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Reuters / Eduardo Munoz

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Im Schatten des Krieges – die 77. Generalversammlung der Vereinten Nationen

de Andrea Ellen Ostheimer

Neue Herausforderungen könnten neue Möglichkeiten für Reformen, eventuell sogar des Sicherheitsrates, ergeben.

Seit dem 20. September findet die 77. Generaldebatte in der UN-Vollversammlung statt. Nach zwei Jahren eines Austausches in virtuellen bzw. hybriden Formaten trafen die Staats- und Regierungschefs erstmals wieder persönlich aufeinander. Obgleich erwartungsgemäß der Krieg in der Ukraine und seine globalen Auswirkungen diese Generaldebatte überschatten, wurde in den ersten drei Tagen deutlich, dass mit den neuen Herausforderungen sich auch neue Möglichkeiten für Reformen, eventuell sogar des Sicherheitsrates, ergeben könnten.

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Wo sind die Vereinten Nationen im Bemühen um Frieden in der Ukraine

Gegründet nach dem Zweiten Weltkrieg zur Wahrung von Frieden und Sicherheit findet die diesjährige Generaldebatte der Vollversammlung der Vereinten Nationen im Schatten des Angriffskrieges auf die Ukraine statt.

Für manche Beobachter manifestiert sich in der Handlungsunfähigkeit des Sicherheitsrates, der durch das Veto des Aggressors Russland blockiert wird, das Versagen des Systems Vereinte Nationen.

Dabei übersehen sie allerdings, dass trotz der Konfiguration im Sicherheitsrat und dessen Lähmung, die UN-Generalversammlung bereits in den ersten Tagen des Konfliktes die Aggression Russlands mit einer Mehrheit von 141 (gesamt 193) Staaten verurteilte und den Aggressor wenig später aus dem UN-Menschenrechtsrat ausschloss.

Gespräche zur Beilegung der Kampfhandlungen wurden zwar bislang primär unter der Vermittlung von Staaten wie der Türkei geführt, was Präsident Erdogan auch prominent in seiner Rede vor der Generalversammlung hervorhob. UN-Generalsekretär Guterres schaffte es aber im Tandem mit Erdogan, Russland Zugeständnisse für die Ausfuhr von ukrainischem Getreide abzuringen – Getreide, welches vor allem für die Adressierung der Hungerkrise am Horn von Afrika und zur Lebensmittelversorgung auf dem afrikanischen Kontinent dringend benötigt wird. Inspekteure der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) konnten darüber hinaus die umkämpfte Nuklearanlage in Saporischschja untersuchen.

Unter dem Radar der internationalen Aufmerksamkeit wirken UN-Organisationen federführend und leisten einen weitreichenden Beitrag sowohl bei der Versorgung der Flüchtlinge in Nachbarstaaten oder der intern Vertriebenen, bei der humanitären Hilfe wie auch bei der Dokumentation der weitreichenden Menschenrechtsverletzungen.

Weitet man den Blickwinkel jenseits des Sicherheitsrates wird deutlich, dass Mehrwert und Bedeutung der Vereinten Nationen bei der Lösung globaler Herausforderungen spätestens seit der COVID-19-Pandemie und dem Krieg in der Ukraine hinzugewonnen haben.

Nichtsdestotrotz unterstrich Generalsekretär Guterres einmal mehr in seiner Rede vor der Vollversammlung die Gefahr der Aushöhlung der UN-Charta und ihrer Ideale: „Let’s have no illusions.[…] The United Nations Charter and the ideals it represents are in jeopardy”.

 

Isolation Russlands in den Vereinten Nationen?

