Die Jahreswende in Genf war von einer widersprüchlichen Dynamik geprägt: Auf der einen Seite waren mehrere internationale Organisationen mit schweren Krisen konfrontiert, auf der anderen Seite wurden vielerorts ehrgeizige Versprechen für die Zukunft gemacht. Bei der WHO dominierte seit Januar der Umgang mit dem Corona-Virus (COVID-19) die Agenda. In der WTO stand die Krise durch die Aushebelung der Streitschlichtungsfunktion im Dezember im Fokus. Doch gab es auch Hoffnungsschimmer: Zumindest vorsichtig positiv fiel das Fazit zum ersten Flüchtlingsgipfel des UNHCR aus. Am Rande von Davos gab es auch positive Signale mit Blick auf die Zukunft der Streitbeilegung bei der WTO – diese sind jedoch mit ausgesprochen großer Vorsicht zu genießen.
Welthandelsorganisation – zwischen Streitschlichtungskrise und Nursultan
Seit dem 11. Dezember ist das zentrale Berufungsorgan („Appellate Body“) der Welthandelsorganisation (WTO) für die Schlichtung internationaler Handelsstreitigkeiten nicht mehr arbeitsfähig, nachdem die USA fortwährend die Ernennung neuer Mitglieder der Berufungsinstanz blockierten. Damit ist die Streitschlichtungsfunktion der WTO ausgehebelt. Diese Entwicklung hatte sich über längere Zeit abgezeichnet. Gleichwohl löste das Scheitern der noch bis zur buchstäblich letzten Minute unternommenen Vermittlungsbemühungen Enttäuschung aus. Wie es nun weitergeht, ist ungewiss. Für Aufsehen sorgten Äußerungen des US-Präsidenten Donald Trump am Rande von des World Economic Forum in Davos im Januar, welche auf die Möglichkeit einer Lösung der Krise in nicht allzu ferner Zukunft nahelegten. In den konkreten Einzelfragen gibt es jedoch nach wie vor Dissens. Das wurde nochmal in einem am 11. Februar veröffentlichten Bericht des US-Handelsbeauftragten Robert Lighthizer deutlich, der einer Abrechnung mit dem Wirken der Berufungsinstanz gleicht und dem Gremium gar die Legitimität absprach.[1] Bis zur Ministerkonferenz in der kasachischen Hauptstadt Nursultan im Juni ist mithin kaum mit einer Einigung zu rechnen. Um dieses Vakuum zu füllen, unterzeichneten die EU und 16 weitere WTO-Mitglieder (siehe Karte) am Rande des Meetings in Davos eine politische Erklärung, eine Überbrückungslösung für die Streitschlichtung zu schaffen, solange bis eine Einigung auf eine reformierte Berufungsinstanz erfolgt.[2] Bemerkenswert: unter den Unterzeichnern sind mit China, Brasilien und Australien einige WTO-Schwergewichte und Nutzer des Streitschlichtungsinstrumentariums der WTO. Allerdings müssen die (schwierigen) Details einer solchen Interimslösung erst noch ausgearbeitet werden.
Zwar ist somit eine Säule der WTO in der Krise, doch gehen die Gespräche in anderen Dossiers unverändert weiter, um in Nursultan einige Ergebnisse präsentieren zu können. Dazu gehört in erster Linie ein erfolgreicher Abschluss der seit über 20 Jahren andauernden Fischereiverhandlungen. Dies wäre aus zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Erstens hatten sich die Staats- und Regierungschefs auf eine Einigung im Jahr 2020 verpflichtet; ein erfolgreicher Verhandlungsverlauf wäre ein wichtiges Zeichen für die Handlungsfähigkeit der WTO. Zweitens wäre auch mit Blick auf die Nachhaltigkeitsagenda ein Abschluss von essentieller Bedeutung im Kampf gegen die Überfischung (Nachhaltigkeitsziel 14 der Agenda 2030). Einige Unterhändler betonen, dass man ohne eine Einigung im Fischerei-Dossier nicht von einem erfolgreichen Gipfel sprechen könne. Ob es einen Konsens geben wird, ist noch offen. Nachdem 2019 Monate wegen eines Postenstreits zwischen mehreren Mitgliedstaaten vergeudet wurden, gehen die Gespräche aktuell zäh voran. Am 6./7. Februar legte die EU gemeinsam mit Taiwan, Japan und der Rep. Korea einen neuen Text vor, der u.a. einigen Entwicklungsländern längere Laufzeiten beim Abbau ihrer Fischereisubventionen zugesteht. Die Reaktionen der AKP-Länder[3], Indien und China waren verhalten positiv, doch die Diskussionen dürften schwierig bleiben. Weitere Themen, die in Nursultan auf der Agenda stehen werden, sind ebenfalls nicht konfliktfrei, etwa die Verlängerung des Moratoriums zum elektronischen Handel. Bei der plurilateralen Initiative zum elektronischen Handel, an der sich nun 82 Mitgliedstaaten beteiligen, ist keine Einigung zu erwarten. Hier wäre bereits eine öffentliche gemeinsame Erklärung der teilnehmenden Länder ein Erfolg. Weitere Themen: kleine und mittlere Unternehmen, das schwierige Dauerthema Landwirtschaft. In vielen dieser Dossiers sind die USA ein konstruktiver Partner; allerdings sorgen Berichte für Unruhe, die Trump-Administration strebe eine Erhöhung der Zollobergrenzen und den Ausstieg aus dem Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen an.
