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Sina Schweikle

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"Proteste beeinflussen das fragile Gleichgewicht in der Region"

Malte Gaier und Gregor Jaecke über die Demonstrationen im Libanon und im Irak

Seit Anfang Oktober erschüttern Massenproteste der Bevölkerung das politische System im Irak und im Libanon. Nicht nur in den Hauptstädten gehen Millionen von Menschen für bessere Lebensbedingungen und Zukunftsperspektiven auf die Straßen. Beide Länder stellen sich damit in eine Reihe mit zahlreichen Aufständen weltweit. Warum begehrt die Bevölkerung auf und was haben diese Protestbewegungen gemeinsam? Diesen und weiteren Fragen gehen im folgenden Interview unsere Leiter der KAS-Auslandsbüros Libanon und Syrien/Irak, Dr. Malte Gaier und Gregor Jaecke, nach.

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„Wie kam es zu den Protesten? Zu welchen Maßnahmen greifen die Demonstranten?“

Jaecke (Irak): Die schon lange schwelenden Proteste von Universitätsstudenten und jungen Arbeitslosen wuchsen rund um den Bagdader Tahrir Square im Oktober 2019 stark an. Neben der allgemein schlechten wirtschaftlichen und sozialen Lage war vor allem auch die Degradierung eines durch den Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat berühmt gewordenen und in der Bevölkerung populären Militärkommandanten ein weiterer Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Proteste kamen für die politische Elite des Landes zu diesem Zeitpunkt vollkommen unvorbereitet und sind überwiegend von jungen, schiitischen Männern geprägt – auffällig ist aber auch die Teilnahme von Frauen. Das ist in diesem Kulturraum keine Selbstverständlichkeit. Größter Erfolg der Protestierenden ist bislang das Rücktrittsgesuch des Premierministers Adil Abdul-Mahdi vom 29. November 2019. Zumindest in diesem Punkt sehen wir eine ähnliche Entwicklung wie im Libanon. 

Die Proteste werden landesweit über die sozialen Medien organisiert. Es fehlt den Demonstranten eine Führungsfigur und damit auch ein möglicher Ansprechpartner für die Regierung, um auf die Forderungen entsprechend eingehen zu können, sofern man den politischen Willen dafür voraussetzt. Die Proteste erzielen trotz des gewaltsamen Vorgehens der Sicherheitskräfte große Erfolge hinsichtlich Massenmobilisierung und erreichen nach wie vor einen großen Stillstand des politischen und zum Teil auch wirtschaftlichen Lebens im Irak. Es ist durchaus bemerkenswert, dass die Proteste zumindest bislang nicht entlang konfessioneller und ethnischer Konfliktlinien verlaufen, nicht von bestimmten politischen Organisationen gesteuert bzw. instrumentalisiert werden, sondern quasi aus der Bevölkerung entspringen. Andererseits fehlen aber auch Koordination, eine geordnete Struktur und ein klarer Zeitplan, eine Roadmap, um den Forderungen wirksam Gehör zu verschaffen.

Gaier (Libanon): Der berühmte letzte Tropfen, der die Menschenmassen im Libanon auf die Straße trieb, war die Ankündigung von Steuererhöhungen, darunter auch eine Steuer auf WhatsApp-Anrufe – ein weiterer Versuch in einer Reihe von regressiven Steuererhebungen, die den desolaten Staatshaushalt sanieren sollten. Der Frust der libanesischen Bürger reicht jedoch sehr viel weiter und hat sich über Jahrzehnte hinweg aufgestaut. In erster Linie sind die Proteste sozioökonomisch bedingt: Der Libanon befindet sich in einer tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise. Neben einer der höchsten Staatsschuldenquoten kämpft der Libanon auch mit einer hohen Arbeitslosigkeit insbesondere unter jungen Menschen. Darüber hinaus ist das gesellschaftliche Vertrauen in die politische Elite, die als zutiefst korrupt wahrgenommen wird, tief gesunken. Die Handlungsunfähigkeit des Staates durchzieht alle Bereiche des öffentlichen Lebens: Sie ist über die Jahrzehnte systemischer Teil von Wirtschaft und Verwaltung geworden. Der Libanon hat, so wurde am 17. Oktober deutlich, letztlich den eigenen Systemtest nicht mehr bestanden.

