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Länderberichte

Kehraus im Parteiensystem, starkes Mandat für neue Parteien

von Dr. Hubert Gehring, Tomislav Delinić, Annik Trauzettel

Wahlen in Tschechien

Jiří Paroubek, als Vorsitzender und Spitzenkandidat der Sozialdemokraten ČSSD in die Wahlen zum Tschechischen Abgeordnetenhaus gestartet, ist erneut leer ausgegangen. Zwar hat seine Partei „arithmetisch gewonnen“, aber eben auch „strategisch verloren“, analysierte der 57jährige Mähre die Wahl nach Bekanntgabe der Ergebnisse (siehe Tabelle im Anhang) am Wochenende.

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In der Tat: Mit 22,08 Prozent liegt seine Partei vor den 20,22 Prozent der Bürgerdemokraten (ODS) von Petr Nečas. Ein Pyrrhus-Sieg: Letztendlich haben beide großen Parteien je über zehn Prozent verloren, und für eine Regierungsbildung reicht es für Paroubek am Ende auch nicht. Es waren die „kleinen Parteien“, die ihn den Sieg gekostet haben. TOP09, die von Karel Schwarzenberg und Miroslav Kalousek im vergangenen Jahr ins Leben gerufene Partei für „Tradition, Verantwortung und Prosperität“ setzte sich mit 16,7 Prozent als dritte Kraft vor die Kommunisten der KSČM (11,27 Prozent).

Noch bemerkenswerter aber war das Abschneiden der völlig neuen und von den meisten Beobachtern als „unbekannte Gruppierung“ eingestufte Partei „Veci Veřejne“ (VV), deutsch „Die öffentlichen Angelegenheiten“. Aus dem Stand katapultierte sich VV ins Parlament und vereinigte 10,88 Prozent der Stimmen auf sich. Obwohl also Paroubeks Sozialdemokraten als nominelle Sieger der Wahlen gelten können, bleibt ihnen mangels ernsthaften Koalitionspartnern wohl erneut nur der Platz auf der Oppositionsbank. Nun wird mit einer Mitte-Rechts Regierung von ODS, TOP09 und VV gerechnet, da der Interims-ODS-Vorsitzende Petr Nečas (nach dem Rücktritt Mirek Topoláneks) eine Große Koalition ausschloss. Erste Verhandlungen der Mitte-Rechts-Parteien fanden bereits am heutigen Sonntag statt. Allerdings könnten zunächst die Sozialdemokraten als stärkste Fraktion den Auftrag zur Regierungsbildung von Staatspräsident Vacláv Klaus erhalten. Dieser verweigerte vorerst eine klare Aussage, kündigte aber an, alle Vorsitzenden der Parlamentsparteien zu sich einzuladen und die Situation zu beraten. Die Wahlbeteiligung lag mit 62,2 Prozent leicht unter der von 2006.

Christdemokraten und Grüne nicht im Parlament

Einfluss auf die Regierungsbildung wurde im Vorfeld den Christdemokraten (KDU-ČSL) eingeräumt. Doch mit 4,4 Prozent reicht es für eine der ältesten Parteien des Landes nicht mehr für den Einzug ins Abgeordnetenhaus. Das gleiche Schicksal ereilte auch die Grünen, die 2006 noch für viele Bürger als „neue Hoffnung“ nicht nur erstmals Mandate erhielten, sondern gleich in die Regierungsverantwortung traten. Sie blieben mit 2,44 Prozent weit hinter den Erwartungen zurück und erhalten nun nicht einmal mehr staatliche Zuschüsse – dafür wären 3 Prozent notwendig gewesen. Darüber darf sich aber die Partei SPO-Z des ehemaligen Premiers Miloš Zeman freuen. Mit 4,33 Prozent schnitt sie überraschend gut ab. Auch die populistisch-provozierende, ehemalige EU-Abgeordnete Jana Bobošikova erreicht das Minimalziel staatlicher Zuwendungen und lässt mit ihrer Partei „Suverenita“ und 3,67 Prozent die Grünen weit hinter sich. Obwohl ihre eigentliche Partei „Delnicka strana“ verboten wurde, konnte sich die extreme Rechte für die Wahlen mit der „Delnicka strana sociální spravedlností“ (Arbeiterpartei der sozialen Gerechtigkeit) aufstellen und erreichte 1,14 Prozent.

