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Reportajes internacionales

Die Ukraine nach den Neuwahlen: Keine einfachen Aufgaben und schwerwiegende Hypotheken

de Nico Lange
Einen Monat nach den vorgezogenen Neuwahlen zum ukrainischen Parlament steht das offizielle Endergebnis fest. Julia Tymoschenko ging aus einer Wahl, die, entgegen anderer Befürchtungen im Vorfeld, den internationalen demokratischen Standards entsprach, als Siegerin hervor. Ihre sehr wahrscheinliche „zweite Chance“ als Premierministerin steht unter dem Vorzeichen anhaltender Verfassungsdiskussionen und ist bereits jetzt mit schwerwiegenden Hypotheken belastet.

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Das offizielle Endergebnis steht fest – Tymoschenko ist Wahlsiegerin

Fast exakt einen Monat nach den vorgezogenen Neuwahlen zur Werchowna Rada hat die Zentrale Wahlkommission am 27. Oktober das offizielle Endergebnis publiziert. Zuvor war eine Klage der Kommunisten wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten bei der Feststellung der Resultate vom Obersten Verwaltungsgericht abgewiesen worden. Damit begann nun endlich auch ganz offiziell der Prozess der Koalitions- und Regierungsbildung. Die signifikanten Veränderungen des Wahlergebnisses gegenüber den Parlamentswahlen von 2006 bestehen im deutlichen Zugewinn des Blocks Julia Tymoschenko um mehr als acht Prozentpunkte auf nunmehr 30,71 Prozent sowie dem erwarteten Abrutschen der Sozialisten unter die Drei-Prozent-Hürde (2,86 Prozent). Damit besitzen die vormals „orangen“ Kräfte BJUT und Block Nascha Ukraina – Selbstverteidigung des Volkes (14,15 Prozent) gemeinsam mit 228 von 450 Mandaten eine knappe Mehrheit von drei Stimmen in der Werchowna Rada der sechsten Legislaturperiode. Die Partei der Regionen blieb mit 34,37 Prozent zwar die stärkste Kraft, kann aber keine Neuauflage der bisherigen Regierungskoalition bilden. Für Janukowytsch und seine Partei kommt das Ergebnis nach den großspurigen Ankündigungen im Vorfeld der Wahlen einer Niederlage gleich. Außerdem sind die Kommunisten (5,39 Prozent) und der Block Lytwyn (3,96 Prozent) im Parlament vertreten.

Tymoschenko erntet die Früchte ihrer intensiven und professionellen Kampagne. Sie wird damit ihrem Ruf als leidenschaftliche Wahlkämpferin mit Revolutionsattitüde einmal mehr gerecht. Mit einer Mischung aus dem gewohnten aggressiven Sozialpopulismus und der überraschenden Aufnahme von Sachthemen wie der Militärreform und den Rahmenbedingungen für ausländische Direktinvestitionen gelang es ihr, von den trägen Kampagnen der anderen Parteien und dem ständigen Verhakeln der Hauptakteure Juschtschenko und Janukowytsch zu profitieren. Die im Vorjahr bereits mehrfach totgesagte Volksunion Nascha Ukraina erwies sich mit einem Wahlergebnis des Blocks Nascha Ukraina – Selbstverteidigung des Volkes von etwas mehr als 14 Prozent als weiterhin relevant und wird in jeder realistisch möglichen Koalition an der Regierung beteiligt sein.

Demokratische Standards durch politisches Patt garantiert

Die Wahlen vom 30. September 2007 wurden insgesamt nach den international gültigen demokratischen Standards durchgeführt. Die im Vorfeld von vielen Beobachtern geäußerten konkreten Befürchtungen über Manipulationsversuche wurden nicht bestätigt. Auch die Mediensituation während des Wahlkampfes stellte sich fast schon vorbildlich dar. Alle wichtigen Parteien verfügten über problemlose Zugänge und erfuhren eine angemessene Repräsentation in der Berichterstattung. Möglich wurde dies jedoch nicht durch unabhängige Institutionen oder ausgewogenen, unabhängigen Journalismus. Vielmehr spiegelt sich das politische Patt der vergangenen Monate nunmehr auch in allen nominell unabhängigen Instanzen wieder. Die Gerichte bis hin zum Verfassungsgericht und die Wahlkommissionen von der Zentralen Wahlkommission in Kiew bis hinunter zu jedem einzelnen Wahllokal sind in der Folge der Dauerkonfrontation mittlerweile paritätisch mit Vertretern der drei großen politischen Kräfte besetzt. Ebenso sind Medienunternehmen und Sendezeiten den Parteien zuzuordnen bzw. werden an diese verkauft.

