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The protest movement in Iraq

Motivations and background information

For months, people in Iraq have been taking to the streets against the government. They are demanding jobs, functioning basic services, an end to corruption and the replacement of the political elite. We interviewed 1,000 Iraqis from 12 provinces about their views on the protest movement. This publication is only available in German.

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Protestbewegung im Irak

Motivationen und Hintergründe im Spotlight 

Gregor Jaecke 

Die Demonstrierenden fordern Jobs, eine funktionierende Grundversorgung, ein Ende der Korruption und die Ablösung der Herrschenden. Seit Monaten gehen im Irak Menschen gegen die dortige Regierung auf die Straße. Zum ersten Mal wurden nun 1.000 Iraker aus 12 Provinzen in „face to face“ Interviews zu ihrer Meinung über die Protestbewegung befragt. Dieser Text wurde anlässlich eines Pressegesprächs mit dem KAS Syrien/Irak Büroleiter Gregor Jaecke verfasst und liefert einen Überblick über die jüngste Protestwelle im Irak, angereichert mit den Erkenntnissen, der von der KAS im September und Oktober 2020 im Irak in Auftrag gegebenen umfassenden und repräsentativen Umfrage – durchgeführt von einem der größten internationalen Marktforschungsinstitute weltweit. 

In einem von Krisen geplagten Land wie dem Irak sind Proteste der Bevölkerung gegen die herrschende Elite keine Seltenheit. Größere Protestbewegungen gab es zuletzt 2011, 2015, 2018 und jüngst seit Oktober 2019. Ein Viertel der in der Studie Befragten gab an, zumindest einmal an der seit gut einem Jahr anhaltenden neuen Massenprotestwelle teilgenommen zu haben. 

Der Staatsapparat reagierte – neben einigen Reformankündigungen – vor allem repressiv: Unterschiedliche Sicherheitskräfte (v.a. „Anti-Riot-Police“) attackierten Teilnehmer der Demonstrationen teils brutal und setzten sogar scharfe Munition ein. Insgesamt forderten die Proteste bisher über 600 Tote und etwa 7.000 Verletzte. In Folge trat der damalige Premierminister Abdul Mahdi Ende November 2019 zurück und eine Phase der monatelangen, schwierigen Regierungsbildung und politischen Instabilität folgte.

Gewalt gegen Demonstranten ging auch von Seiten diverser pro-iranischer Milizen und Anhängern des irakischen Geistlichen und Schiiten-Politikers Muqtada al-Sadr aus. Ende November 2020 starben erneut drei Menschen bei Zusammenstößen von Demonstranten und Unterstützern Al-Sadrs. 

Die ethnisch-konfessionellen Eliten sind freilich gegen zu weitreichende Veränderungen, denn diese könnten ihren Status, ihre Macht und ihre Einnahmequellen gefährden. Die massive Gewalt gegen die Demonstranten war wohl bereits Ausdruck der Abwehrbereitschaft der Systemvertreter.

Auch nach der Regierungsbildung im Mai 2020 und der Ernennung Mustafa al-Kadhimis zum Premierminister setzten sich die Proteste fort. Sie fielen allerdings durch die COVID-19-Pandemie und die bald veranlassten strikten Ausgangssperren zunächst kleiner aus. Aufgrund der Auswirkungen der Pandemie, der fallenden Ölpreise und der desaströsen staatlichen Finanzen hat sich die Lage im Irak seitdem weiter verschärft. 81 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass die Krise noch auf unbestimmte Zeit andauern wird. Im Sommer 2020 flammten die Proteste v.a. lokal wieder auf – trotz der Reformversprechungen der neuen Regierung und der weiter herrschenden Angst vor dem Virus (derzeit sind über 562.520 Personen an Covid-19 erkrankt und 12.411 verstorben). Von den befragten Personen, die an den Protesten teilgenommen haben, sagte ein Viertel aus, dass die Pandemie der Grund für sie war, die Proteste auszusetzen.
Die Demonstranten fordern nach wie vor bessere staatliche Dienstleistungen (insbesondere hinsichtlich der Wasser-, Gesundheits- und Stromversorgung), aber auch bessere Jobmöglichkeiten, also insgesamt verbesserte Zukunftsperspektiven sowie den Kampf gegen Korruption. Als wesentliche Probleme des Landes nennen die Teilnehmer der Umfrage Korruption (59%); sozioökonomische Themen wie Arbeitslosigkeit (52%); Armut (31%); das marode Gesundheitssystem (7%) & das Corona Virus (25%) sowie seltener externe Einflüsse und Terrorismus (7% und 9%).

