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Wir lassen uns nicht dressieren!

von Prof. Elisabeth von Erdmann

Serie: „Warum die Geisteswissenschaften Zukunft haben!“ (4)

Die Frage nach dem wirtschaftlichen Nutzen der Philologien ist falsch. Sie haben die Aufgabe und die Macht, Imagination und Reflexion zu stärken. Darin liegt ihr tieferer Sinn.

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Die Frage, was die Geisteswissenschaften leisten,

geht an der Sache vorbei. Sie führt einen ökonomisierten Leis

tungsbegriff' als Maßstab ein und legt gleichzeitig die Entscheidung

darüber, was beobachtet werden soll, fest. Wirklichkeit spiegelt die Fragen

wider, die an sie gestellt werden. Die Frage nach der Leistung der

Geisteswissenschaften bringt eine Sichtweise hervor, in der diese ihren

Nutzen für die Gesellschaft fortwährend rechtfertigen und sich gemäß jener

politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Anforderungen

präsentieren müssen, die heute im Vordergrund stehen. Im Bemühen, dieser

Frage gerecht zu werden, kommen die Geisteswissenschaften aus der Tretmühle

der Rechtfertigung nicht heraus. Sie bleiben damit beschäftigt, sich

"richtig" zu positionieren und zu präsentieren. Dabei kommen viele andere

Aspekte ihrer Beobachtungsmöglichkeiten nicht in den Blick und werden sogar

von ihnen selbst vernachlässigt.

Dies zeigt sich etwa auch in einem von der Berlin-Brandenburgischen Akademie

der Wissenschaften verfassten "Manifest Geisteswissenschaften". Darin mühen

sich die Autoren, den Geisteswissenschaften einen gesicherten Platz "als

festen Bestandteil unserer Wissenschafts- und Alltagskultur" zurückzugeben.

Unabsichtlich demonstrieren sie, was in Wirklichkeit geschehen ist, nämlich

eine umfassende Indienstnahme der Geisteswissenschaften durch politische,

kulturelle, soziale und ökonomische Interessen.

In den Geisteswissenschaften, schreiben die Autoren, begreife sich "die Welt

in Wissenschaftsform. Um dieser Aufgabe zu entsprechen, müssen die

Geisteswissenschaften ihre derzeitigen eigenen Orientierungs- und

Organisationsprobleme überwinden, mit denen sie sich häufig selbst als Teil

jener Probleme moderner Kulturen erweisen, zu deren Bewältigung sie

eigentlich da sind." Solche Thesen bürden den Geisteswissenschaften die

Verantwortung für eine Krise auf, in die sie systematisch durch fachfremde

Forderungen und eine gnadenlose Sparpolitik hineinmanövriert worden sind.

Natürlich haben Politik und Gesellschaft ihre Belange zu verfolgen. Offenbar

aber haben sie daraus den Schluss gezogen, die Geisteswissenschaften müssten

von nun an auch diesen Interessen dienen, statt ihren eigenen Wegen zu

folgen, die sie viele Jahre mit übrigens beträchtlicher internationaler

Anerkennung gegangen sind. Einflussreiche Akteure ohne

geisteswissenschaftliche Kompetenz und Ahnung davon, worin die

geisteswissenschaftlichen Interessen und Stärken liegen könnten, halten sich

für autorisiert, die Geisteswissenschaften zu Dienstleisterinnen des

gesellschaftlichen Nutzens, wie sie ihn verstehen, zu machen. Diese

Entwicklung bedeutet eine ernste Bedrohung der Freiheit der Wissenschaft.

Die Geisteswissenschaften sollen dressiert werden durch Existenzangst und

Rechtfertigungsdruck, durch Förderkorsette und die Einbindung in politische

Programme. Das "Manifest Geisteswissenschaften" ist Ausdruck eines

weitverbreiteten Opferverhaltens. Die sich darin zu Wort meldenden Sprecher

der Geisteswissenschaften akzeptieren Funktionalisierung und

Selbstbestimmungsverlust der geisteswissenschaftlichen Diskurse und

übernehmen das aufgedrängte Paradigma. Doch den Geisteswissenschaften stünde

es besser zu Gesicht, sich selbst treuer zu bleiben und dem fremden Blick

auf sich ihren eigenen entgegenzustellen. "Probleme kann man niemals mit

derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind", sagte Einstein.

Die Frage nach dem Nutzen und der Leistung der Geisteswissenschaften ist

falsch.