Die Demonstrationen sind insbesondere mit Hinblick auf die tiefen konfessionellen Spaltungen der Gesellschaft bemerkenswert: Sie fanden innerhalb von 24 Stunden eine landesweite und überkonfessionelle Ausbreitung. Erstaunlich ist auch, dass sich die Demonstranten sehr direkt gegen die eigenen politischen Führer wenden; und das mit einer Schärfe, die gerade in den schiitischen, traditionellen Hochburgen von Amal und Hisbollah schon lange nicht mehr zu sehen war. Demonstranten rufen zu zivilem Ungehorsam auf – etwa zu Straßenblockaden – um so das Land zu paralysieren und den Druck auf die Regierung und die politischen Eliten zu erhöhen.

„Welche Forderungen haben die Demonstranten?“

Gaier (Libanon): Die Masse ist über Religion, Alter und Klasse hinweg in einer Forderung vereint: dem Rücktritt der gesamten politischen Elite. „Alle heißt alle“ lautet der allgegenwärtige Ruf, der sich gegen die traditionellen Parteien samt ihrer Bürgerkriegsgeschichte richtet. Als Ersatz wird die Bildung einer technokratischen, unpolitischen Regierung von Experten verlangt. Damit einhergehend wird die allgemeine Abschaffung des Konfessionalismus in der Politik gefordert, der als das maßgebliche Übel für die Krise gilt. Einige Demonstranten fordern darüber hinaus vorgezogene Wahlen und die Erneuerung des Wahlgesetzes.

Zudem fordert man erhöhte Rechenschaftspflicht und Transparenz, darunter in erster Linie die Untersuchung und Rückführung veruntreuter Gelder durch die politische Elite und eine Offenlegung des Bankgeheimnisses. Bedingt durch die Wirtschaftskrise sind auch breite sozioökonomische Forderungen vernehmbar. Unter anderem wird eine fairere Steuerverteilung verlangt, die den Bankensektor und die Elite stärker berücksichtigt.

Jaecke (Irak): Es geht um die Erbringung verbesserter staatlicher Dienstleistungen, vor allem im Bereich der Wasser- und Stromversorgung, um Arbeitsplätze, gute Infrastruktur, kurzum: um die Schaffung von Zukunftsperspektiven, insbesondere für junge Menschen. Dabei ist hervorzuheben, dass 40 Prozent der irakischen Bevölkerung nach 2003 geboren sind, also nach dem Sturz Saddam Husseins. Die herrschende politische Klasse ist allerdings zumeist über 60 Jahre alt. Hier kommt es zu einer tiefen Entfremdung zwischen der überwiegend jungen Bevölkerung und der herrschenden, älteren Elite des Landes. Das hat unter anderem auch die sehr geringe Wahlbeteiligung bei den letzten nationalen Wahlen von nur 44,5 Prozent gezeigt. Es werden zudem von den Demonstranten die alle Lebensbereiche umfassende Korruption und Misswirtschaft sowie die nepotistischen Strukturen angeprangert – der Irak belegt im Transparency International Corruption Perception Index 2018 Platz 168 von 180 und ist damit das weltweit zwölft korrupteste Land. Aus den eben genannten Gründen fordern die Demonstranten über den Rücktritt der Regierung hinaus ein Parlament ohne die bisherigen Parteien, Reformen im Bereich der Wahlgesetzgebung und der Wahlkommission, Neuwahlen unter der Aufsicht der internationalen Staatengemeinschaft sowie die Strafverfolgung korrupter Politiker.

„Wie reagieren die entsprechenden Regierungen auf die Proteste?“

Jaecke (Irak): Die Regierung im Irak antwortet mit Gewalt – das ist auch ein Zeichen von Hilflosigkeit. Bisher werden etwa 400 Tote und rund 14,000 Verletzte verzeichnet. Massenhafte Verhaftungen, die Abschaltung des Internets und das Verschwinden von Aktivisten vervollständigen das Bild. Wir hören von unseren irakischen Partnerorganisationen aus dem Bereich der Zivilgesellschaft erschreckende Berichte von Einschüchterungsversuchen gegenüber Vertretern der Zivilgesellschaft und Journalisten bis hin zu gezielten Tötungen – viele von ihnen sind in der Zwischenzeit in die Autonome Region Kurdistan geflohen. Darüber hinaus werden Medienanstalten von staatlicher Seite dazu aufgefordert, ihre kritische Berichterstattung über die Proteste zu ändern, andere wurden sogar geschlossen. Ich denke, diese drastischen Entwicklungen unterscheiden den Irak in seiner Brutalität von den bisher eher friedlichen Protesten im Libanon. Der Irak läuft Gefahr, die in den vergangenen Jahren mühsam errungenen Fortschritte in den Bereichen Demokratisierung, Stärkung der Zivilgesellschaft und Rechtsstaatlichkeit wieder zu verlieren.

