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„Querdenker“ – Akteure, Ideologieelemente, Gewaltpotenzial

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In Bezug auf „Corona-Proteste“, Corona-Kleinkundgebungen sowie „Corona-Spaziergänge“ hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) vor dem medial so getauften „Sturm auf den Reichstag“ im August 2020 festgestellt, dass das Teilnehmerfeld bis dahin „äußerst heterogen, in seinem Kern jedoch demokratisch“[i] war.

„Querdenker“ mit ihren deutschlandweit präsenten lokalen Initiativen werden von den deutschen Verfassungsschutzbehörden „nicht als homogene Gruppierung verstanden“, aber es sei „ihren zentralen Führungspersonen und organisatorisch Verantwortlichen seit Beginn der Coronapandemie gelungen, sich bis Mitte 2021 als Schlüsselfiguren des Demonstrationsgeschehens zu profilieren, bevor sich das Protestgeschehen dezentralisierte“[ii].

„Querdenker“, „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sowie Rechtsextremisten versuchen seit Beginn der Corona-Proteste Einfluss zu nehmen und diese strategisch und ideologisch zu nutzen. Im Mittelpunkt dieser drei Akteursgruppen steht die Agitation gegen staatliche Corona-Schutzmaßnahmen und nach Angaben der Verfassungsschutzbehörden und Innenministerien von Bund und Ländern eine Delegitimierung der Maßnahmen und des Staates sowie seiner Repräsentanten. In Bezug auf „Querdenker“ muss differenziert werden. Zu unterscheiden ist beispielsweise in „Querdenker“ und deren Organisationsstrukturen, in „Querdenker“ mit Bezügen zu rechtsextremistischen Gruppen und/oder Einzelpersonen sowie „Querdenker“ mit Bezügen zu „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ und in Teilnehmer von Corona-Demonstrationen sowie Spaziergängen, die sich – in unterschiedlichen Graden – von diesen distanzieren.

Die Protagonisten von „Querdenken" leiten nach aktuellen Angaben des BfV „ihre vermeintliche Bedeutung und Legitimation nicht zuletzt aus dem Umstand ab, dass sie über ihre Kanäle in Sozialen Medien über eine große Reichweite verfügen“.[iii] Wichtig im Zusammenhang der Einstufung von „Querdenken 711“ als Beobachtungobjekt Extremismus ist die Feststellung des BfV aus dem Juni 2022, dass „einzelne Protagonistinnen und Protagonisten der Querdenken-Bewegung […] im Zusammenhang mit Protestaktionen gegen Corona-Schutzmaßnahmen sowie über soziale Medien mittelbar zum Umsturz der bestehenden politischen Ordnung“ aufgerufen haben.“[iv]

Bewertung durch die Verfassungsschutzbehörden

Michael Ballweg, Gründer und Geschäftsführer einer Software-Firma aus Stuttgart, gründete im Frühjahr 2020, am Beginn der staatlichen Corona-Hygienemaßnahmen, "Querdenken 711" als erste regionale Gruppe. Der Zusatz „711“ verweist dabei auf die Telefonvorwahl Stuttgarts (0711). Querdenken ist deutschlandweit in neun Regionen organisiert und hatte zwischenzeitlich 68 Ableger, aktuell spricht „Querdenken 711“ von 48 Ablegern in Deutschland.[v] Auch diese lokalen Gruppen tragen jeweils die Telefonvorwahl im Namen, also zum Beispiel „Querdenken 089 München“.