Stellen wir also andere Fragen und schauen wir, welches Bild die

Geisteswissenschaften dann bieten. Zum Beispiel: Welche Qualitäten haben die

Geisteswissenschaften? Warum stehen sie der reibungslosen Einfügung in die

herrschenden Diskurse von Leistung, Nutzen, Ökonomie, Vernetzung,

politischen Programmen und Globalisierung zum Teil ziemlich hilflos

gegenüber? Wohin führen sie, wenn nicht in die praktische Welt des

ökonomischen und gesellschaftlichen Nutzens?

Ohne Zweifel haben die Geisteswissenschaften auch Leistungen zu bieten, die

gut in die allgemeine politische, ökonomische und kulturelle Tendenz passen.

Das Aufzählen dieser Leistungen gehört zum Standardrepertoire der

Rechtfertigung der Geisteswissenschaften, um die es hier nicht geht. Aber

dennoch stellt sich die Frage, was für eine Welt das werden soll, in der

Diskurskompetenz, Verstehen, Sinngebung, kritische Reflexion und die

Vermittlung historischen Bewusstseins unter Rechtfertigungsdruck geraten.

Oft genug haben Geisteswissenschaften totalitären Strukturen gedient und

sich damit hohe Wertschätzung erworben. Das gilt zumindest für die

sozialistischen Gesellschaften. Widerständigkeit gehört zwar zu ihren

Potenzialen, doch nicht zu ihren zwangsläufigen Eigenschaften. Wenn sie

heute trotz großer Anpassungsbemühungen Rechtfertigungsprobleme haben, dann

betrifft das möglicherweise Eigenschaften, die mit einer durch

Globalisierungsprozesse begründeten Vereinnahmung nicht ohne weiteres

kompatibel sind.

Warum? Vermutlich doch, weil sie für Werte stehen, die sich einer

Instrumentalisierung entziehen, aber trotzdem lebensnotwendig sind, Werte,

die zumindest den Blick über die letztendlich doch begrenzte und sich in

zahllosen Varianten fortwährend wiederholende Welt hinaus eröffnen. Meist

hat das Wissen Vorrang vor Phantasie und Imagination. Einstein sah das

anders, wenn er feststellte: "Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn

Wissen ist begrenzt."

Geisteswissenschaften lassen sich nicht vollkommen kontrollieren, weil sie

nicht nur in die praktische Welt hineinführen, sondern auch aus ihr

herausführen können. Damit halten sie Zugänge offen zu Modellen, die die

Imagination und das Denken als eigenständigen objektiven Bereich neben der

konkreten Welt auffassen. Daraus kann sich eine Vervollständigung des

einseitigen Anspruchs ergeben, an den wir uns alle gewöhnt haben, dass

Imagination und Phantasie nur dann etwas taugen, wenn sie in konkrete

Praxis, die nützt, umgesetzt werden können. Unter konkreter Welt wird dann

in der Regel die Welt verstanden, wie die herrschende Tendenz sie haben

will.

Das ist sicher nicht die einzig mögliche Welt und auch wohl nicht die beste

von allen. Geisteswissenschaften verweigern Geradlinigkeit und kultivieren

stattdessen Umwege, die andere Aspekte einbeziehen, Damit entwickeln sie

eine Perspektiven setzende Kraft und geben dem "Willen zur Illusion" einen

Ort, an dem er kreativ werden kann. In ihnen kann erforscht werden, wie

konkrete Welt zu geistiger Welt, zu Imagination wird. Dies haben viele

Denket und Dichter in östlichen und westlichen Kulturen geschätzt und

kultiviert. Es ist eine Weltwahrnehmung, die dem Leben Farbe, Glanz, Sinn,

Tiefe, Dunkelheit, Ausblick und anderes mehr gegeben hat, aber keinen

konkreten, in Zahlen angebbaren Nutzen. Heute bildet meist der praktische,

konkrete Nutzen die Prämisse. Es gab Zeiten, in denen das umgekehrt gesehen

wurde. Diese Zeiten sind allein schon zur Vervollständigung des Bildes

beachtenswert.

Auf ihren Wegen zwischen zwei Welten können Geisteswissenschaften gegen die

Reduktion des Menschen auf seinen Nutzen eine Strategie der Teilhabe

stellen. Es wäre natürlich schön, glauben zu können, dass die konkrete Welt

einmal durch Teilhabe statt durch Kontrolle organisiert würde. Doch ist

dieser Maßstab der Teilhabe wichtig, auch wenn er nicht in die Praxis

umgesetzt wird, ähnlich wie das mit ethischen Regeln der Fall ist, deren

bloße Existenz die Praxis in Zaum hält. Geisteswissenschaften, die sich

nicht als Tautologie verstehen, können erforschen und vermitteln; wie

Wirklichkeit durch die Wahrnehmung verschiedener Welten verändert wird.