Die kasachische Regierung steht angesichts dieser schwierigen politischen Großwetterlage vor der Herausforderung, bei der Ministerkonferenz nicht nur logistisch eine gute Figur abzugeben, sondern auch in komplexen Dossiers den ein oder anderen Abschluss oder zumindest Verhandlungsfortschritt zu erzielen.
Globale Gesundheit – «COVID-19» im Fokus
Seit Januar 2020 steht «COVID-19» (der offizielle Name des Corona-Virus) im Zentrum: Nachdem die VR China Anfang Januar die ersten Fälle öffentlich machte, entschied die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 30. Januar eine sog. gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite auszurufen (Public Health Emergency of International Concern, «PHEIC»). Grund hierfür war die schnelle Ausbreitung des Virus – auch außerhalb Chinas – und die Bemühung, Länder mit schwächeren Gesundheitssystemen besser zu schützen. Eine solche "gesundheitliche Notlage" tritt gemäß der International Health Regulations (IHR) von 2005 ein, wenn eine Krankheit sich international ausbreitet, wenn sie als ernst, ungewöhnlich oder unerwartet bewertet wird und die Situation sofortiges international koordiniertes Handeln erfordert. Wie die Mitgliedstaaten darauf reagieren, steht Ihnen frei, die WHO hat kein Druckmittel, sie zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen. Wiederholt warnte die WHO und speziell Generaldirektor Tedros Ghebreyesus aber vor zu drastischen Maßnahmen, Fehlinformationen und vor Aktionismus, der unnötig internationalen Verkehr und Handel beeinträchtige. Einigen Ländern wurde vorgeworfen, entsprechende einschränkende Maßnahmen nicht ordnungsgemäß notifiziert zu haben. Gelobt wurde die als besonnen und angemessen eingeschätzte Reaktion Deutschlands. Kritik gab es bei der Sitzung des Exekutivrats der WHO Anfang Februar am fortgesetzten Ausschluss Taiwans durch China vom Informationsaustausch sowie aus WHO-Gremien: Viele Länder (auch Deutschland) mahnten, dass es ungeachtet politischer Fragen keine «weißen Flecken» auf der Präventionslandkarte geben dürfe, die USA und einige kleinere Länder waren in ihrer Kritik besonders deutlich.
Die Zahl der Todesopfer lag Mitte Februar bereits bei über 1800, die Todesrate allerdings noch deutlich unterhalb derjenigen von SARS (damals rund 9%). Bislang äußert sich die WHO sehr zurückhaltend was mögliche Prognosen über die weitere Ausbreitung des Virus angeht, von einer "Pandemie" sprechen ihre Vertreter bislang nicht. Priorität ist, die Ankunft des Virus in ohnehin fragilen Gesundheitssystemen, v.a. in Subsahara-Afrika, zu verhindern. Mithin wurden zuletzt 13 afrikanische Länder mit speziellen Tests zur Entdeckung des Virus ausgestattet.[4] Am 11./12. Februar organisierte die WHO in Genf zudem ein «Global Research and Innovation Forum», bei dem Forscher einen koordinierten Ansatz für mögliche Behandlungen erörterten. Ziel war die Festlegung einer gemeinsamen Agenda für die Erforschung des Virus, seiner Übertragung sowie die Entwicklung von Therapien und Impfstoffen. Derzeit werden rund 30 verschiedene antivirale Medikamente getestet. Klinische Tests für mögliche Impfstoffe könnten wohl bereits ab Anfang April beginnen.
