und Ausgaben der EU für ein Jahr.
Das Verfahren zur Aufstellung des Jahreshaushalts wurde durch den Vertrag von Lissabon vereinfacht und dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren angepasst. Zudem entfällt die Unterscheidung zwischen obligatorischen und nicht-obligatorischen Mitteln: Bei den obligatorischen Mitteln (Ausgaben, welche sich zwingend aus dem Vertrag oder anderen Rechtsakten der EU ergeben) hatte bisher der Rat das letzte Wort, bei den nicht-obligatorischen Mitteln (alle übrigen Ausgaben) das EP. Der Wegfall der Unterscheidung hat zu einer Gleichwertigkeit von EP und Rat im Haushaltsverfahren geführt und vor allem die Mitentscheidungsrechte des EP gestärkt. Das EP und der Rat entscheiden jetzt gemeinsam über den gesamten EU-Haushalt. Der Rat kann ein ablehnendes Votum des Parlaments nicht überstimmen. In einem solchen Fall muss die Kommission einen neuen Haushaltsentwurf vorlegen und das Verfahren beginnt von vorne.

Liegt bis zum Jahresbeginn kein verabschiedeter Haushalt vor, tritt die sogenannte Zwölftel-Regelung in Kraft. Jeweils ein Zwölftel des vorjährigen Haushaltes wird pro Monat zur Verfügung gestellt. Der damit eingeschränkte politische Gestaltungsspielraum soll die Einigung zwischen EP und Rat fördern.

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Bundeszentrale für politische Bildung

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Berlin Deutschland