Einstein wusste diese Welt der Imagination zu schätzen, obwohl er mit seinen

Theorien die Wirklichkeit und Wissenschaft veränderte. Er sagte: ,Eine

wirklich gute Idee erkennt man daran, dass ihre Verwirklichung von

vorneherein ausgeschlossen erscheint."

Der Verzicht auf Vereinnahmung, Kontrolle und Nutznießung sowie auf die

Reduktion des einen auf das andere, der den Geisteswissenschaften in ihren

Forschungen möglich ist, eröffnet größere Spielräume für etwas ganz Neues,

als wenn man die Geisteswissenschaften zur Tautologie anderer Interessen

macht, sie zu allegorischer Exegese der Welt und der herrschenden Diskurse

zwingt und damit in ihre Dynamik eingreift. Es gibt Gegenstände

geisteswissenschaftlicher Forschung, die nur die Richtung auf die

Imagination, das Denken und den Geist nehmen und nicht mehr zurück in die

Praxis führen. Die Wahrnehmung dieser entgrenzenden Traditionen durch

geisteswissenschaftliche Forschung und Vermittlung bilder einen

lebensnotwendigen Bestandteil der Realitäten des Menschen.

Vielleicht überrascht es, wie wichtig ein Denken für Wissenschaft und

Wirklichkeitsgestaltung ist, das so tut, als ob etwas möglich wäre, das

nicht möglich ist, und sich etwas vorstellt, als ob es das wirklich gäbe,

obwohl es das nicht gibt. Die Begriffe des Denkens und seine Methoden und

Wege sind nie identisch mit Wirklichkeit. Hans Vaihinger ist schon vor

vielen Jahren der Frage nachgegangen, weshalb mit bewusst falschen

Vorstellungen Richtiges erreicht werden kann. In seiner 1911 erschienenen

"Philosophie des Als Ob" entwickelt er die Bedeutung, die Fiktionen für die

Gestaltung der Wirklichkeit durch Wissenschaft erhalten. Er versteht das mit

Fiktionen arbeitende Denken als Mechanik der Realitätsgestaltung, das die

Fiktionen wie Werkzeuge ergreift und wieder weglegt. Begriffe wie

Brauchbarkeit oder Unbrauchbarkeit sind dabei sekundär.

Für diese anderen Wege des Denkens und der Imagination haben die

Geisteswissenschaften Kompetenz zu bieten, und dafür brauchen sie Freiräume

statt Rechtfertigungsdruck, aber nicht etwa, um sich aus der Wirklichkeit zu

verabschieden, sondern um die Welt des Denkens und der Imagination, die auch

eine Ebene von Wirklichkeit bilden, aber eben eine andere, zu erforschen und

wahrnehmbar zu machen.

Dies führt zu einer weiteren unkritischen Prämisse, dass nämlich Fortschritt

und Effizienz nur in der Vernetzung und umfassenden Kooperationen liegen

können. Der Glaube, dass durch Kommunikation zwischen möglichst vielen

Menschen Probleme besonders gut zu meistern und vor allem Innovation zu

erreichen sei, erscheint ziemlich naiv.

Vielmehr eröfinet sich die Aussicht, dass durch diese durchaus zeit- und

kraftintensiven Vernetzungen und Kooperationen immer das Gleiche, also

Tautologien, in eine unendliche Zirkulation geschickt werden und der Ort

unbekannt wird, an dem ein einzelner Mensch, ein Subjekt, noch korrigierend

und verändernd, also innovativ eingreifen könnte. Geisteswissenschaften

lassen sich nicht so gut vernetzen, weil sie heterogen und individualistisch

sind, sich also nicht reibungslos unter gleiche Überschriften stellen

lassen.

Das wird ihnen zum Vorwurf gemacht. Doch bildet gerade dieses Unvermögen

einen wichtigen Wert. Geisteswissenschaften erforschen und praktizieren,

dass es außer dem Aufgehen des Einzelnen 'in Netzwerken noch eine andere

Kommunikation gibt, die für den Menschen lebenswichtig ist, die

Kommunikation mit der Ebene der Imagination und des Denkens, der Ebene der

Bilder, die anders als die Praxis sind.

Geisteswissenschaften sind also auch der Ort, an dem der Mensch als

Individuum und in Beziehung zur Imagination wahrgenommen werden und agieren

kann. Geisteswissenschaften erforschen und beobachten die andere Welt. Sie

praktizieren, wie die konkrete Realität durch die andere Welt der

Unendlichkeit, die Imagination und das Denken geschickt wird und mit den

Spuren dieser Reise möglicherweise wieder auf die Erde zurückkommt.

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Bestellinformationen

Herausgeber

Prof. Günther Rüther und Prof. Jörg-Dieter Gauger

verlag

Herder

ISBN

978-3-451-29822-6

erscheinungsort

Berlin Deutschland