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Salafismus in Deutschland

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Die (neo-)salafistische Bewegung in Deutschland avancierte in den letzten Jahren zu einem der meist diskutierten und umstrittenen Phänomene. Sowohl politische als auch sicherheitsbehördliche Entscheidungsträger glauben einen Nexus zwischen „dem“ Salafismus und dem islamistischen Terrorismus bzw. Dschihadismus ausgemacht zu haben, weshalb die sich selbst auf dem Weg der „frommen Vorfahren“ (al-salaf al-salih) wähnenden Szeneangehörigen als gefährlich und ihre Weltbilder als „geistiger Nährboden des Terrorismus“ gelten. Dabei ist die „Salafiyya-Bewegung“ viel facettenreicher und dynamischer als die anlassbezogene mediale Berichterstattung vermuten lässt.

Obwohl Salafismus und Wahhabismus als Staatsreligion Saudi-Arabiens nicht selten gleichgesetzt werden, lassen sich zugleich historische Unterschiede erkennen, die ob der gegenseitigen Beeinflussung im 20. Jahrhundert nach und nach in den Hintergrund gerieten. Entstand der moderne (Reform-)Salafismus ursprünglich als religiöse Erneuerungsbewegung mit dem Zweck, eine zivilisatorische Antwort auf den gesellschaftlichen Rückstand zu geben und die Vereinbarkeit von Islam und Moderne zu ermöglichen („Nahda“-Renaissance), entwickelte sich das salafistische Erneuerungsprojekt im Zuge der westlichen Kolonialisierung und unter dem Einfluss des Wahhabismus mehr und mehr in Richtung intoleranter und zuweilen gewaltlegitimierender (politischer) Ideologie (siehe auch Wahhabiyya). Mohammad Abu Rumman, Politikwissenschaftler am Center for Strategic Studies an der University of Jordan, unterteilt demgegenüber salafistische Strömungen im 20. Jahrhundert in eine reformistische oder rationale und eine nationalistische, antikoloniale Variante, welche ihren Einfluss mit dem Auftreten der Muslimbrüder und dem Aufkommen der dschihadistischen Gruppen verlören.

Der Verfasser definiert den Salafismus als eine (neo-)fundamentalistische Strömung im sunnitischen Islam mit ihrer spezifischen Art des Zugriffs auf die kanonischen Texte und variablen Strategien zur Durchsetzung der jeweiligen Ziele.

 

Verortung des Salafismus in der sunnitischen Rechtslehre

Der Salafismus lässt sich entlang dreier Dimensionen beschreiben, die diese Bewegung charakterisieren: die Glaubenslehre ('aqida), die Methode der Rechtsfindung (usul al-fiqh) und die Glaubenspraxis (manhaj). Hinsichtlich der ersten zwei Merkmale sind sich alle salafistischen Strömungen relativ ähnlich: Sie betonen strikt die Einheit und Einzigkeit Gottes (tauhid), der allein anbetungswürdig ist, und lehnen rigoros den Polytheismus (shirk) bspw. in Form des Heiligenkults sowie religiöse Neuerungen (bidʿa) als Abweichungen von den paradigmatischen Quellen (Koran und Sunna) ab. Somit scheint der Salafismus – vor allem in seiner modernen Form – die von Muhammad ibn Idrīs asch-Schāfiʿī (767-820) vorangetriebene Zurückdrängung des persönlichen Elements und Einschränkung der rationalen Methoden in der Rechtsfindung an die Spitze getrieben zu haben. Ließen andere Rechtsschulen bspw. die persönliche Meinung (Mitteilung) und/oder das öffentliche Interesse (hanafitische und malikitische Tradition) als Wurzeln des Rechts zu, berief sich Schāfiʿī und die nach ihm benannte Rechtsschule ausschließlich auf vier „objektive“ Kriterien: 1) den Koran, 2) die Sunna, 3) den consensus doctorum (ijmāʿ) und 4) den Analogieschluss. Bereits Ahmad ibn Hanbal (780-855), der Begründer des Hanbalismus, erklärte den Analogieschluss (qiyās) jedoch für unzulässig. Wie ersichtlich, sind auf dem Weg der Zurückdrängung der rationalen Methoden bei der Rechtsfindung praktisch keine Grenzen gesetzt. Und so dauerte es nicht lange, bis Da'ud ibn Chalaf (gest. 884) den Konsens nur für legitim erachtete, sofern er sich auf die Autorität der Prophetengenossen stützte. Andernfalls erkannte er nur den Wortsinn der kanonischen Texte an.