Auffällig war in den vergangenen Wochen immer wieder das ausdrückliche Lob von Tedros Ghebreyesus für die Bemühungen Chinas. Kritische Stimmen werfen ihm vor, zu nachsichtig mit Peking umzugehen, gerade mit Blick auf die Unterdrückung von Berichten über den Virus in den ersten Wochen und fehlende Transparenz. Andere Beobachter loben gerade den «diplomatischen» Ton des WHO-Generaldirektors, der zu einer guten und engen Zusammenarbeit mit China entscheidend beigetragen habe.
Positiv bewertet die WHO die Fortschritte bei der Bekämpfung von Ebola in der DR Kongo: So seien zuletzt nur noch wenige neue Fälle registriert worden. Dennoch beschloss die WHO am 12. Februar, die Klassifizierung als «Gesundheitliche Notlage internationaler Trageweite» vorerst beizubehalten. Noch immer gebe es das Risiko eines Wiederaufflammens der Epidemie. Im Vordergrund stehen Bemühungen zur Stärkung des Gesundheitssystems. Seit ihrem Ausbruch hat die Epidemie über 2000 Menschenleben gefordert.
Derzeit wird in der WHO auch die Zukunft der Notfallvorsorge („emergency preparedness“) diskutiert. Eine der Überlegungen ist die Einführung einer Art Ampelsystem, das mehr Spielraum gäbe, als die aktuelle Regelung, die nur die Möglichkeit der Erklärung einer „gesundheitlichen Notlage“ vorsieht.
Weitere Themen beim WHO-Exekutivrat: Medikamentenpreise, Vorbereitungen für die Weltgesundheitsversammlung im Mai. Am Rande des Exekutivrats der WHO wurde mit dem Belgier Hans Kluge ein neuer Regionaldirektor für Europa gewählt.
Am 25. Januar verstarb unerwartet der 51-jährige WHO-Direktor für Universal Health Coverage, der Australier Dr. Peter Salama.
Erstes Globales Flüchtlingsforum – ein hoffnungsvoller Start
Genau ein Jahr nach der Annahme des Globalen Pakts für Geflüchtete (GFR) am 17. Dezember 2018 durch 181 Staaten der UN-Generalversammlung in New York[5] kamen vom 16. -18. Dezember 2019 rund 3000 Vertreter von Regierungen, internationalen Organisationen, Stiftungen, multinationalen Konzernen, Entwicklungsorganisationen, der Zivilgesellschaft und auch über 70 Geflüchtete zum ersten Globalen Flüchtlingsforum (GRF) in Genf zusammen. Unter den prominenten Gästen im Völkerbundpalast waren u.a. die Staats- und Regierungschefs der Türkei, Pakistans, Costa Ricas und der Dominikanischen Republik. Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi, und UN Generalsekretär Antonio Guterres riefen zu einer entscheidenden Trendwende im neuen Jahrzehnt auf, welche die ca. 70 Millionen auf der Flucht befindenden Menschen, darunter 25,9 Millionen Flüchtlinge langfristig unterstützt.
Das neben Deutschland auch von der Türkei, Pakistan, Costa Rica und Äthiopien organisierte Forum übertraf nach übereinstimmender Einschätzung mehrerer Beobachter die (eher bescheidenen) Erwartungen. Neben der überraschend hohen Teilnehmeranzahl, sorgten auch über 893 Zusagen[6] materieller und technischer Natur, mehr als 10 Milliarden US-Dollar Finanzhilfe sowie 400 Best-Practice-Projekte für eine generell positive Grundstimmung. Sie zielten insbesondere auf einen verbesserten Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt für Flüchtlinge. Positiv überraschte zudem das große Engagement des Privatsektors. Auch wenn einige Staatschefs (Türkei und Pakistan) das Forum erwartungsgemäss für stark gefärbte Erklärungen nutzten, war der Grad der Politisierung insgesamt schwächer als befürchtet.