Parteivorsitzende treten zurück

Angesichts der schlechten Ergebnisse hagelte es dann am Abend Rücktrittsankündigungen. Den Anfang machte der junge Grünen-Vorsitzende und ehemalige Schulminister Ondřej Liška. Seine Partei steht angesichts des desaströsen Abschneidens nun vor der Zerreißprobe. Miloš Zeman hat für seine Partei durch die nun erreichten staatlichen Zuwendungen zumindest eine Basis für mittelfristige Arbeit aufgebaut. Dennoch kündigte er seinen Rücktritt an. Das Erreichen seines wohl persönlichen Ziels, nämlich dem Sozialdemokraten-Chef Jiří Paroubek einige, für die Regierungsbildung entscheidende Prozente im linken Spektrum entrissen zu haben, genießt der 65jährige Polit-Fuchs ohne Zweifel.

Paroubek wiederum nahm noch am Abend seinen Hut. Vor den Wahlen kündigte er an, jedes Ergebnis „unter 30 Prozent“ sei eine Niederlage für die Sozialdemokraten. Nun gestand er eben diese Niederlage ein („Die Tschechen haben eine Rechtskoalition gewählt“) und trat „aus persönlichen Gründen“ zurück. Er bleibe aber aufgrund seines „starken Mandats in Usti nad Labem“ als Abgeordneter im Parlament. Ob diese Gründe in der Tat so persönlich waren, sei angesichts der bekannten Zähigkeit des Mähren dahingestellt. Analysten stellten sogleich den Zusammenhang her mit der Ankündigung der Senkrechtstarter von VV, „auf keinen Fall mit einer sozialdemokratischen Partei unter Führung Paroubeks“ zusammenarbeiten zu wollen. Somit kann davon ausgegangen werden, dass der eilig zusammengerufene Parteivorstand der ČSSD starken Druck auf den bisherigen Oppositionsführer ausgeübt hat, um die noch letzte verbliebene Minimalchance auf eine Koalitionsbildung mit VV unter Duldung der Kommunisten zu wahren.

Svobodas Mission ist gescheitert

Denn nicht nur die Sozialdemokraten rechneten fest mit einem möglichen weiteren Koalitionspartner – den Christdemokraten. Eisige Stille herrschte derweil am Samstagabend in den bereits gelichteten Reihen der seit der Ersten Republik im Parlament vertretenen KDU-ČSL. Nahezu apathisch kündigte der als Minister in zahlreichen Kabinetten seit der Unabhängigkeit der Tschechischen Republik tätige Cyril Svoboda seinen Rücktritt vom Parteivorsitz an. „Alle gestandenen Parteien haben teils massiv verloren, ob ODS, ČSSD oder auch wir – nur konnten wir den Verlust der entscheidenden Prozente nicht mehr kompensieren“, so der 53jährige Prager, der bei seiner eigenen Kandidatur in Hradec Kralove sogar per Präferenzabstimmung von der Nummer drei auf der KDU-ČSL Kandidatenliste, Jiří Veselý, überholt wurde. Nur knapp konnte sich die KDU-ČSL mit 3,79 Prozent im eigentlich als „Hochburg“ der Christdemokraten bekanten Hradec Kralove vor die starken Außenseiter der SPO-Z (Zeman-Partei) und der „Suverenita“ setzen. Abgeschlagen auf dem sechsten Rang blieb Svoboda mit seiner Partei in diesem Bezirk sogar hinter dem landesweiten Ergebnis seiner Partei.

Christdemokraten vor ungewisser Zukunft

Wie es mit den traditionsreichen Christdemokraten weitergeht, soll ein eilig einzuberufender Parteitag im Juni zeigen. „Die KDU-ČSL bleibt auch nach dieser Niederlage das, was sie war – die einzige christdemokratische Partei Tschechiens“, wies Svoboda Fragen der Medien mit Hinblick auf die Gefahr des Zerfalls der Partei zurück. „Zwar sind wir nicht mehr im Abgeordnetenhaus vertreten, doch wir haben eine Fraktion im Senat und in den Regionen starke Bürgermeister, die tagtäglich hervorragende Arbeit leisten. Darauf aufbauend werden wir die Wähler überzeugen, dass wir eine gute, langfristige Alternative sind.“ Dem erst im vergangenen Mai zum Nachfolger des umstrittenen Jiří Čunek ernannten Svoboda wird aus den eigenen Reihen vorgeworfen, zu stark zentralistisch gewirkt und den konservativen Flügel der Partei vernachlässigt zu haben. Seine Bemerkung, dass die Wahlen, hätten Sie zum zunächst angesetzten Termin im Oktober 2009 (siehe Länderbericht) stattgefunden, sicherlich anders verlaufen wären, ist angesichts der aktuellen Entwicklung nutzlos.