Ferner spricht sich die Mehrheit der Befragten (59%) dafür aus, dass der Irak neutral und frei von externen Einflüssen bleiben soll. Für eine Verringerung des iranischen Einflusses sprechen sich sogar 90 Prozent aus, für einen verringerten US-amerikanischen Einfluss immerhin noch 72 Prozent. Bei den seit dem 1. Oktober 2019 anhaltenden Protesten geht es jedoch um deutlich mehr: um eine Neuordnung des gesamten politischen Systems, um die Durchführung freier und transparenter Wahlen sowie um die Überwindung des ethno-konfessionellen Quotensystems, letzteres geben 95 Prozent der Befragten an.

Hervorzuheben ist, dass 40 Prozent der irakischen Bevölkerung nach 2003 geboren wurden, also nach dem Sturz Saddam Husseins. Die herrschende politische Klasse ist allerdings zumeist über 60 Jahre alt. Hier kommt es zu einer tiefen Entfremdung zwischen der überwiegend jungen Bevölkerung und der herrschenden Elite des Landes. Doch nicht nur bei der jungen Bevölkerung, sondern auch bei der Gesamtbevölkerung finden die Proteste eine breite Unterstützung. Fast zwei Drittel der Befragten (60%) stehen hinter den Forderungen der Protestbewegung. Als treibende Kraft sehen die Befragten vor allem Studenten und Schüler. Ihnen zufolge macht diese 80 Prozent der Protestbewegung aus, die Zivilgesellschaft sei zu 65 Prozent vertreten. Politischen Parteien sprechen nur knapp ein Fünftel (18%) eine Rolle in den Protesten zu, was auch das große Misstrauen gegenüber dem politischen System zeigt. 

Abgesehen vom amtierenden Premierminister Mustafa al-Kadhimi, erhalten Politiker und Regierungsinstitutionen niedrige Zustimmungswerte. Nur die Hälfte der Iraker haben einen Politiker, der ihre Meinung vertritt (51%). Die Befragten, die sich vertreten fühlen, nennen überwiegend den Regierungschef (50%). Die Hälfte der Iraker gibt darüber hinaus an, ein gesellschaftliches Vorbild zu haben. 25 Prozent von ihnen nannten Mustafa al-Kadhimi als ihr „Role Model“.

Jeder fünfte Iraker lebt unter der Armutsgrenze. Eines der ölreichsten Länder der Welt ist somit außerstande, für weite Teile seiner Bevölkerung zu sorgen. Das daraus resultierende Misstrauen spiegelt sich auch in der Umfrage wider, nur ein Viertel der Teilnehmer (26%) haben eine positive Einstellung zur Regierung und lediglich 5 Prozent zu politischen Parteien.

Es ist davon auszugehen, dass die Proteste im kommenden Jahr weitergehen werden: Von denjenigen, die weiterhin teilnehmen, sehen nämlich gut ein Drittel (35%) die Fortsetzung der Proteste als letzte Chance, Dinge zum Positiven zu verändern, gemäß dem Motto: „Wenn wir jetzt damit aufhören würden, dann ändert sich nie etwas!“.

Fazit 

Die Proteste im Irak gehen ohne Zweifel weit über eine bloße Jugendbewegung oder Jugendrevolte hinaus. Sie haben das Gefühl der Zusammengehörigkeit gestärkt und damit zur Entwicklung eines irakischen Selbstverständnisses beigetragen, welches langfristig herrschende ethnisch-konfessionelle Trennlinien überwinden möchte. Trotz divergierender Interessen und zentrifugaler Kräfte wollen jedoch aktuell 83 Prozent der Iraker die Einheit des Landes weiterhin wahren.

Aber: Der Irak ist noch keine wirklich geeinte Nation und die bestehenden ethnisch-konfessionell bedingten Trennlinien sind längst noch nicht bezwungen. Sicher ist: Die irakische Zivilgesellschaft steht erst am Anfang eines schweren und langen Weges – und sie hat es derzeit auch wahrlich nicht einfach, wie gezielte Attacken, Entführungen und Tötungen zivilgesellschaftlicher Akteure und Journalisten zeigen. Das Thema „shrinking spaces“ wird folglich auch in der Zukunft im erheblichen Maße das Wirken der betreffenden Akteure, aber auch die Stiftungsarbeit im Irak erschweren.

Zum Abschluss seien zwei positive Zahlen erwähnt: Etwa 7 von 10 Irakern (66%) sehen – trotz allem – optimistisch in die Zukunft und die überwiegende Mehrheit (71%) glaubt nicht, dass die Ereignisse zu einem Bürgerkrieg führen werden.

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Gregor Jaecke

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