Premierminister Adil Abdul-Mahdi, der als Kompromisskandidat von prowestlichen und proiranischen Akteuren ins Amt gewählt wurde, hatte seit Amtsantritt vor etwa einem Jahr nie die nötige politische Rückendeckung zur Umsetzung von Reformen. Sein angekündigter Rücktritt kann zwar als Erfolg der Demonstranten - quasi als eine Art Etappensieg - gesehen werden, steht aber auch sinnbildlich für die Lähmung des gesamten politischen Systems. Die Eliten des Landes zeigen sich relativ resistent gegenüber den Forderungen der Demonstranten. Gleichzeitig werden beschlossene Reformvorschläge, wie beispielsweise die Senkung des Renteneintrittsalters, die Demonstranten nicht ruhigstellen. Ausführlich diskutiert werden dagegen Verfassungsänderungen und eine Reform des Wahlgesetzes. Aber: Wer den Teich trockenlegen möchte, darf die Frösche nicht fragen, das heißt: Warum sollten Parlamentarier zustimmen, dass es vorgezogene Wahlen gibt, bei denen sie dann möglicherweise ihr Mandat verlieren? Neuwahlen würden zudem nur Sinn ergeben, wenn wirklich neue Gesichter mit neuem Vertrauen antreten würden – realistischerweise muss gesagt werden, dass ein komplett neues politisches System nicht über Nacht entstehen kann. Die Demonstranten haben dennoch keine Geduld mehr und sagen: „Die letzten 16 Jahre wurde uns vieles versprochen und nichts gehalten, warum sollen wir der herrschenden Elite jetzt Glauben schenken?“.

Gaier (Libanon): Im Libanon traf das Ausmaß der Proteste die Regierung und Beobachter, die seit Monaten vor einer krisenartigen Verschärfung der Lage im Land gewarnt hatten, merklich unerwartet. In der ersten 2-tägigen Phase der Proteste antworteten die Sicherheitskräfte noch mit einem harten Ansatz auf die Demonstrationen, der sich aber schnell als Fehltaktik erwies. Angesichts der anhaltenden Mobilisierung kündigte Premierminister Hariri am 29. Oktober seinen Rücktritt an. Bislang wurde noch keine Nachfolgerregierung gebildet. Präsident Michael Aoun hat parlamentarische Konsultationen erst Ende dieser Woche einberufen, die den zentralen Schritt zur Designation des nächsten Premierministers darstellen.

Ein Teil der ehemaligen Regierung und der politischen Parteien haben sich für eine Unterstützung der Proteste ausgesprochen. So haben sich die christliche Partei Lebanese Forces, die ihren Rücktritt aus der Regierung wenige Tage nach dem Ausbruch der Proteste verkündigt hat, und die drusische Progressive Sozialistische Partei hinter die Forderungen der Demonstranten gestellt, während die Hisbollah, Amal und die ebenfalls christliche Partei des Staatspräsidenten Free Patriotic Movement und ihre Verbündeten am Status Quo festhalten wollen und ihrerseits z.T. zu Gegenprotesten aufriefen.

„Was bedeutet das für die Sicherheitssituation vor Ort?“

Gaier (Libanon): Im Vergleich zu anderen Unruhen in der Region oder auch weltweit sind die Proteste im Libanon auffallend friedlich. Dabei herrscht allerdings eine Grundspannung, die vor allem durch die sich graduell verschlechternde wirtschaftliche Lage und die Erwartung eines finanziellen Kollapses angeheizt wird. Die täglich verschärften Bankenrestriktionen, die rapide Abwertung der Landeswährung und die Verschlechterung der Versorgungslage erzeugen eine allumfassende Ungewissheit bezüglich selbst kurzfristiger Entwicklungen. Die politische Führung und die Zentralbank versäumen es bislang, mit zielorientierter Krisenkommunikation dem weiteren öffentlichen Vertrauensverlust in das Bankensystem entgegenzuwirken.

Im Rahmen von Demonstrationen und Straßenblockaden kommt es immer wieder vereinzelt zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. In Einzelfällen kam es auch zu gewalttätigen Konfrontationen mit dem Risiko des Wiederaufbrechens alter konfessioneller Spannungen, die in den genannten Fällen als gezielte Provokationen von Anhängern der beiden schiitischen Parteien Hisbollah und Amal initiiert wurden. Diese Auseinandersetzungen fanden zum Teil in symbolträchtigen Gebieten Beiruts statt, die für viele Libanesen einen direkten Bezug zum 15-jährigen Bürgerkrieg aufweisen - das wiederum schürt Ängste vor einem erneuten Aufflammen konfessioneller Gegensätze.