Später geriet die fünfte Rechtsschule der Zahiriten in Vergessenheit – bis sie ihre wahhabitische und neo-salafistische Wiedergeburt erlebte und zur „Schule des Propheten“ avancierte. Im Salafismus verschwimmt zugleich die Grenze zwischen Rechts- und Glaubenslehre. Lediglich der islamische Kanon, der Koran und die Sunna des Propheten, sowie das Vorbild der islamischen Frühgemeinde hat in diesem System Geltung. Statt Rechtsschulen zählt individuelle Auslegung der unverfälschten Überlieferungen. Theologische Wurzeln des Salafismus liegen in einer Auseinandersetzung mit (rationalistischen) Strömungen des Islam im 9. Jahrhundert, bei der es vordergründig um die Theorie der Erschaffenheit des Koran ging.

 

Salafismusarten in Deutschland

Im Hinblick auf die Glaubenspraxis des Salafismus lassen sich unterschiedliche Spielarten identifizieren.

Herkömmlich werden in Anlehnung an Quintan Wiktorowicz drei salafistische Strömungen unterschieden:
  • puristische Salafisten
  • politische Salafisten
  • dschihadistische Salafisten.

Puristische Salafisten gelten als apolitisch und ziehen die Reinigung des Glaubens wie islamischer Riten und Erziehung (tasfiyya sowie tarbiyya) als authentische Methode (manhaj) der al-salaf al-salih vor. Dabei stellen sie die politischen Verhältnisse des jeweiligen Landes nicht direkt in Frage und agieren nach dem bekannten Diktum von Nasir al-Din al-Albani: Die beste Politik sei, jegliche Politik aufzugeben. Die zweite Strömung, die der politischen Salafisten, setzt auf politische – parlamentarische wie außerparlamentarische – Methoden, während die dschihadistischen Salafisten bei der Ablehnung dessen, was neben Allah verehrt wird (kufr bit taghut), eine militante Lösung rechtfertigen. Dschihad-Salafisten sind aber von Dschihadisten zu unterscheiden (Einstellungs-Verhaltens-Ebene). Trotz Kritik argumentieren viele Wissenschaftler in etwa ähnlich, obgleich einige von Quietisten statt Puristen sprechen und auf Schnittmengen zwischen den drei Spielarten hinweisen. Wissenschaftler aus dem arabischen Raum sprechen von einer traditionellen bzw. konservativen oder (in Nordafrika) akademischen Schule des Salafismus, welche sich akademischen (Hadithwissenschaft), pädagogischen sowie missionarischen Zielen verschreibt und in deutlichen Worten von politischen Aktivitäten distanziert, sowie vom aktionistischen und dschihadistischen Salafismus (vgl. Mohammad Abu Rumman). Die aktionistischen Salafisten hielten es demgegenüber für notwendig, das Gebot des Gehorsams gegenüber dem Herrscher zu verwerfen und sich politisch, mit friedlichen Mitteln bis hin zur Teilnahme an Wahlen zu betätigen. Die Dschihadisten verwerfen ihrerseits das Verbot der Auflehnung „mit Wort und Schwert“.

Der Vergleich dieser beiden Klassifikationsschemata zeigt den arabischen Ursprung der etwas missglückten Dreiteilung des deutschen und europäischen Salafismus in puristische, politische und dschihadistische Strömungen. Hierzulande gibt es bspw. keinen politischen Salafismus. Die strategische Allianz deutscher Prediger mit ägyptischen Vertretern dieser Strömung während des „arabischen Frühlings“ rief im deutschen Milieu keine nennenswerte Reaktion hervor. Politische Parteien und Vereinigungen bzw. Verbände der Salafisten in der Bundesrepublik sind noch nicht bekannt. Als „Puristen“ können zugleich alle Salafisten gelten. Eine traditionelle Strömung, deren primäre Motivation ein Verlangen nach Gelehrsamkeit wäre, ist in einer relevanten Größe ebenfalls nicht auszumachen. Ist es aussagekräftig genug, die Spezifika „des“ deutschen Salafismus analog zur arabischen Welt hinsichtlich der Frage der Legitimität (un-)islamischer Herrscher zu bestimmen?