Tschechen nutzen Präferenzstimme

Schon der Wahlkampf hat es gezeigt: Die tschechischen Bürger wollten einen Wechsel – zu lange seien „die immer gleichen Gesichter und Köpfe“ in der Politik aktiv, so des Öfteren in Gesprächen zu hören. Und in der Tat: Blickt man auf die gestrige Rücktrittswelle, ist letztendlich nur der kommunistische Parteichef Vojtech Filip als letzter von den 2006 zur Wahl angetretenen Parteivorsitzenden übrig geblieben. Mirek Topolánek von der ODS stolperte im Vorfeld der Wahlen über ein umstrittenes Interview. Jiří Paroubek, Cyril Svoboda und Ondřej Liška sind gestern zurückgetreten. Und selbst der als Urgestein der tschechischen Politik angesehene Ivan Langer, ehemals Innenminister, ist nicht mehr im Parlament. Der in der Öffentlichkeit umstrittene, noch amtierende ODS-Vize fiel in seinem Heimatbezirk vom ersten auf den sechsten Listenplatz der ODS durch und erreichte somit keines der von der ODS erreichten zwei Mandate – auch hier hatte das Präferenzstimmensystem zugeschlagen.

Das wirbelte nicht nur in Olomouc, sondern landesweit die Parteilisten wie selten zuvor gehörig durcheinander. Tschechienweit führte der allseits beliebte Karel Schwarzenberg (TOP09) mit 46.000 Präferenzstimmen die Liste an. Andere Kandidaten konnten sich dank der persönlichen Wahl der Bürger teils von weit abgeschlagenen Plätzen ein Mandat erkämpfen. So erkämpfte sich der ODS-Abgeordnete Marek Benda vom 17. Listenplatz das sechste und letzte Mandat seiner Partei in der Hauptstadt. Der beliebte südmährische Ex-Hejtman Stanislav Juranek erreichte für seine christdemokratische Partei 15.754 Direktstimmen und ist damit landesweit unter den sieben beliebtesten Politikern. Angesichts des Scheiterns seiner Partei ist das ein Erfolg ohne großen Nutzen, aber vielleicht ein Hinweis auf zukünftige, innerparteiliche Entwicklungen innerhalb der KDU-ČSL nach dem Abtritt Cyril Svobodas.

Mit der Präferenzstimme erhalten die tschechischen Wähler die Möglichkeit, sich deutlich von der parteininternen Liste abzusetzen und ihre persönlichen Favoriten zu wählen. Beobachter sehen im Scheitern von Ivan Langer und im schlechten Abschneiden des Prager Oberbürgermeisters Pavel Bém (ODS) – er fiel vom zweiten auf den vierten Listenplatz – eine Abstrafung seitens der Wähler. Beide wurden in der Vergangenheit von der Öffentlichkeit immer wieder mit umstrittenen Abläufen in der Regierungsarbeit und im Prager Rathaus in Verbindung gebracht. Demgegenüber können sich landesweit weniger bekannte Kandidaten durch regionales Engagement bei ihren Wählern anbieten. Oftmals hatte das bei den diesjährigen Wahlen ein starkes Mandat zur Folge. Es kann also in der Tat in vielen Fällen von völlig neuen Gesichtern auf der ganzstaatlichen Ebene der tschechischen Politik gesprochen werden.

Wer ist Veci Veřejne?

Damit machte in erster Linie die Partei VV Stimmung im Wahlkampf: „Weg mit den Dinosauriern“ und „Wir wollen den Wechsel“ lauteten die Wahlsprüche der nahezu aus dem Nichts entstandenen Partei „Öffentliche Angelegenheiten“. Noch im Sommer letzten Jahres nahezu unbekannt, holt die Partei ad hoc 24 der 200 Mandate im Abgeordnetenhaus und ist nun das Zünglein an der Waage für die Regierungsbildung. Doch selbst nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse und der Klarheit über den Erfolg von VV konnten die in allen Medien aktiven Experten und Wahlkommentatoren kaum etwas zu dieser Partei sagen. Symptomatisch könnte hier ein Interview gelten, bei dem der Reporter den Namen der stellvertretenden Vorsitzenden Kateřina Klasnová zunächst von einem Spickzettel ablesen musste.