Die politische Teilung und das Patt zwischen den Hauptakteuren haben als Ergebnis der Krisenzuspitzungen seit dem Frühjahr alle politischen und gesellschaftlichen Bereiche der Ukraine durchzogen. Die Abgesandten der Parteien beaufsichtigen einander und verhindern ein Übergewicht der Gegenseite. Kaum noch ein Sachthema in der Ukraine kann mehr auf der Basis rationaler Argumenten angesprochen werden, kaum ein Gremium kann noch tagen, ohne dass sich stante pede die Konflikstellung „blau“ gegen „orange“ herauskristallisiert. Auf paradoxe Weise erzeugt diese extreme Politisierung aller Institutionen derzeit positive Effekte – so lange sich keine der Seiten durchsetzt und die Balance aufrecht erhalten werden kann. Hier findet sich auch ein klares Argument gegen eine „breite“ Koalition aus Nascha Ukraina und der Partei der Regionen oder die manchmal sogar erwähnte „nationale“ Koalition aller drei großen Kräfte: Gerade die Pattsituation erzeugt derzeit immer wieder die so dringend benötigte Kompromissfähigkeit und garantiert die Einhaltung von Mindeststandards der Fairness. Eine einseitige Mehrheit einer „breiten“ Koalition böte demgegenüber kaum noch Anreize für die Weiterentwicklung der Verfassungsordnung, die Präzisierung demokratischer Spielregeln und die gebotene Klärung der institutionellen Arrangements.

Quälend lange „tote Zeit“ zwischen Wahltag und Regierungsbildung

Während der erst am 21. Oktober gewählte neue polnische Sejm bereits tagt, vermochten es die Parteien der Ukraine bisher lediglich, eine Arbeitsgruppe aufzustellen, die die erste Parlamentssitzung vorbereiten soll. Mit einer konstituierenden Zusammenkunft des Parlaments kann erst ab etwa dem 20. November gerechnet werden. Die unverständliche und quälend lange „tote Zeit“ zwischen Wahltag und Regierungsbildung eröffnet vielerlei Möglichkeiten für Spekulationen, politische Kaffeesatzleserei und für Aussagen einzelner politischer Querschläger, die in den Medien mangels echter Meldungen breit ausgeschlachtet werden. Ohne wirkliche Substanz in der Debatte spekuliert man nunmehr seit Wochen über das Zustandekommen oder Nichtzustandekommen der Mehrheit bei einer Abstimmung für Tymoschenko und das wahrscheinliche Abstimmungsverhalten einzelner Abgeordneter, die Reihenfolge der Abstimmungen für Parlamentssprecher und Premierminister sowie angebliche Hintergrundabsprachen zwischen Juschtschenko und Janukowytsch bzw. Juschtschenko und Industriemogul Achmetow.

Fakt ist, dass der Block Tymoschenko und Nascha Ukraina eine sehr detaillierte Koalitionsvereinbarung erarbeitet haben, die die Grundlage für die gemeinsame Regierungsbildung darstellen soll. Unter den Parteimitgliedern richten sich aktuelle Diskussionen nicht prinzipiell gegen diese Koalition sondern vor allem gegen das Zustandekommen der Vereinbarung. Wieder einmal haben die Führungskreise der beiden Blöcke es versäumt, die Details der Vereinbarung mit den eigenen Parteimitgliedern zu diskutieren und deren Zustimmung einzuholen. Lediglich Ex-Premierminister Jechanurow regte offen eine Koalition mit der Partei der Regionen an, ist mit seiner Position innerhalb von Nascha Ukraina aber weitgehend isoliert.

Regierung Tymoschenko als weitere Interimsregierung?