Als erstes Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) befasste sich das Amt aus Baden-Württemberg mit den „Querdenkern“ und erklärte im Dezember 2020, dass es bei „Querdenken 711“ erste Anhaltspunkte für eine extremistische Bestrebung festgestellt hatte.[1] Der inhaltlichen Begründung des LfV Baden-Württemberg für diese Einstufung von „Querdenken 711“ folgte das BfV in seiner Erläuterung des neu eingerichteten Phänomenbereiches „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ im April 2021.[2] Das LfV Hessen argumentierte am 15. März 2022 auf seiner Website inhaltlich wie das LfV Baden-Württemberg und das BfV.[3]

Weil Querdenken 711 in Baden-Württemberg gegründet wurde und in die Zuständigkeit des LfV Baden-Württemberg fällt, wird dessen Analyse hier kurz ausgewertet. So stellte das Landesamt im Januar 2021 fest, dass der Kernpunkt der Kritik der Corona-Protestierenden Anfang 2020 vor allem die aus ihrer Sicht unverhältnismäßige Beschränkung der Grundrechte durch die Corona-Maßnahmen war. Inzwischen werde dieser Appell jedoch überlagert von einer grundsätzlichen Staatsfeindlichkeit bei führenden Personen der „Querdenken“-Bewegung. Aufgrund der zunehmenden Radikalisierung von „Querdenken 711“ und seiner baden-württembergischen Ableger werden diese seit dem 9. Dezember 2020 vom Verfassungsschutz Baden-Württemberg als Beobachtungsobjekt Extremismus geführt.[vi] Das LfV betonte wiederholt, dass sich diese Beobachtung ausschließlich auf die Organisatoren und deren näheres Umfeld bezieht und nicht auf die große Mehrheit oder gar alle Demonstrationsteilnehmer. Als Begründung für diese Beobachtung führte das LfV unter anderem an, dass führende „Querdenken“-Akteure in Baden-Württemberg sich verstärkt mit bekannten „Reichsbürgern“, „Selbstverwaltern“ und Rechtsextremisten vernetzt haben. Doch „Querdenker“ sind auch durch eigene verfassungsfeindliche Äußerungen aufgefallen, die selbst eine Zugehörigkeit zum extremistischen Milieu – insbesondere mit klaren Bezügen zu „Reichsbürger“-Narrativen – deutlich machen.[vii] Die Gruppierung „Querdenken 711“ mit ihrem regionalen Aktionsraum in Stuttgart und Umgebung hat von Beginn an eine führende Rolle bei den Demonstrationen gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen eingenommen und ist seit 2020 in ganz Deutschland vertreten.[viii] Dabei sei nach Einschätzung des baden-württembergischen Verfassungsschutzes weniger eine Instrumentalisierung von außen erfolgt. Vielmehr kam es zu einer verstärkten Verbreitung extremistischer Inhalte aus dem Organisationsteam der „Querdenken“-Bewegung selbst heraus.[ix] Im Dezember 2020 argumentierte das LfV Baden-Württemberg, dass „Querdenken 711“ gezielt extremistische, verschwörungsideologische und antisemitische Inhalte mit einer legitimen Kritik an den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie“ vermische.[x]

Das BfV führte im Juni 2022 aus, dass wiederholt Kontakte zwischen Angehörigen des Phänomenbereichs „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ und der rechtsextremistischen Szene sowie zu „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ bekannt geworden seien.[xi] Beispielsweise gab ein Mitbegründer von „Querdenken“ dem Magazin „COMPACT“, das vom BfV bis zum Dezember 2021 als Verdachtsfall Rechtsextremismus eingestuft worden war, seither als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft wird, im März 2021 ein ausführliches Interview und nutzte dieses rechtsextremistische Medium als Bühne zur Selbstdarstellung und Einordnung von „Querdenken“ aus seiner Sicht. Das Interview wurde sowohl in der Print-Ausgabe als auch in Form eines einstündigen Videos auf dem YouTube-Kanal „COMPACT TV“ veröffentlicht und erreichte dort über 25.000 Abrufe.[xii]