Die selbsternannte „Partei der direkten Demokratie“ wird vom ehemaligen Fernsehkommentator Radek John angeführt und sieht sich selbst in erster Linie dem Kampf gegen Korruption verpflichtet. Ironischerweise wird gerade John von Teilen der Bevölkerung mit gerade diesem Thema verbunden. Auch sind die Hintergründe der Partei unklar – neben John sind nur wenige, bekanntere Gesichter in den Kreisen der Partei zu finden. Die Finanzierung ist völlig unklar. Erste Kommentare zur durchaus wahrscheinlich Regierungsbeteiligung der Partei zeugen von Unsicherheit und Zweifeln, ob die 24 VV-Mandate tatsächlich stabil und loyal im Regierungslager verbleiben werden.

John selbst dürfte in der Folgezeit für das ein oder andere, überraschende Interview zur Verfügung stehen. Schon gestern verdutzte er die anwesenden Journalisten mit der Antwort auf die Frage, wer die Partei in möglichen Koalitionsverhandlungen vertreten werde, mit der Antwort: „Meine Parteifreunde in Mähren und Mährisch-Schlesien sollen es mir nicht übel nehmen, aber Koalitionsverhandlungen sind eine Sache, bei der es um Minuten geht. Lange Anfahrtswege können wir uns daher nicht leisten.“ Sein Team werde daher in erster Linie aus Akteuren aus der näheren Umgebung Prags stammen.

TOP09 wird dritte Kraft

Solche Aussagen werden aus Reihen von TOP09 kaum zu hören sein. Miroslav Kalousek, von vielen Beobachtern als „der professionellste Politiker Tschechiens“ gesehen, hat sein persönliches Parteiprojekt zu einem großen Erfolg geführt. Nach seinem Austritt aus der KDU-ČSL formierte er innerhalb kürzester Zeit eine schlagkräftige Partei und gewann mit Karel Schwarzenberg den beliebtesten Politiker Tschechiens für den Parteivorsitz. Angesichts der aggressiven, gegenseitigen Attacken von ODS und ČSSD musste die Partei dann kaum mehr tun, als Ruhe und Stabilität ausstrahlen, um in der Gunst der Wähler zu steigen.

Dass die Partei ins Abgeordnetenhaus einziehen wird, wurde eigentlich nie bezweifelt. Angesichts zwischenzeitlich stagnierender Umfragewerte und der neu aufgekommenen Konkurrenz von VV stellte sich aber die Frage, wie viel vom Kuchen für den ehemaligen Finanzminister Kalousek übrig bleiben würde. Letztendlich wurde es ein großes Stück, das der 59jährige nun genießen wird. Nicht nur, dass TOP09 mit einem überzeugenden Ergebnis von 41 der 200 Mandate eine starke Position im Parlament eingefahren hat, auch, dass sein langjähriger Rivale Cyril Svoboda und die aus Kalouseks Sicht ihn nie wertschätzende KDU-ČSL eine harte Niederlage erfahren musste, dürfte dem Südböhmen Kalousek gefallen.. Nun wird er sich daran machen, die eigenen Reihen von TOP09 zu sortieren und eine geschlossene Mannschaft für die Regierungsverhandlungen aufstellen. Dass er dabei auf das Zugpferd Karel Schwarzenberg setzen wird, der wohl erneut das Außenministerium übernehmen könnte, gilt als sicher, auch wenn beiden nicht gerade die engste Freundschaft nachgesagt wird. Letztendlich verbindet der Erfolg. Und Erfolg hat Kalousek diese Tage allemal. Seine bereits in den ersten Tagen der Existenz von TOP09 geschlossene Partnerschaft mit den in den Regionen sehr beliebten „Unabhängigen Bürgermeistern“ (eine Art „Freie Wähler“) hat sicherlich auch einen großen Teil dazu beigetragen, dass TOP09 „bei den jungen Leuten punkten konnte und diese nicht den Extremisten und Populisten überließ“, wie der Parteivorsitzende Karel Schwarzenberg konstatiert. Dass es der Partei 20 Jahre nach 1989 gelungen ist, die Kommunisten vom dritten Platz zu verdrängen, ist dem 72jährigen dabei eine besondere Genugtuung.