In einer für ihn eher ungewöhnlich direkten Art machte Guterres den russischen Präsidenten für die Verletzung der UN-Charta verantwortlich und setzte damit den Ton für nachfolgende Redner. Die Vereinten Nationen als Epizentrum der internationalen Diplomatie sind in der Regel vor allem durch Konsensbemühungen und das Ringen um den kleinsten gemeinsamen Nenner geprägt. Die bei der diesjährigen Generaldebatte zu hörende scharfe Rhetorik wie auch die direkten Anklagen und persönlichen Schuldzuweisungen unterstreichen die aktuelle Ausnahmesituation.  US-Präsident Biden bezichtigte Putin einen totalen Vernichtungskrieg zur Auslöschung des Staates Ukraine zu führen. Sowohl der französische Präsident Emmanuel Macron als auch Bundeskanzler Olaf Scholz warfen Russland einen nicht tolerierbaren Imperialismus vor.

Ohne überhaupt zu beabsichtigen, in New York in Erscheinung zu treten, schaffte Putin es trotzdem während der Generalversammlung die gesamte internationale Aufmerksamkeit zu erhalten. Die in seiner Rede vom 21. September enthaltenen Drohungen eines Einsatzes von Nuklearwaffen sowie die Ankündigung der Blitzreferenden in vier umkämpften Regionen der Ukraine offenbarten erneut das Dilemma des Westens. Die bislang bestehende Geschlossenheit des Westens könnte mit weiteren Eskalationsszenarien Risse erhalten. Die Einsatzbereitschaft von Nuklearwaffen könnte aber auch dazu führen, dass strategische Partner Russlands wie China und Indien sich weiter distanzieren.

 

Lagerbildung wie zu Zeiten des Kalten Krieges?

Die aktuelle UN-Vollversammlung ist allerdings noch stark von einer geostrategischen Lagerbildung, der Westen versus Russland und China und eine damit einhergehende Paralyse (um die Worte des Generalsekretärs zu benutzen) geprägt.

Die Auswirkungen des Krieges auf die globale Ernährungssicherheit, die Energiekrise und deren Auswirkungen auf die Weltwirtschaft dominieren in vielen Debattenbeiträgen, auch des Globalen Südens.

Aber es sind vor allem Debattenbeiträge europäischer Staaten, die sich intensiv mit dem russischen Angriff auf die Ukraine auseinandersetzen.

Die Rede des polnischen Präsidenten Duda konzentrierte sich fast exklusive auf den Krieg im Nachbarland.

Emmanuel Macron widmete die Hälfte seiner 30-minütigen Rede der Ukraine. Bundeskanzler Scholz bedauerte in seiner Rede, dass sich die internationale Gemeinschaft von den ursprünglichen Werten und Zielen der UN-Charta entfernt habe und forderte gemeinsames Handeln ein. Im Kontext dieses Handelns adressierte er auch den Konflikt in der Ukraine.

Mit Blick auf ein Ende des Konfliktes unterstrich er, dass weder die angekündigten Referenden noch ein durch Russland diktierter Frieden akzeptabel sein können und der Wiederaufbau der Ukraine die geschlossene Solidarität erfordern werde. 

Der Fokus des Westens auf die Ukraine kommt nicht überraschend, kontrastiert jedoch mit Beiträgen aus dem Globalen Süden, wo der Angriff Russlands entweder gar nicht thematisiert oder semantisch reduziert wurde. Beobachter der Vereinten Nationen konstatieren bereits seit Wochen eine „Ukraine-Müdigkeit“.

Der Präsident der Demokratischen Republik Kongo sprach zunächst verblümt von Brutstätten der Gewalt und Spannungen in Europa und Afrika. Wenig später fand Felix Tshisekedi hingegen gegenüber Rwanda drastische Worte und warf dem Nachbarn Aggression, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Ostkongo vor.

Der Emir von Qatar wie auch der König Jordaniens adressierten in ihren Reden vor allem den Nahostkonflikt und forderten mehr Engagement der internationalen Gemeinschaft für eine Zwei-Staaten Lösung gemäß des Friedensabkommens von Oslo.

 

Neues Momentum für eine Reform des Sicherheitsrates

Für viele Staaten ist dieser Einschnitt, dieser Wendepunkt in der Geschichte der Vereinten Nationen, auch der Moment, für weitreichende Reformen des Systems zu plädieren.