Einzelpersonen und Gruppierungen aus dem Phänomenbereich der „Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“, darunter „Querdenker“, vertreten kein ideologisch einheitliches Weltbild, das sich eindeutig zu denen anderer Extremismusbereiche abgrenzen lässt. Die deutschen Verfassungsschutzbehörden stellen fest, dass sie eine ständige verfassungsfeindliche Agitation gegen demokratisch legitimierte Repräsentanten und Verantwortungsträger des Staates betreiben, Politikerinnen sowie Politiker und deren Entscheidungen werden verächtlich gemacht, um dadurch das Vertrauen in die demokratisch legitimierten Vertreter der Bundesrepublik Deutschland zu erschüttern. Zur Agitation mit diesen Ideologieelementen kommt hinzu, dass einige Akteure der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“, auch „Querdenker“, eine nicht durch demokratische Mittel angestrebte Absetzung, Inhaftierung oder gar Tötung von Politikern zumindest befürworten.[xiii]

Weitere Ideologieelemente stammen aus Verschwörungserzählungen und Verschwörungsmythen, darunter eine angebliche „geheime jüdische Weltverschwörung“ sowie die QAnon-Verschwörungserzählung. Zu antisemitischen Ideologieelementen kommen Relativierungen des historischen Nationalsozialismus sowie des Holocaust. [xiv]

Gewaltpotenzial – Bewertung durch die Verfassungsschutzbehörden

Bereits Ende November 2021 hatte das LfV Sachsen erklärt, dass die Proteste gegen Corona-Maßnahmen radikalere Züge angenommen hätten. „Die Idee eines gewaltsamen Widerstands gegen demokratische Regeln gehört inzwischen zu den typischen Standardforderungen der Bewegung der Corona-Leugner“, erklärte der Präsident des sächsischen LfV, Dirk-Martin Christian. Weiter führte er aus: „Die regelmäßig wiederkehrende Behauptung der Corona-Leugner, wir lebten in einer de-facto-Diktatur und einem Notstandsregime, das beseitigt werden müsse und gegen das öffentlicher Widerstand legitim sei, muss als Beleg für eine fortschreitende Radikalisierung dieser Bewegung verstanden werden.“[xv] Hierbei betonte er den Einfluss von Rechtsextremisten und „Reichsbürgern“ auf die Corona-Proteste und dass diese immer aggressiver geworden seien. Spätestens mit den gewaltsamen Angriffen auf Polizeibeamte und Journalisten sowie Verbalattacken gegen den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer seien eindeutig „rote Linien“ überschritten worden.[xvi]

Mitte Januar 2022 stellte das BfV fest, dass sich die Organisationsform der Corona-Demonstrationen sehr stark verändert habe. Neben dem Anstieg der Gesamtzahl der Gewalttaten habe sich auch die Radikalisierung einiger Teilnehmer verändert. Diese käme einerseits durch Gewalt gegen Polizeibeamte sowie Medienvertreter und andererseits durch Hassparolen zum Ausdruck.[xvii]

Das BfV beobachtete seit dem Herbst 2021 bei zahlreichen Demonstrationen gegen die Pandemiepolitik eine konfrontative Haltung gegenüber den eingesetzten Angehörigen von Polizei- und Ordnungsbehörden und dass eine gewalttätige Auseinandersetzung mit der Polizei „das Bild eines rigoros agierenden Unrechtsstaates vermitteln und Solidarisierungseffekte in der Mehrheitsbevölkerung auslösen“ sollte.[xviii]

Auffällig ist nach Angaben der deutschen Verfassungsschutzbehörden „die zunehmende Intensivierung des ‚Feindbildes Polizei‘“. Das Anfeinden und Diffamieren der Polizeibeamten dienten dazu, „Gewalt gegen Polizeikräfte als Widerstandsakt zu legitimieren und die Hemmschwelle hierfür sukzessive abzusenken“. Einerseits geschehe dies durch plumpe Schmähungen, andererseits durch die Herabsetzung der Polizei als Vollzugsorgan einer vermeintlichen „Corona-Diktatur“.[xix]

Agitation mit Feindbildern und Dichotomien wie „wir gegen die anderen“ und „wir hier unten gegen die da oben“ erleichtern und befördern die Gewaltanwendung gegen Politiker, Vertreter des Staates wie Polizeibeamte sowie Journalisten und werden von Akteuren der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ propagiert.