Wähler strafen große Parteien ab

Neben Zemans Partei ist es sicherlich vor allem die Partei VV, die die Sozialdemokraten den Sieg gekostet haben. In der Analyse des Wahlverhaltens der einzelnen Wählergruppen zeigt sich, dass die Sozialdemokraten inzwischen ein nahezu identisches Wählerklientel wie die kommunistische KSČM besitzt. Bei den unter 44jährigen noch weit hinter den Parteien aus dem Mitte-Rechts-Spektrum liegend, stand die ČSSD am Wochenende erst bei den über 44jährigen knapp vor TOP09. Die Wählergruppe der 60+ Wähler gewinnt sie dann klar.

Angesichts des Wahlverhaltens 2006 und der nun neu aufgetauchten Partei VV ist zu vermuten, dass Paroubeks Partei also nicht nur einige Prozente an Zemans SPO-Z, sondern in erster Linie an Radek Johns neue Partei VV verl oren hat. Selbst eine Abwanderung zu TOP09 ist in gewissem Ausmaß, gerade bei jüngeren Wählern, denkbar.

An diese Partei wiederum verlor die ODS massiv Wählerstimmen, so dass beide großen Parteien Tschechiens zweistellige Verluste im Vergleich zu 2006 hinnehmen mussten. „Letztendlich haben sich ODS und ČSSD diese Niederlage selbst zuzuschreiben. Die von beiden in die tschechische Politik eingeführte persönliche Aggressivität kommt bei den Wählern nicht an“, analysierte einer der Wahlgewinner, Radek John, die Ergebnisse.

In der Tat zeigt sich, dass beide großen Parteien mit Verlusten um die zehn Prozent „einen deftigen Denkzettel“ verpasst bekommen haben, so Petr Nečas, Spitzenkandidat und Interims-Vorsitzender der ODS. Der als zukünftiger Premier gehandelte Ex-Sozialminister kündigte „tief greifende Änderungen“ innerhalb der Partei an und dementierte, dass auch er innerparteilich angegriffen werden könnte. Nečas, wie Ivan Langer lange Jahre in den Reihen der ODS aktiv, wird von weiten Teilen der Öffentlichkeit „der alten Garde“ zugerechnet.

Der Gewinner des Prager Bezirks und erster ODS-Partei-Vize, David Vodrážka, forderte in einer ersten Reaktion, dass von den Wählern direkt abgewählte ODS-Vertreter keine bedeutende Rolle in der Partei mehr spielen sollten. Auf Nachfrage der Medien bezog er diese Aussage direkt auf den gescheiterten stellvertretenden Parteivorsitzenden Langer, „den die Wähler nicht mehr wollen“. Es wäre Zeit für einen Umbruch, so der 39jährige weiter. Pavel Bém zog diese Konsequenz bereits und legte den stellvertretenden Parteivorsitz ab.

Wahlkampf von persönlichen Attacken geprägt

Die intensive Plakatierung zum Wahlkampf begann etwa fünf Wochen vor den Wahlen. Viele der Plakate waren anonyme Schmähplakate, die die gegnerische Partei und deren Politiker diffamieren sollen („Nečas pfeift auf den normalen Menschen“, „Es ist Zeit, Paroubek ein Ende zu setzen“). Inhaltliche Auseinandersetzungen kamen dabei meist zu kurz. Tätlichkeiten gegenüber einzelnen Politikern bildeten dabei den Tiefpunkt der aggressiven Wahlkampfführung. So wurde der Sozialdemokrat Bohuslav Sobotka, inzwischen Nachfolger Paroubeks an der Parteispitze, niedergeschlagen. Jiři Paroubek konnte nur knapp einem Gurkenglas ausweichen, das aus Reihen der Zuschauer bei einer Wahlkampfveranstaltung auf ihn geschleudert wurde. Nicht nur hier sah sich Paroubek Angriffen ausgesetzt: Als Reaktion auf die seiner Ansicht nach „einseitige Berichterstattung“ der tschechischen Medien rief der damalige Parteivorsitzende seine Partei dazu auf, drei Wochen vor den Wahlen fünf wichtige und leserstarke Zeitungen und Zeitschriften zu boykottieren und diesen keine Interviews mehr zu geben - Letztendlich sicher eine falsche Entscheidung.

