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Sadik Gulec

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Ergebnisse der irakischen Parlamentswahl 2021

Erste Stellungnahme zum vorläufigen amtlichen Endergebnis

Am Sonntag, den 10. Oktober 2021 fanden im Irak vorgezogene Parlamentswahlen statt, das Auslandsbüro Syrien/Irak der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) analysiert die ersten veröffentlichten Ergebnisse.

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Bei den vorgezogenen irakischen Parlamentswahlen am 10. Oktober 2021 kandidierten in 83 Provinzen insgesamt 3,249 Kandidatinnen und Kandidaten. Es galt, 329 Parlamentssitze zu besetzen. Die fünf stärksten politischen Parteien und Blöcke sind:

Sa‘irun Bewegung                             22%                          73 Sitze

Taqadum                                              13%                           43 Sitze

State of Law                                        12%                           40 Sitze

Kurdish Democratic Party             10%                           32 Sitze

Unabhängige Kandidaten              8%                             27 Sitze

 

Eine Auflistung der weiteren vorläufigen Ergebnisse befindet sich in Anhang I.

Wahlgewinner und Verlierer

Wie schon 2018 konnte die Sa’irun-Bewegung des einflussreichen schiitischen Klerikers und Politikers Muqtada al-Sadr die meisten Stimmen auf sich vereinen. Sie erhielt 22 Prozent und damit 73 Sitze. Erstmalig konnten einige Parteien aus der Protestbewegung ins Parlament einziehen: Imtidad erreichte 10 Sitze (3 Prozent), die Tishreen Alliance erhielt einen Sitz. Bei den sunnitischen Parteien gewann Taqadum unter Vorsitz Mohammad al-Halbousis mit 13 Prozent und damit 43 Sitzen die meisten Stimmen, auch die neugegründete sunnitische Al-Azm Allianz konnte auf Anhieb 19 Mandate gewinnen. Viele Wähler und Wählerinnen wandten sich vom schiitischen Al-Fateh Block ab, der den bewaffneten Arm pro-iranischer Milizen im Irak darstellt. Demgegenüber gewannen andere schiitische Parteien, wie die gemäßigte pro-iranische State of Law Allianz des ehemaligen Ministerpräsidenten Nouri al-Maliki an Stimmen, sie kommt insgesamt auf 40 Sitze. Die schweren Verluste für die pro-iranische Al-Fatah von 48 Sitzen in 2018 auf gerade einmal 24 Sitze und das schlechte Ergebnis der neuen Huquq Partei, der politische Arm der Kata‘ib Hisbollah Miliz, die nur einen Sitz erhielt, stellen deren Vertreter als Wahlfälschung dar. So erklärte der pro-iranische Milizenführer Hadi al-Ameri, dass sie dieses „fabrizierte Wahlergebnis“ nicht akzeptieren werden. Der Militär- und Sicherheitsberater der Kata‘ib Hisbollah Miliz Abu Ali al-Askari verkündete, dass die Parlamentswahlen den „größten Betrug und die umfassendste Einwicklung des irakischen Volkes in der modernen Geschichte darstellen“. Das schlechte Abschneiden der pro-iranischen Milizen zugeordneten Parteien könnte von einem Verlust der Unterstützung vonseiten der irakischen Bevölkerung zeugen. Während die Milizen durch den Kampf gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) zunächst weitreichende Anerkennung erhielten, scheint diese mittlerweile aufgrund ihres brutalen Vorgehens gegen die Protestbewegung sowie die Ermordung und Einschüchterung von zivilgesellschaftlichen Akteuren zu verblassen.

Die Kurdische Demokratische Partei (KDP) gewann 7 Mandate im Vergleich zu 2018 hinzu und erhielt insgesamt 32 Sitze (10 Prozent). Die 2018 gegründete kurdische Partei New Generation Movement verdreifachte ihre Sitze beinahe von 4 auf 11. Die Kurdish Alliance (Patriotic Union of Kurdistan (PUK) und Gorran Bewegung) erlitt Stimmverluste, beide Parteien erhielten lediglich 15 Sitze – 2018 kamen sie insgesamt auf 23. Die PUK erklärte am Montag (11.10.) die Wahlergebnisse im Wahlkreis Erbil vorläufig nicht anzuerkennen. Die Gorran Bewegung hingegen, entschuldigte sich bei ihren Unterstützern für das schlechte Wahlergebnis und kündigte Reformen an.