Die Frage nach der Verantwortungsverteilung zwischen den Staaten blieb jedoch weitgehend ausgeklammert. Bisher tragen ca. 1/4 der 193 UN Mitgliedsstaaten die Hauptverantwortung als Aufnahme- oder Geberländer. Deutschland ist das einzige Land, welches gleichzeitig zu den wichtigsten Aufnahme- und Geberländern zählt. Die Länder der sog. „fehlenden Mitte“ stärker einzubinden, bleibt daher eine der Hauptaufgaben neben der Koordinierung von Humanitärer Hilfe, Entwicklungshilfe und Friedensförderung zur Bekämpfung der Ursachen von Flucht und Vertreibung. Inwiefern den bisherigen Zusagen Taten folgen, werden die kommenden Monate zeigen. Noch bis März wird das Flüchtlingshilfswerk eine erste Analyse der Ergebnisse veröffentlichen, 2021 folgt eine erste Zwischenbilanz. Für 2023 ist das zweite Forum anberaumt.
Menschenrechte
Im Völkerbundpalast sind seit Monaten nicht nur zahlreiche Aufzüge außer Betrieb – die Liquiditätskrise beeinträchtigt auch das Menschenrechtsmandat des Rates, die Mechanismen und Vertragsorgane in erheblichem Maße. So wurden nicht nur Mitarbeiter entlassen und Sitzungen gestrichen, für die diesjährigen Ratssitzungen herrscht auch eine pessimistische Grundstimmung, ob das zu absolvierende Tagungsprogramm in dem vorgegebenen und bezahlbaren Zeitfenster zu schaffen ist. Aber auch die UN-Sondergesandten, welche Menschenrechtsverbrechen weltweit untersuchen; sind in ihrer Arbeit eingeschränkt. So wartet die Untersuchungskommission zu Syrien, welche derzeit auch die Angriffe auf Idlib verfolgt und entsprechende Völkerrechtsverletzungen aufzeichnet, noch immer auf einen Großteil ihrer Gelder. Auf diese Problematik verwies nicht zuletzt auch die am 6. Dezember zur neuen Präsidentin des Menschenrechtsrats gewählte bisherige österreichische UN-Botschafterin Tichy-Fisslberger in einem persönlichen Brief an den UN Generalsekretär. Von ihm wird zu Beginn der Februartagung eine programmatische Grundsatzrede erwartet. Tichy-Fisslberger möchte neben der Stärkung von Frauenrechten, Klimawandel, neue Technologien und globale Migration die Arbeit des Rates einem weiteren Publikum zugänglich machen. Zudem wird sie sich für einen stärkeren Einbezug der Genfer Themen in New York einsetzen.
Zwischen der Ratssitzung im September 2019 und der Sitzung im Februar 2020, fanden zwei Universelle Periodische Staatenprüfungen (UPRs) statt. Seit 2007 unterziehen sich mit diesem Mechanismus alle Ratsmitglieder einer gegenseitigen Prüfung ihrer Menschenrechtssituation basierend auf der UN-Charta, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, den ratifizierten Menschenrechtsabkommen und in einigen Fällen auch dem Humanitären Völkerrecht. Mit Abstand die meisten Änderungsvorschläge erhielt Ägypten, gefolgt vom Iran. Jenseits der routinemäßigen Überprüfungen sorgte die Veröffentlichung eines lange zurück gehaltenen Berichtes für Aufruhr: Am 12. Februar kam das Büro der Hohen Kommissarin für Menschenrechte Michelle Bachelet einer seit März 2016 bestehenden Forderung des Rates zur Erstellung einer Datenbank mit Unternehmen nach, welche in israelischen Siedlungen aktiv sind[7]. Diese Resolution wurde damals mit 32 Ja-Stimmen, keinen Gegenstimmen und 15-Enthaltungen verabschiedet. Die EU – auch Deutschland –, hatte sich enthalten, da eine Datenbank dem umfassenden Problem nicht Rechnung trage. Die israelische Vertretung in Genf verurteilte die Veröffentlichung als diskriminierend, als Unterstützung der „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS)-Bewegung“ und sprach der Hohen Kommissarin die Legitimität ab.