Fazit

Ab Ende August 2020 warnten die deutschen Verfassungsschutzbehörden davor, dass im Zuge der „Corona-Proteste“ in Deutschland eine neue Form von Extremismus entstehen könnte. Im Bereich der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ sind sehr unterschiedliche Akteure zu erkennen, darunter Rechtsextremisten, „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sowie „Querdenker“.

In Bezug auf „Querdenker“, ihre Ideologieelemente und ihr Gewaltpotenzial muss präzise differenziert werden, da bei ihren Akteuren und Anhängern eine komplexe, heterogene Mischung aus Radikalismus, Verschwörungserzählungen und -mythen sowie Extremismus verschiedener Ausprägungen vorliegt, bei einzelnen Gruppen und Personen dieser Szene auch eine (deutlich) erhöhte Gewaltbereitschaft.

– Prof. Dr. Stefan Goertz
Hochschule des Bundes, Fachbereich Bundespolizei

Dieser Beitrag stellt die persönliche Auffassung des Autors dar.

 


 

[1] Vgl. im.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse-und-oeffentlichkeitsarbeit/pressemitteilung/pid/querdenken-711-wird-beobachtet/ (3.10.2022).

[2] Vgl. verfassungsschutz.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2021/2021-04-29-querdenker.html (23.8.22).

[3] Vgl. lfv.hessen.de/presse/aktuelles-pressemitteilungen/%E2%80%9Ecorona-proteste%E2%80%9C-auf-dem-weg-von-skepsis-zur (3.10.2022).

[i] Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz (2020): Extremistische und hybride Einflussnahme auf das Demonstrationsgeschehen im Zuge der Corona-Pandemie. BfV-Newsletter Nr. 1+2/2020 – Thema 1.

[ii] Vgl. Bundesministerium des Innern und für Heimat: Verfassungsschutzbericht 2021, Berlin Juni 2022, S. 113.

[iii] Vgl. ebd,, S. 114.

[iv] Ebd.

[v] app.querdenken-711.de/initiatives-directory (3.10.2022).

[vi] Vgl. im.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse-und-oeffentlichkeitsarbeit/pressemitteilung/pid/querdenken-711-wird-beobachtet/ (3.10.2022)

[vii] Vgl. verfassungsschutz-bw.de/,Lde/_Die+Querdenken-Bewegung+_+zwischen+Verschwoerungsmythen+und+Buergerprotest_+_+Teil+2 (3.10.2022).

[viii] Vgl. ebd.

[ix] Vgl. ebd.

[x] Vgl. im.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse-und-oeffentlichkeitsarbeit/pressemitteilung/pid/querdenken-711-wird-beobachtet/ (3.10.2022).

[xi] Vgl. Bundesministerium des Innern und für Heimat: Verfassungsschutzbericht 2021, Berlin, Juni 2022, S. 118.

[xii] Vgl. ebd.

[xiii] Vgl. Ministerium des Innern, für Digitalisierung und Kommunen Baden-Württemberg: Verfassungsschutzbericht 2021, Stuttgart, Juli 2022, S. 68; Bundesministerium des Innern und für Heimat: Verfassungsschutzbericht 2021, Berlin, Juni 2022, S. 112; Senatsverwaltung für Inneres und Sport Berlin: Verfassungsschutzbericht 2021, Berlin, August 2022, S. 26, 31.

[xiv] Vgl. ebd.

[xv] Vgl. welt.de/politik/deutschland/article235365480/Sachsen-Corona-Kritiker-haben-eindeutig-rote-Linien-ueberschritten.html (3.10.2022).

[xvi] Vgl. ebd.; Goertz, S. (2021): Corona-Proteste und extremistische Einflussnahmen. In: Forum Kriminalprävention 4/2021, S. 16.

[xvii] „Corona ist nur der Aufhänger“. Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang über eine neue Szene von Staatsfeinden. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.1.2022, S. 2.

[xviii] Vgl. Bundesministerium des Innern und für Heimat: Verfassungsschutzbericht 2021, Berlin, Juni 2022, S. 115.

[xix] Vgl. ebd.

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