Afrikanische Präsidenten forderten in ihren Redebeiträgen Mitspracherechte im Sicherheitsrat als ständige und nicht-ständige Mitglieder, Japans Premierminister thematisierte die Reform des Sicherheitsrates, Emmanuel Macron und auch Bundeskanzler Scholz forderten eine Anpassung von Institutionen, um die Stimmen des Globalen Südens zu berücksichtigen.

Selbst die USA, die als Vetomacht bislang beim Thema Sicherheitsratsreform sich eher indifferent zeigte, forderte als Teil ihrer Charmeoffensive gegenüber afrikanischen Staaten nun plötzlich Reformen ein.

Die Forderungen Afrikas gehen allerdings sehr viel weiter. Der senegalesische Präsident Macky Sall, der auch als Präsident der Afrikanischen Union sprach, forderte eine inklusive internationale Ordnung (inclusive global governance), in der Afrika ein Akteur und nicht nur geduldeter Beobachter sein sollte (z.B. Mitgliedschaft in den G20).

 

Antworten auf die Sorgen des Globalen Südens

Die Sorgen des Globalen Südens in Bezug auf die Auswirkungen des Klimawandels griff der Westen direkt auf. Frankreich, Deutschland und die USA versprachen Unterstützung bei der Adressierung des Klimawandels (Verlust & Schadenskompensation) und einer gerechten Energiewende.

Der Bundeskanzler, der erstmals vor der Vollversammlung sprach, schreckte auch nicht davor zurück, das Thema Menschenrechte aufzugreifen und China aufzufordern, die Empfehlungen des Berichtes der Hohen Kommissarin für Menschenrechte zur Situation in Xinjang umzusetzen.

Auch die Verfolgung von Kriegsverbrechen und Deutschlands Unterstützung für den Internationalen Strafgerichtshof wurden in der Rede des Bundeskanzlers hervorgehoben.

Schaut man sich die Forderungen von afrikanischer Seite, speziell von Macky Sall an, so kann man festhalten, dass Frankreich, welches zurzeit ein angespanntes Verhältnis mit den ehemaligen Kolonien hat, sehr viele Zugeständnisse in die Rede von Macron einbaute: Emmanuel Macron sprach von einer neuen Finanzarchitektur für den Süden, einer Reallokation der Sonderziehungsrechte des Internationalen Währungsfonds, die auch von der Afrikanischen Union eingefordert werden.

Auch im Bereich der Terrorismusbekämpfung sprach Macron im Kanon mit Sall, der vom Sicherheitsrat adäquate Mandate und Ressourcen zum Kampf gegen Terrorgruppierungen in Afrika einforderte und an die globalen Dimensionen erinnerte.

 

Wettbewerb um strategische Partner

In einer Zeit, in der strategische Partner wichtiger denn je sind und man dem globalen Einfluss Chinas, aber auch der zunehmenden Präsenz Russlands auf dem afrikanischen Kontinent entgegenwirken muss, ist es wichtig, Interessen des Globalen Südens aufzugreifen.

Allerdings müssen den Worten auch Taten folgen und die Taten müssen entsprechend vermarktet werden, um den Narrativen Russlands und Chinas und deren Verbreitungen unter politischen Entscheidungsträgern und Bürgern entgegenzuhalten.

Ob das Werben des Westens Erfolg haben wird, wird auch davon abhängen, ob das aktuelle Argument vieler Staaten des Globalen Südens, sich nicht in eine neue Blockbildung ähnlich des Kalten Krieges einbinden lassen zu wollen, entkräftet werden kann.

Wie Emmanuel Macron dezidiert festhielt, kann es angesichts der Verletzung der in der UN-Charta enthaltenen Prinzipien der territorialen Integrität und staatlichen Souveränität sowie der nachgewiesenen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit keine Neutralität geben.

Oder wie es der Präsident der neutralen Schweiz, Ignazio Cassis, formulierte: Neutralität bedeutet nicht Indifferenz oder die Abkehr von Solidarität.

 

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Interlocuteur

Andrea Ellen Ostheimer

Andrea Ostheimer

Directrice Dialogue Multilateral Genève

andrea.ostheimer@kas.de +41 79 318 9841

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