Große Wahlverliererin ist außerdem die National State Force Coalition des ehemaligen Ministerpräsidenten Haider al-Abadi (Nasr Bloc) und Ammar al-Hakim (Wisdom Movement). Sie kamen 2018 noch auf insgesamt 61 Mandate, bei der jetzigen Abstimmung erhielten sie lediglich 4 Sitze.

Ohne Zweifel ist positiv anzumerken, dass es am Wahltag keine nennenswerten sicherheitsrelevanten Vorkommnisse wie etwa Anschläge des IS oder größere Proteste gab. Im Vorfeld der Wahl wurden diesbezüglich zahlreiche Vorkehrungen getroffen: Etwa 250.000 irakische Sicherheitskräfte waren im Einsatz, der irakische Luftraum war von Samstagabend 18:00 Uhr bis Montagmorgen 6:00 Uhr gesperrt. Im Vergleich zu vorigen Abstimmungen kam es nur zu wenigen Zwischenfällen. Etwa 77 Personen wurden wegen Verstößen im Zusammenhang mit der Durchführung des Wahlprozesses verhaftet – in der Regel handelte es sich hierbei um illegale Wählerbeeinflussung, indem diese beispielsweise unter Druck gesetzt wurden, für eine bestimmte Partei zu stimmen.

Iraks amtierender Ministerpräsident Mustafa al-Kadhimi erklärte direkt nach Schließung der Wahllokale, eine der zentralen Forderungen der Protestbewegung, das heißt die Durchführung von vorgezogenen freien und fairen Parlamentswahlen, erfolgreich umgesetzt zu haben.


Wahlbeteiligung

Trotz allem gilt: Die Wahlbeteiligung war mit 41 Prozent die niedrigste seit 2005 – bei der ersten Abstimmung nach der US-Intervention lag sie noch bei fast 80 Prozent – gestern stimmten insgesamt nur etwa 9,1 Millionen Menschen ab. Nachdem die Partizipation am Wahltag um 12:00 Uhr noch bei unter 20 Prozent lag, entschied die Hohe Irakische Wahlkommission (IHEC), wie bereits 2018, die Wahlbeteiligung nicht anhand der tatsächlich berechtigten Wähler (ca. 25 Millionen) zu berechnen, sondern ausschließlich die registrierten Wähler (22,1 Millionen) als Grundlage der Bemessung zu nutzen. Durch diese Berechnungsmethode stieg die Wahlbeteiligung schließlich auf 41 Prozent (in Relation zu allen Wahlberechtigten liegt sie hingegen bei nur 36 Prozent). Die niedrigste Beteiligung gab es in Bagdad, dort gingen durchschnittlich lediglich 32,5 Prozent der registrierten Wähler zur Abstimmung. In Dohuk, in der Autonomen Region Kurdistan (ARK), war die Wahlbeteiligung am höchsten – 54 Prozent der registrierten Wähler stimmten ab. Am Wahlsonntag, drei Stunden vor Schließung der Wahllokale, rief Muqtada al-Sadr die Iraker und Irakerinnen erneut auf, ihre Stimme abzugeben, was weitere Wähler motiviert haben dürfte.

Am vergangenen Freitag (8.10.2021) waren bereits die irakischen Sicherheitskräfte sowie Gefangene und Binnengeflüchtete zur Wahl aufgerufen. Die Beteiligung lag bei 69%, vor allem die Binnenflüchtlinge blieben der Abstimmung fern, während die Sicherheitskräfte zahlreich abstimmten.

Über die tatsächliche Höhe der Wahlbeteiligung wird es in den kommenden Wochen zweifelsohne noch weitere Kontroversen geben, denn mehrere Fotos aus Wahlzentren, die nach Ende der Abstimmung um 18:00 Uhr in den Sozialen Medien veröffentlicht wurden und Listen der registrierten Wähler sowie die abgegebenen Stimmen abbilden, zeigen eine Wahlbeteiligung von nur durchschnittlich unter 20 Prozent in den betreffenden Wahllokalen. Es liegt hier also der Verdacht nahe, dass es vereinzelt zu Manipulationen (oder zumindest unlauteren Berechnungsmethoden) kam, um eine höhere Abstimmungsrate zu erzielen.