Eine möglicherweise wegweisende Entscheidung hat der UN-Menschenrechtsausschuss am 21. Januar 2020 nach jahrelangen Debatten unter Wissenschaftlern und Politikern zum Status von Klimaflüchtlingen gefällt. Der Ausschuss, welcher die Einhaltung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte aus dem Jahr 1996 sowie seine Zusatzprotokolle überwacht, kam in dem Fall der Klage eines Bürgers der Pazifikinsel Kiribati zu dem Schluss, dass auch der Klimawandel ein Recht auf Asyl begründen kann, d.h. Staaten diese Menschen nicht abschieben dürfen, wenn Leib und Leben bedroht sind[8]. Obgleich diese Klage mit dem Verweis abgelehnt wurde, dass noch immer Maßnahmen ergriffen werden könnten, die das Leben der Bürger auf der Pazifikinsel verbessern, wird die Entscheidung doch als wegweisendes Grundsatzurteil angesehen. Bereits jetzt spielt das Thema von Klimaflüchtlingen eine wachsende Rolle in Genfer Organisationen, v.a. beim Flüchtlingshilfswerk der UN.
Deutschland ist dieses Jahr zeitgleich im UN-Sicherheitsrat und im Menschenrechtsrat vertreten. Neben dem Querschnittsthema Frauenrechte sieht Deutschland das Recht auf Sanitärversorgung und Wasser, den Kampf gegen Menschenhandel und den Schutz der Privatsphäre im digitalen Zeitalter als prioritär an.
Rückschritte im internationalen humanitären Völkerrecht
Seit 1867 bringt das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) regelmäßig seine nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften mit Vertretern der Vertragsparteien der Genfer Konventionen (GK) zusammen, um Weichen für die Zukunft des Humanitären Völkerrechts und für die Humanitäre Hilfe im Allgemeinen zu stellen. Die Debatten auf der vom 9.-12. Dezember in Genf abgehaltenen Konferenz waren überraschend politisiert und für Beobachter alarmierend. Obgleich Resolutionen auch zu neuen Themenbereichen, wie Datenschutz, Klimawandel, mentale Gesundheit oder Pandemien angenommen wurden, stand die klassische Resolution zum Humanitären Völkerrecht[9] stark unter Beschuss. Erstmals in der Geschichte des IKRK musste ein Passus komplett gestrichen werden, welcher die Vertragsparteien unter allen Umständen zur Einhaltung der Genfer Konventionen verpflichtete («ensure respect»). Obgleich die verabschiedeten Resolutionen rechtlich nicht bindend sind, stellen sie doch den Referenzrahmen für Standards der Staatengemeinschaft dar. Beobachter warnen daher, dass das Humanitäre Völkerrecht von mehreren Seiten erheblich unter Beschuss steht und womöglich um mehrere Jahrzehnte zurückgeworfen werden könnte.
Schwierige Mediationsbemühungen
Im Nachgang zur Berliner Konferenz begannen Anfang Februar in Genf die Vermittlungsgespräche zum Libyen-Konflikt im 5+5-Format unter Vorsitz des UN-Sonderbeauftragten für Libyen Ghassam Salamé. Nach wie vor handelte es sich bei der ersten viertägigen Runde nicht um direkte Gespräche. Salamé geht davon aus, dass politische Diskussionen über eine Friedenslösung in Libyen in Genf am 26. Februar beginnen könnten. Beobachter bewerteten die erste Gesprächsrunde zunächst – wenn auch sehr vorsichtig – positiv. Am 18. Februar wurden die Gespräche allerdings vorerst von der international anerkannten libyschen Regierung nach neuen Angriffen auf den Hafen von Tripoli ausgesetzt.
Die Gespräche des Verfassungskomitees für Syrien stocken. Seit der ersten Gesprächsrunde Ende Oktober 2019 fand keine weitere Runde statt. Trotz intensiven Drängens Russlands hat das Lager von Bashar al-Assad wenig bis kein Interesse an ernsthaften Gesprächen und einer auch nur kosmetischen Machtteilung, die am Ende eines solchen Prozesses stehen könnte.