Jaecke (Irak): Die Sicherheitssituation im Irak und das ohnehin fragile Gleichgewicht in der Region werden durch die Proteste negativ beeinflusst. Der Sicherheitsapparat und die Milizen verlieren durch den brutalen Umgang mit größtenteils friedlichen Demonstranten weiter an Vertrauen in der Bevölkerung. Zur unklaren Gesamtsituation tragen die erst kürzlich in die offiziellen irakischen Streitkräfte integrierten sogenannten Volksmobilisierungseinheiten bei. Sie haben sich insbesondere im Kampf gegen den IS einen Namen gemacht, Experten haben aber keinen Zweifel daran, dass diese Einheiten, die größtenteils ein Eigenleben führen und über große politische Macht verfügen, loyal zu Teheran stehen. Zudem ist unklar, wer hinter den Angriffen auf die Demonstranten und der damit einhergehenden eskalierenden Gewalt auf den Straßen steckt. Die Regierung streitet jede Beteiligung ab, kann die Übergriffe andererseits aber weder aufklären noch verhindern.

Der Amtsverzicht Abdul-Mahdis wird die Situation kaum beruhigen. Im Gegenteil: Der Irak steht aufgrund der ungeklärten Machtfrage vor weiteren nicht zu unterschätzenden Herausforderungen. Dabei ist es auch wichtig im Auge zu behalten, dass durch die mit den Protesten einhergehende Regierungskrise ein Machtvakuum entsteht, das der IS erfahrungsgemäß für sich zu nutzen weiß. Erst kürzlich kam es zu vermehrten Kampfhandlungen und verheerenden Bombenanschlägen durch die Terrororganisation.

„Welche Rolle spielen regionale und internationale Kräfte?“

Gaier (Libanon): Die Massenproteste im Libanon scheinen bislang losgelöst von externem Einfluss der Regionalmächte stattzufinden. Dies ist besonders bemerkenswert, vergegenwärtigt man sich die politische Geschichte des Landes vor und nach der Unabhängigkeit, in der sprichwörtlich jeder der zahlreichen Konflikte zwar lokale Akteure, Auslöser und Triebkräfte aufwies - dabei jedoch immer unter dem direkten oder indirekten Einfluss externer Interessen stand. Insgesamt hat sich die internationale Gemeinschaft bislang wenig zu den Entwicklungen geäußert. Gerade unter den westlichen Partnern des Libanon sind die Massenproteste bereits sehr früh als genuin libanesische Dynamik verstanden worden. Einigkeit besteht unter diesen zum Teil eng historisch mit dem Libanon verbundenen Staaten, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Sicherheit der Demonstranten gewahrt werden soll – auch hatte man zu schnellen und grundlegenden Reformmaßnahmen aufgerufen. 

Jaecke (Irak): Ähnlich wie im Libanon ist der iranische Einfluss im Land sehr offensichtlich. Der Iran hat politisch, wirtschaftlich und auch militärisch viel in den Irak investiert. Er kann und möchte es sich nicht leisten, dass in Bagdad Personen an die Macht kommen, die dem Iran kritisch gegenüberstehen. Aufgrund geopolitischer Machtinteressen muss er weiter an seiner Achse Teheran – Bagdad – Damaskus – Beirut festhalten. Da darf aus iranischer Sicht keinesfalls der Irak „rausfallen“. Es ist für den Nachbarstaat ein mehr als bedrohliches Alarmsignal, wenn schiitische Demonstranten Schilder mit der Aufschrift „Iran raus“ in die Höhe halten und in der heiligen Stadt Nadschaf, nicht nur einem religiösen, sondern auch einem politischen Machtzentrum, das iranische Konsulat angezündet wird. Noch zusätzlich zur Destabilisierung der Region trägt der Konflikt zu den Spannungen zwischen dem Iran und den USA bei.

Der Irak, ein Land, das sich in einer entscheidenden Übergangsphase befindet und ohne Zweifel eine Schlüsselrolle in der Region spielt, muss es schaffen, seine innenpolitische Stabilität ohne Einfluss von außen wiederzugewinnen. Dafür muss es gelingen, aus der Masse der Demonstranten heraus eine Brücke zu reformwilligen Mitgliedern der irakischen Politikelite zu bilden. Nur so können die berechtigten Forderungen der Demonstranten tatsächlich Eingang in die Praxis der irakischen Politik finden.

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