Besonders junge Irakerinnen und Iraker, zwischen 18 und 25 Jahren, blieben der Wahl überwiegend fern. Wahlbeobachter und Journalisten berichteten, dass sie kaum junge Leute in den Wahllokalen antrafen. Lediglich die etablierten Parteien konnten offensichtlich ihre Anhänger in größerer Zahl motivieren. Dieser besorgniserregende Trend illustriert die zunehmende Desillusionierung und den Vertrauensverlust vieler Menschen in das politische System des Landes.

Hinzu kommt, dass die Wahl in einem Klima der Angst stattfand. So wurden Kandidaten und Kandidatinnen neuer unabhängiger Parteien vor allem durch pro-iranische Milizen gezielt eingeschüchtert. Darüber hinaus ermordeten im Juli 2021 vermutlich Teheran-nahe Gruppen den Aktivisten und Kandidaten Ihad al-Wazni. Am 9. Oktober, einen Tag vor der Wahl, wurde zudem die Leiche des 17-jährigen Bloggers Hayder Mohammed al-Zamli gefunden. Er war vier Tage zuvor verschwunden und hatte eine Facebook-Seite verwaltet, auf der Karikaturen gepostet sind, die Muqtada al-Sadr kritisieren.

Außerdem erschwerten hohe administrative und finanzielle Hürden die Teilnahme neuer Parteien – die Aufnahme ins Parteienregister kostet beispielsweise umgerechnet 18.000 Euro.

Nachdem die Irakische Wahlkommission (IHEC) die Ergebnisse nicht, wie zuvor angekündigt, noch am Wahlabend verkündet hatte, warfen ihr am Montagvormittag (11.10.) zahlreiche Iraker und Irakerinnen Ergebnismanipulation vor.

Dies sowie die niedrige Wahlbeteiligung werden es einer neuen Regierung nicht einfacher machen, die notwendige Legitimität für sich zu beanspruchen, um die zahlreichen Herausforderungen und sich überlagernden Krisen, mit denen sich das Land konfrontiert sieht, anzugehen.

 

Prognose

Das Wahlergebnis verändert den innenpolitischen Status quo zunächst nur geringfügig, da auch zukünftig alteingesessene Politiker die irakische Regierung lenken dürften. Erwähnenswert ist die Tatsache, dass einige Parteien und unabhängige Kandidaten und Kandidatinnen aus der Protestbewegung ins Parlament einziehen konnten. Ihr Einzug sowie die Entscheidung der irakischen Wähler und Wählerinnen für Halbousis Taqadum und die Sadristen zu stimmen, könnten allerdings den Einfluss Irans und seiner irakischen Verbündeten vermindern. Der Wahlsieger Muqtada al-Sadr erklärte am Montagabend, dass das staatliche Gewaltmonopol wiederhergestellt werden und der sogenannte ‚Widerstand‘, das sind die Iran-nahen Milizen, sich der irakischen Regierung unterordnen müsse. Sadrs Äußerungen sind eine Kampfansage an militante pro-iranische Kräfte. Diese drohten am Dienstag mit Gewalt, sollte er versuchen dies tatsächlich umzusetzen. Der Wahlausgang zugunsten des Iran-kritischen Lagers, könnte somit innenpolitische Konflikte befeuern. Der Forderung nach einem verminderten Einfluss der USA, dürfte nun möglicherweise eine Abkehr vom Iran oder zumindest von seinen Milizen folgen.

Es ist für die Zukunft des Irak zu hoffen, dass der Einzug weniger, aber dafür unabhängiger und säkularer Kräfte ins Parlament verkrustete Strukturen aufbrechen wird und damit wichtige erste Impulse gesetzt werden, die möglicherweise der Grundstein für eine neue Politik sein könnten, die alte ethno-konfessionelle Trennlinien überwindet und den Fokus auf eine programm- und reformbasierte Politik legt. Langfristig gesehen könnte dies auch den Glauben an die irakische Demokratie stärken und einen wichtigen Beitrag leisten, das verlorengegangene Vertrauen ins Parlament, die Regierung und andere staatliche Institutionen wiederherzustellen.


*Die im Text aufgeführten vorläufigen Wahlergebnisse wurden am 13. Oktober 2021 angepasst, nachdem die irakische Wahlkommission (IHEC) neue vorläufige Ergebnisse veröffentlicht hatte. Wir aktualisieren die Ergebnisse fortlaufend.

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Gregor Jaecke

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