Personalkarussel im Schwung
In einigen Genfer Organisationen herrschen gerade lebhafte Personaldebatten. Einige Beispiele:
Der Kampf um die Nachfolge des scheidenden australischen Generaldirektors der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO), Francis Gurry, ist besonders intensiv. Die VR China schickt mit Wang Binying eine stellvertretende Generaldirektorin der WIPO ins Rennen. Mehrere v.a. westliche Länder sehen ihre mögliche Wahl kritisch, zum einen aufgrund von Zweifeln über ihre Unabhängigkeit von Peking, zum anderen aus Sorge eines zu starken Einflusses Chinas in multilateralen Organisationen. Unter den anderen Kandidaten gilt Daren Tang aus Singapur als aussichtsreich. China, so ist zu vernehmen, betreibt eine sehr offensive Kampagne und wirbt stark um Stimmen aus der afrikanischen Gruppe. Beobachter gehen davon aus, dass die chinesische Kandidatin in die finale Abstimmungsrunde kommt. Über die Nominierung wird am 4./5. März entschieden.
Nach der Ernennung der Direktorin Arancha Gonzalez zur spanischen Außenministerin im Januar 2020 ist die Sambierin Dorothy Ng'ambi Tembo kommissarische Leiterin des Internationalen Handelszentrums (International Trade Centre).
Bereits jetzt bringen sich Kandidaten für die erst 2021 anstehende Nachfolge des Generaldirektors für die WTO, Ricardo Azevedo, in Position: Dazu gehört der Schweiz-Ägypter Hamid Mamdouh. Die afrikanische Gruppe versucht, mit einem gemeinsamen Kandidaten anzutreten; bislang gibt es jedoch keinen Konsens.
Einen Paukenschlag gab es bei UNAIDS: Das durch die neue Exekutivdirektorin Winnie Byanyima (Uganda) Ende letzten Jahres komplettierte weibliche Führungstrio währte nicht lange. So verließ die stellvertretende schwedische Exekutivdirektorin Gunilla Carlsson bereits Anfang 2020 die Organisation. Für Beobachter kam der Schritt überraschend, nachdem Carlsson die Organisation als Interim-Direktorin durch einen Umstrukturierungsprozess geführt hatte.
Kommentar & Ausblick
Früh im neuen Jahr zeichnet sich ab, dass 2020 für die multilateralen Organisationen in Genf zu einer wichtigen Bewährungsprobe werden könnte. Sowohl WHO als auch WTO müssen sich mit Krisen unterschiedlicher Art auseinandersetzen. Gleichzeitig bleiben internationale Normen weiter unter Druck, seien es Menschenrechtsstandards, das humanitäre Völkerrecht, oder die regelbasierte Handelsordnung. Auf Deutschland kommt in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Rolle zu: Zum einen durch seinen Sitz in UN-Menschenrechtsrat, aber auch durch die EU-Ratspräsidentschaft, die auch bei verschiedenen Genfer Themen eine Rolle spielen kann. Mit der Allianz für den Multilateralismus versucht Deutschland, Akzente in ausgewählten Themenfeldern (mit unterschiedlichen Partnern) zu setzen. Für eine Beurteilung des Einflusses dieser noch frischen Initiative ist es indes zu früh. In jedem Fall wird es politische Führung durch Deutschland brauchen, um gegen die Infragestellung etablierter humanitärer und Menschenrechtsstandards zu wirken.
Die zurückliegenden Monate verleiten dazu, allein auf Krisen der globalen Ordnung zu blicken. Nicht vergessen werden sollten die existierenden Hoffnungsschimmer: Sei es aufgrund des Flüchtlingsgipfels oder wegen der Fortschritte in der Verbesserung der Gesundheitssituation in vielen Ländern. Angesichts des 75-jährigen Jubiläums der Vereinten Nationen ist es wichtig, auch kleine Erfolge und die Bedeutung des Ringens um Lösungen herauszustreichen. Was die Erwartung von schnellen Lösungen angeht, lehren die letzten 75 Jahre, dass es Demut braucht – und viel Geduld.
[1] US Trade Representative: Report on the Appellate Body on the World Trade Organization
[2] Pol. Erklärung in Davos, 24.01.2020
[3] Gruppe der afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten
[4] Artikel
[5] Abstimmungsverhalten siehe Karte des Monats Dez. 2019
[6] Zu weiteren Details der Zusagen
[7] Die Resolution A/HRC/RES/31/36 aus dem Jahr 2016 | Der aktuelle Bericht A/HRC/43/71
[8] Die Entscheidung
[9] Die Resolutionen