In einer der ersten Abhandlungen über den Salafismus in Deutschland problematisierte Klaus Hummel die Dreiteilung, indem er darauf hinwies, dass sie die „Feinanatomie“ des Salafismus erschwert und zudem Gefahr läuft, dschihadistische Ideologie und dschihadistisches Gewalthandeln analytisch nicht zu unterscheiden. Zum ersten Mal sprach er vom salafistischen Mainstream als sozialer Mitmachbewegung in Deutschland, die sich unterschiedlicher Methoden bedient und seit dem Jahr 2002 ausbreitet. In dieser ersten, arabisch geprägten Phase salafistischer Expansion in Deutschland begannen Prediger arabischer Abstammung wie Hassan Dabbagh alias Abul Hussein und Mohamed Benhsain alias Abu Jamal ihre deutschlandweite Missionsarbeit im Internet (salaf.de, al-tamhid.net, fataawa.de) und auf Islamseminaren, wo größtenteils puristische Glaubensinhalte vermittelt wurden.

Seit Mitte der 2000er Jahre dauert die einheimisch-autochthone („deutsche“) Phase an, die verstärkt von in Deutschland geborenen bzw. aufgewachsenen Predigern mit Arabischkenntnissen und dem kulturellen Hintergrundwissen geprägt ist. Einer der prominentesten Vertreter der einheimischen Predigergeneration, Pierre Vogel, gründete in Kooperation mit Ibrahim Abou-Nagie die Gruppe „Die Wahre Religion“ (DWR, www.diewahrereligion.de), die zahlreiche da’wa-Videos im Internet und auf DVDs verbreitete. Die Thematik der Vorträge ist im Gegensatz zu radikaleren Internetauftritten auf das nicht muslimische Publikum zugeschnitten und kreist unter anderem um die Fragen nach dem Sinn des Lebens, des Vergleichs des Islam mit dem Christentum sowie der Konversion. Die rettende Rolle des Islam im Leben eines jeden Menschen steht im Vordergrund.

Ein Konflikt zwischen Vogel und Abou-Nagie im Jahr 2008, der erst im April 2011 beigelegt wurde, zeigte, dass Letzterer eine radikalere Sicht auf die Frage des takfir (die Praxis des Ungläubigerklärens) vertrat. Auf die Diffamierung „aller Präsidenten“, die nicht mit dem Koran regieren, als „kuffar“ (Ungläubige) reagierte Vogel mit Unverständnis und dem Hinweis, dass damit „die halbe Umma“ zu Ungläubigen erklärt werden kann. Der Streit drehte sich zugleich um die Legitimierung des bewaffneten Dschihad. Nina Wiedl klassifiziert Abou-Nagie und andere Prediger, die den revolutionären Dschihad gegen islamische Herrscher legitimieren, ohne dazu aufzurufen, als „radikale Salafisten“. Claudia Dantschke sprach mit Blick auf die Gruppe von „politisch-dschihadistischem Salafismus“ und später vom „politisch-missionarischen, Gewalt legitimierenden Salafismus“ (1). Auch eine Unterscheidung nach dem Kriterium „legalistisch“/„nicht-legalistisch“ ist denkbar.

Die darauf folgende Allianz Vogels mit dem Absolventen der Islamischen Universität von Medina, Muhamed Ciftci alias Abu Anas, im Rahmen des Da’wa-Projekts „Einladung zum Paradies“ (EPZ) ließ den Ersteren zum „Star“ der Szene werden. Zugleich zog der Aufstieg des salafistischen Populisten mit einem Hang zur Provokation („Marketing“) die Aufmerksamkeit der Behörden nach sich, da ihre größtenteils religiöse Argumentation im Sinne eines „negativen radikalen Flankeneffekts“ mit Extremismus gleichgesetzt wurde (Nina Wiedl). Die einsetzende Repression bewirkte indes zweierlei. Erstens wussten die „Stigma-Aktivisten“ (Klaus Hummel) den Verfolgungsdruck für ihre Anliegen zu nutzen und stimmten das Klagelied über die Verfolgung des Islam in Deutschland an. Zweitens trug das Vorgehen der Behörden zur Erosion der entstandenen Milieugrenzen bei, so dass eine Wiedervereinigung von Vogel und Abou-Nagie, dem Gesicht der umstrittenen, aber nicht unerfolgreichen „Lies!“-Kampagne, wieder möglich geworden ist. Ciftci ging demgegenüber auf Distanz zu Vogel, nachdem er im Mai 2011 ein Totengebet für Usama bin Laden angekündigt hatte.