Es ist nach dem jetzigen Stand trotz der Spekulationen davon auszugehen, dass der Block Tymoschenko und Nascha Ukraina die Regierung mit der Premierministerin Julia Tymoschenko bilden werden. Die Partei der Regionen auf der Gegenseite äußert sich öffentlich zwar immer wieder für eine breite Koalition der „nationalen Einheit“, gibt sich aber bisher absolut gelassen und ruhig. Mehrere Überlegungen spielen hier eine Rolle: Zunächst erscheint auch der Partei der Regionen zumindest eine temporäre Regierung Tymoschenko, die im Westen freundlich aufgenommen wird, als nützlich, um die prioritären Projekte WTO-Mitgliedschaft und Freihandelszone mit der EU voranzubringen, von denen die ostukrainischen Unternehmen stark profitieren könnten. Zum anderen legt auch die sich für den Winter 2007/08 bereits erneut anbahnende Konfrontation mit Russland um Gaspreise und -lieferungen nahe, lieber jemand anderen darüber stolpern zu lassen, als selbst zu dieser Zeit in der schwierigen Verantwortung zu stehen. Schließlich spielen auch die Bestrebungen zur weiteren Stärkung der „jungen“ Donezker um Achmetow und Kolesnikow im Nachgang der Wahlen eine Rolle. Ohnehin geht man in der Partei der Regionen davon aus, dass die Regierungskoalition der „Orangen“, selbst wenn sie zustande kommt, nicht lange hält. Die statistische Halbwertszeit ukrainischer Premierminister von durchschnittlich elf Monaten gibt diesen Überlegungen recht.

Präsident Juschtschenko verkündete in den vergangenen Monaten immer wieder in nebulöser Manier, dass noch „weitere Wahlen notwendig wären, um die Ukraine auf den richtigen Kurs zu bringen“. Viele Beobachter gehen davon aus, dass bereits im Sommer 2008 mit der Verabschiedung von Verfassungsänderungen oder einer neuen Verfassung erneute Wahlen anberaumt werden könnten. Und auch bei Julia Tymoschenko selbst sollte man berücksichtigen, dass sie eine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen 2009 weiterhin im Blick behält.

Keine einfachen Aufgaben und schwerwiegende Hypotheken

Für die neue Regierung der Ukraine liegen bereits zahlreiche schwierige unerledigte Aufgaben auf dem Kabinettstisch. Das betrifft vor allem die Verfassungsordnung als eine der wesentlichen Ursachen der permanenten politischen Krise. Aber auch das reformbedürftige Gesundheitssystem, die korrupte und nicht funktionierende Justiz sowie die vollkommen intransparenten und von Korruptionsschemen durchzogenen Komplexe der Rückzahlung der Mehrwertsteuer, der staatlichen Ausschreibungen und des Energiegeschäfts stehen ganz oben auf der Agenda. Steigende Inflation und Reformstau müssen bewältigt werden, um die wirtschaftliche Entwicklung auf dem bisherigen positiven Kurs zu halten. Mit den schon jetzt sehr hohen Belastungen durch Sozialausgaben und den vollkommen unrealistischen Sozialversprechen des Koalitionsvertrag wurden bereits schwerwiegende Hypotheken aufgenommen. Auch die Bewerbung der Tymoschenko-Partei Batkiwschtschyna um Beobachterstatus bei der europäischen Parteienfamilie der Europäischen Volkspartei – Europäische Demokraten könnte sich für Tymoschenko noch als problematisch erweisen. Zwar kam ihr die Unterstützung durch die europäischen Partner sicher in der Wahlkampagne zugute und werden die EVP-Verbindungen zu zahlreichen christdemokratischen bzw. konservativen Regierungen in Europa von Nutzen sein, allerdings sind mit ihrer EVP-Bewerbung auch Instrumente gegeben, um Kritik an ungewünschten Politiken Tymoschenkos, insbesondere den berüchtigten Reprivatisierungen und möglicher sozialpopulistischer Steuer- und Wirtschaftspolitik anzubringen.

Die Ukraine noch immer auf dem richtigen Weg

Trotz politischer Dauerkrise und der geschilderten zahlreichen Problemfelder ist zu konstatieren, dass die Demokratieentwicklung der Ukraine im Gesamtbild weiterhin eine deutliche positive Tendenz aufweist. Die Serie mehrerer aufeinanderfolgender demokratischer Wahlen und damit verbundener friedlicher Regierungswechsel seit 2004 ist im gesamten GUS-Raum, abgesehen vom Baltikum, einmalig. Sollte die dringende Aufgabe der Fixierung der institutionellen Ordnung und ihre Akzeptanz durch die wesentlichen politischen Kräfte nun endlich bewältigt werden, hat die Ukraine – auch vor dem Hintergrund der positiven Wirtschaftsdaten – nach den Neuwahlen gute Chancen auf schnelle Fortschritte.

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