Europa spielt bei Wahlentscheidung keine Rolle

Nicht überraschend gehörten die Themen Europa und Euro-Einführung nicht zu den Fragen, die für die Wähler entscheidend für das Kreuz auf dem Wahlzettel waren. Vielmehr zeigen die Umfragen, dass die Themen Korruption, Bildung und Staatsschulden die dominierenden Kriterien für den Wahlentscheid waren. Gerade recht kamen den Wählern somit die neuen Parteien TOP09 und VV, die mit Argumenten in diesen Bereichen zu Felde zogen. TOP09 wird in erster Linie mit dem Werteorientierten Karel Schwarzenberg und der Finanzkompetenz Miroslav Kalouseks verbunden. Die Partei kündigte bereits bei der Gründung im vergangenen Jahr an, im Falle eines Wahlerfolgs baldmöglichst auch den Kontakt zur Europäischen Volkspartei (EVP) zu suchen. Dass die pro-europäische TOP09 die europapolitische Linie einer möglichen, neuen Mitte-Rechts-Koalition konstruktiv prägen könnte, scheint angesichts des starken Mandats für die Partei denkbar und wünschenswert.

VV wiederum zeigte kaum Interesse an europäischen Fragen, konzentrierte sich vollends auf innenpolitische Themen und ist nun am Zuge, die großen Versprechen des Wahlkampfes in die Tat umzusetzen.

Die Suche nach neuer, alter Ruhe

Beide Neu-Parteien aber haben eines gemeinsam: Ihre Vorsitzenden, Karel Schwarzenberg für TOP09 und Radek John für VV, schossen in den Beliebtheitsskalen der Umfrageinstitute gleich nach Gründung ihrer jeweiligen Parteien in nahezu unbegreifbare Höhen. Zeitweise wurde der bisher nie als Politiker tätige TV-Moderator Radek John (vielleicht vergleichbar mit einer Mischung der deutschen Moderatoren Waldemar Hartmann und Reinhold Beckmann) mit bis zu 45 Prozent Zustimmung als bestens für den Posten des Premierministers geeigneter Kandidat bejubelt. Die Tschechen suchen also nach der Zeit der Beamtenregierung von Jan Fischer und der Konfrontation von ČSSD und ODS nach einem guten, neuen Anführer, der die Ruhe der technokratischen Regierung Fischers weiterführen soll. Ob dies mit Radek John, Karel Schwarzenberg und Petr Nečas der Fall sein wird, bleibt abzuwarten.

Demokratie lebt vom konstruktiven Disput

Dass solch eine Ruhe in der tschechischen Politik aber überhaupt wünschenswert ist, darf angezweifelt werden. Eine Demokratie lebt vom Disput, von Argumenten, von Schärfe, aber auch von Kompromissen. Regierung und Opposition, selbst die Parteien der Regierungskoalition für sich, müssen Druck aufbauen und Alternativen anbieten. Der Wettbewerb der Ideen macht schließlich eine pluralistische Demokratie aus – dies gilt auch für Tschechien. Eine Beamtenregierung kann das nicht leisten, so sehr die tschechische Öffentlichkeit die vermeidliche Ruhe zu Zeiten der Regierung Fischer vielleicht geschätzt hat.

Die Wahlen vom Wochenende machen eines deutlich: Das Parteiensystem, das zwischenzeitlich als stabilisiert galt, ist stark ins Wanken geraten. Von den fünf zuletzt im Parlament vertretenen Parteien sind zwei Regierungsparteien an der fünf Prozent Hürde gescheitert. Die zwei größten Parteien sind angesichts großer Verluste mit einem blauen Auge davon gekommen. Nahezu aus dem Nichts entstandene Parteien schafften dagegen nicht nur den Sprung ins Abgeordnetenhaus, sondern erkämpften sich mit zweistelligen Ergebnissen sogar gute Ausgangspositionen für eine starke Regierungsbeteiligung.

Das allein sollte als Warnung für die sogenannten „etablierten“ Parteien herhalten, in Zukunft nicht nur mit Attacken auf den Gegner oder inhaltslosen Phrasenkampagnen aufzutreten, sondern die Probleme beim Schopf zu fassen und konstruktive Arbeit zu leisten. Für die ODS könnte die jetzige Legislaturperiode in dieser Hinsicht die Bewährungsprobe sein. Die christdemokratische KDU-ČSL hat die frühzeitigen Warnzeichen unterschätzt und geht nun schweren Zeiten entgegen.

Eine Übersicht mit den exakten Wahlergebnissen sowie der Sitzverteilung finden Sie in dem pdf-Dokument oben.

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