Im Gegensatz zum salafistischen Mainstream ist der puristische Salafismus in Deutschland weniger sichtbar und wurde bspw. mit einem Netzwerk der Absolventen der Islamschule „Dar al-Hadith“ im Jemen (Dammadsch) in Verbindung gebracht. Die deutschen Puristen haben sich vor allem der Kritik am Mainstream-Aktivismus verpflichtet.

Eine andere Art des Aktivismus betreiben die deutschsprachigen Dschihad-Salafisten bzw. „Pop-Dschihadisten“ (Claudia Dantschke), die im Gegensatz zu „Radikalen“ oder Gewalt legitimierenden Salafisten den Dschihad gegen „unislamische“ Herrscher und den Westen nicht nur legitimieren, sondern auch dazu aufrufen. Der grob vereinfachte Dschihaddiskurs des bekanntesten Ideologen Abu Mohammad al-Maqdisi spielte für die „prominenten“ Vertreter dieser Strömung, Mohamed Mahmoud alias Abu Usama al-Gharib (der „Fremde“) und Denis Cuspert alias Abu Talha al-Almani, eine größere Rolle als theologische Finessen. Dem wegen einer Drohung gegen Österreich und Deutschland abgeurteilten Gründer des deutschsprachigen Ablegers der „Globalen Islamischen Medienfront“ (GIMF), Mahmoud, gelang es nach seiner Haft in Österreich erneut, zu einem der Anführer des „Schreibtischdschihadismus“ aufzusteigen – im 2011 in Solingen gegründeten Netzwerk „Millatu Ibrahim“. Fielen Mahmoud und Cuspert zunächst vor allem durch ihren Verbalradikalismus und ihre propagandistische Überhöhung des militanten Kampfes „auf dem Weg Allahs“ auf, geriet der Verein nach gewaltsamen Auseinandersetzungen im Mai 2012 in Solingen und Bonn in die Schlagzeilen. Auf das Vereinsverbot vom Juni 2012 folgte die Flucht beider Protagonisten nach Ägypten und anschließend – über Libyen – nach Syrien, wo sie ihre Propagandaarbeit fortsetzten und sich von Schreibtischmudschaheddin zu IS-Dschihadisten mit Tötungserfahrung entwickelten. Dass al-Maqdisi den IS scharf kritisierte und sich von der Organisation distanzierte, spielte unterdessen keine Rolle mehr.

Die Beschaffenheit des islamistischen Milieus in Deutschland, seine wechselnden Allianzen und situationsbedingten – gewaltlosen oder gewalttätigen – Aktivismen legen es nahe, die Kategorie des Salafismus nicht über Gebühr zu strapazieren. Das Befürworten von Missionierung, Predigt und Gewaltanwendung etwa ist keine ausschließliche Domäne „des“ Salafismus. Daher ist es notwendig, das radikal-islamische Milieu genauer zu studieren und verhaltensorientierte Ansätze zu implementieren, um Gefahrenanalysen zu betreiben, ohne Radikalisierungsprozesse im salafistischen Mainstream zu befördern (siehe auch Radikalisierungsprozesse).

Dr. Michail Logvinov

(1) Vgl. Claudia Dantschke: „Lasst Euch nicht radikalisieren!“ – Salafi

smus in Deutschland, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.): Salafismus in Deutschland, Bielefeld 2014, S. 171-186.

 

 

Lesetipps:

 

 

 

 

 

 

 

 

  • Mohammad Abu Rumman: Ich bin Salafist, Bonn 2016.
  • Werner Ende, Udo Steinbach (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart, München 2005.
  • Klaus Hummel/Michail Logvinov (Hrsg.): Gefährliche Nähe. Salafismus und Dschihadismus in Deutschland, Stuttgart 2014.
  • Behnam T. Said/Hazim Fouad (Hrsg.): Salafismus. Auf der Suche nach dem wahren Islam. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2014.
  • Thorsten Gerald Schneiders (Hg.): Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung, Bielefeld 2014.
  • Nina Wiedl: The Making of a German Salafiyya, Aarhus 2012.

 

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Felix Neumann

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