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Valéry René Marie Georges Giscard d’Estaing Valéry René Marie Georges Giscard d’Estaing © reuters

Valéry Giscard d’Estaing

Staatspräsident von Frankreich February 2, 1926 Koblenz December 2, 2020 Authon, Département Loir-et-Cher
by Philip Rosin
Mit dem früheren französischen Präsidenten der Republik Valéry Giscard d‘Estaing ist ein überzeugter Europäer und guter Freund Deutschlands gestorben, der als Repräsentant der bürgerlichen Mitte auch zu den Christlichen Demokraten in der Bundesrepublik enge Kontakte unterhielt.

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Valéry René Marie Georges Giscard d’Estaing reuters
Valéry René Marie Georges Giscard d’Estaing

Valéry Giscard d´Estaing wurde am 2. Februar 1926 im damals französisch besetzten Koblenz geboren, wo sein Vater als hoher Zivilbeamter für die französische Armee tätig war. Seine Jugend verbrachte er überwiegend in Paris, wo er zwischen 1940 und 1944 die deutsche Besatzung miterlebte. Nach der Befreiung von Paris beteiligte er sich als Soldat der provisorischen französischen Armee am Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland. Anschließend absolvierte Giscard erfolgreich gleich zwei Pariser Elitehochschulen, die École polytechnique und die École nationale d’administration (ENA), die auf eine gehobene Tätigkeit in der öffentlichen Verwaltung vorbereitete. Im Rahmen seiner Ausbildung war er unter anderem im damals französisch verwalteten Saarland eingesetzt und widmete diesem Thema auch seine Doktorarbeit.

Nach einer kurzen Tätigkeit in der Finanzverwaltung zog Giscard 1956 als Abgeordneter der liberalkonservativen Partei Centre national des indépendants et paysans (CNIP) in die französische Nationalversammlung ein – es war der Beginn einer langen und erfolgreichen politischen Karriere. 1962 wurde Giscard erstmals Finanzminister. Als ein Teil des CNIP Staatspräsident Charles de Gaulle die Unterstützung entzog, hielt Giscard dem General die Treue. Nach Spannungen entließ ihn der französische Präsident 1966 dennoch aus seinem Ministeramt. Mit der Fédération nationale des républicains et indépependants (FNRI) gründete Giscard eine neue politische Partei. Nach dem Rücktritt de Gaulles 1969 unterstützte er Georges Pompidou bei seiner erfolgreichen Präsidentschaftskandidatur. Pompidou war lange Zeit der engste Mitarbeiter de Gaulles gewesen, hatte sich aber im Mai 1968 von ihm entfernt und verkörperte nun eine liberalere Variante des Gaullismus, mit der sich Giscard leichter arrangieren konnte. Von 1969 bis 1974 amtierte er abermals als französischer Finanzminister. Als der seit längerem schwerkranke Pompidou im Jahr 1974 für die französische Öffentlichkeit überraschend im Amt verstarb, kam es zu einem Dreikampf um die Nachfolge. Aus dem Rennen mit dem Gaullisten Jacques Chaban-Delmas, der nach der ersten Runde ausschied, und dem Sozialisten François Mitterand ging Giscard im Mai 1974 als bürgerlich-liberaler Kandidat knapp als Sieger hervor.

Neben anfänglichen gesellschaftspolitischen Liberalisierungen wie der Reform des Ehescheidungsrechts standen vor allem die wirtschafts- und finanzpolitischen Herausforderungen infolge der ersten Ölkrise im Zentrum seiner politischen Aktivitäten. Gemeinsam mit dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt rief er die regelmäßigen Weltwirtschaftsgipfel der wichtigsten Industriestaaten (G7) ins Leben.

Darüber hinaus stand die Europapolitik, weit über das Ende seiner Präsidentschaft im Jahr 1981 hinaus, im Zentrum von Giscards Denken und Handeln. Mit der Einführung des Europäischen Währungssystems (EWS) wurde ein erster Schritt hin zur Einführung einer europäischen Gemeinschaftswährung getan sowie mit der Einführung der Direktwahlen zum Europäischen Parlament die demokratische Beteiligung in der EG gestärkt. Die eigentliche Überwindung der Krise des europäischen Integrationsprozesses gelang jedoch erst in den 1980er Jahren Bundeskanzler Helmut Kohl und Giscards Amtsnachfolger Mitterand.

Bei den Präsidentschaftswahlen des Jahres 1981 verpasste Giscard knapp die Wiederwahl gegen den sozialistischen Kandidaten Mitterrand. Der Historiker René Rémond kommt bei der Bilanz von Giscards Amtszeit zu folgendem Ergebnis: „Unter seiner Führung überdauerte die Fünfte Republik ohne Umwälzungen oder Erschütterungen das kritische zweite Jahrzehnt ihres Bestehens“. Fortan engagierte sich Giscard in der Regionalpolitik und gehörte zu den Mitbegründern des zentristischen Parteienbündnisses Union pour la Démocratie française (UDF), dem sowohl sein liberalkonservativer Parti républicain (PR) als auch der christlich-demokratische Centre des démocrates sociaux angehörte – ein Parteienbündnis, das in etwas dasselbe Spektrum abdeckte wie die deutsche CDU. Außerdem war er zwischen 1989 und 1997 Präsident der Europäischen Bewegung. Als Mitglied des Europäischen Parlaments (1989–1993) führte er die bis dahin verschiedenen Fraktionen angehörenden Mitglieder der UDF in die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), zu der auch CDU und CSU gehören.     

Große Anerkennung fand nach der Jahrhundertwende Giscards Wirken als Präsident des Europäischen Verfassungskonvents. Dabei stimmte er sich eng mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog ab, unter dessen Leitung zuvor eine EU-Grundwerte-Charta erarbeitet worden war. Die Mitglieder des Konvents präsentierten 2003 einen Entwurf für eine Europäische Verfassung. Im selben Jahr wurde Giscard für seine Verdienste um die europäische Verständigung mit dem Aachener Karlspreis ausgezeichnet. In seiner Ansprache ging er auf die historische Dimension des Integrationsprozesses und dessen Gefährdungen ein: „Wir versuchen, Europa mit der Schreibfeder zu vereinigen. Wird der Feder gelingen, was das Schwert letztendlich nicht vermochte? Wird in den Waagschalen der Geschichte die Feder schwerer wiegen als das blutige Eisen des Schwertes?“ Der Europäische Verfassungsvertrag scheiterte schließlich bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden, doch fanden viele seiner Inhalte Eingang in den Vertrag von Lissabon, den die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten 2007 unterzeichneten. Valéry Giscard d’Estaings europäisches Engagement lebt darin fort.

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Dr. Philip Rosin

Philip Rosin

Referent Zeitgeschichte

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