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La France en déclin – Frankreich im Abstieg

von Dr. Norbert Wagner
In meinem Bericht vom 1. Oktober zur schwierigen Rentrée politique für Premierminister Jean-Pierre Raffarin habe ich über die in Frankreich heftig geführte Diskussion geschrieben, ob sich das Land in einem unaufhaltsamen Abstieg befinde. Verschiedene renommierte Autoren haben in Büchern und Artikeln diese These aufgestellt und teils detailliert belegt. Auf diese Thesen haben zahlreiche Politiker natürlich sehr heftig reagiert. Die Debatte beherrscht nun zahlreiche Fernsehsendungen und die Meinungsseiten der Zeitungen und Zeitschriften.

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Am 2. Oktober 2003 hat John Vinocur, Pariser Korrespondent der International Herald Tribune, die wesentlichen Inhalte einiger dieser Bücher skizziert und damit einen ausführlichen Überblick der aktuellen Diskussion gegeben.

Wegen der besonderen Bedeutung dieser Debatte in Frankreich folgend eine Übersetzung des Artikels.

„Frankreich taumelt, behaupten die intellektuellen Kreise im Land - französische Intellektuelle beklagen den Einflußverlust Frankreichs in Europa

Paris: Hier macht sich das Gefühl breit, Frankreich sei als europäische Macht nicht mehr ernst zu nehmen.

Das Neue daran ist nicht die Thematisierung dieser Vorstellung, sondern dass erstmals seit fünfzig Jahren weite Teile des französischen Establishments den raschen Machtverfall Frankreichs als Realität empfinden.

Besonders schmerzhaft und hervorstechend, sicherlich auch besonders ehrlich ist, dass eine Reihe von französischen Intellektuellen zunehmend die These zu akzeptieren scheinen, dass Europa Frankreichs Leadership nicht möchte und Frankreich diese führende Rolle auch nicht verdiene.

Mehrere aktuelle Bücher, von denen drei auf der Bestsellerliste stehen, befassen sich mit dem Unvermögen und der Starrheit des Landes und – nach Auffassung der Autoren - dem Anteil Frankreichs an der Spaltung der westlichen Gemeinschaft und an der Zerrüttung der potentiellen europäischen Einigkeit.

Die Bücher mit Titeln wie „Frankreich im Abstieg“ oder „die französische Arroganz“ sind gnadenlos in ihren Vorwürfen, Frankreich führe einer von Phantasterei bestimmte völlig ineffiziente Außenpolitik und stünde am Rande des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Bernard Poulet spricht in seinem Buch „le Pouvoir du Monde“ (Die Macht der Zeitung Le Monde) von der Implosion der Zeitung, die als Spiegel des Establishments gilt und vom Symbol der Redlichkeit zum selbsternannten „universellen Mentor und Großinquisitor“ mutiert. Oder Alain Finkelkraut, der in seinem Essay „Au nom de l’autre“ (Im Namen des Anderen) eine neue Art des Antisemitismus anprangert, der in Frankreich stärkere Auswüchse habe als anderswo in Europa.

Alle zusammen projizieren das Bild eines niedergehenden Frankreichs, das sich von seiner glänzenden Vergangenheit verabschiedet hat, unfähig ist, Gefolgschaft oder Treue zu entfachen und bar jeglichen humanistischen und konstruktiven Zukunftsprojekts dahintreibt.

Das Buch „La France qui tombe“ (Frankreich im Abstieg) von Nicolas Baverez ist momentan die Nummer 2 auf der Bestsellerliste der Zeitschrift l’Express und Gegenstand ungewöhnlicher Beachtung.

Der praktizierende Rechtsanwalt und Wirtschaftswissenschaftler Baverez, der im Pariser Establishment einen festen Platz einnimmt, behauptet, Frankreichs Führungsschicht hasse jegliche Veränderung. Für ihn „ werden der Status Quo und Starrheit kultiviert“, mit stillschweigendem Einverständnis von Politikern, Beamten und Gewerkschaftsführern aus der bürgerlichen und linken Elite. Seiner Beschreibung nach sind sie im wesentlichen darauf bedacht, das gescheiterte Statistensystem zu wahren, das ihre Jobs und ihren Status schützt.

Das Auftreten der Amerikaner in der Welt irritiert ihn zwar (er bezeichnet die Vereinigten Staaten als unilateral, imperial und unberechenbar, gleichzeitig aber auch als flexibel und änderungsfähig), das Scheitern der französischen Politik betreffend den Irak und Europa – der Versuch, den Vereinigten Staaten ohne Gegenleistung standzuhalten und das restliche Europa zur Gefolgschaft zu zwingen – bedeutet für ihn jedoch „die Krönung des Prozesses des Niedergangs der Nation“, der Frankreich immer stärker in die diplomatische Isolation treibt“.

Baverez behauptet, die französische Diplomatie hätte einen Keil in die westliche Welt getrieben und wolle durch ihr arrogantes Abkanzeln der neuen Demokratien Europas den amerikanischen Unilateralismus auf europäischem Niveau imitieren. Frankreich habe sich systematisch in Kritik geübt und statt konkreter Vorschläge theoretische Plädoyers für eine multipolare oder multilaterale Welt vorgetragen.

In Europa, so Baverez, sei Frankreich in Diskredit geraten, weil es eine signifikante Übertragung von Souveränität an die europäischen Instanzen abblocke, an seinen Vorteilen innerhalb der Agrarpolitik festhalten wolle und die Richtlinien und Verordnungen der EU-Kommission mit Mißachtung strafe.

Damit nicht genug. Baverez sagt, Frankreich hätte den noch verbleibenden Rest einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ausradiert, die Gemeinschaft in eine tiefe Spaltung und sich selbst in die Minderheit getrieben. Frankreich ist seiner Auffassung nach am Rande der Marginalisierung in Europa und der Welt, wegen „seiner verbalen Vorgaukelei echter Macht, die in keinem Verhältnis zu seinem Einfluß oder seiner Handlungsfähigkeit steht.“

Diese Behauptungen sind eigentlich nicht neu. Allerdings werden sie jetzt von einer respektierten Persönlichkeit des Establishments aufgestellt, die „aus dem Bauch des Ungeheuers“ spricht. Die Resonanz in der nationalen Diskussion war enorm.

Ausländische Journalisten, die nicht dem Druck des Establishments ausgesetzt sind, haben über die Jahre sämtliche von Baverez vorgebrachten Argumente ebenso formuliert, ohne die öffentliche Debatte auch nur im Geringsten zu beeinflussen.

Während der Kampagne für die Präsidentschaftswahl wurde der Niedergang Frankreichs hauptsächlich von Jacques Chirac angesprochen, wobei diese Äußerungen im wesentlichen als politische Spitzen gegen die sozialistische Jospin-Regierung interpretiert wurden.

Heute reagiert Chiracs Lager mit Empörung auf die Vorwürfe, die Regierung sei zu feige und inkompetent, um grundlegende Probleme zu lösen.

Baverez’ dichte, mit zahlreichen Fakten belegte Argumentation, unterstützt von den anderen Büchern, die Frankreichs Dünkel und Hochmut mit brutaler Respektlosigkeit behandeln, hat jetzt der Vorstellung von Frankreichs Niedergang die Legitimation, Plausibilität und Realität verliehen, die bislang in der öffentlichen Diskussion fehlte.

Alain Duhamel, der wohl am wenigsten umstrittene politische Kommentator des Mainstreams, lobte Baverez dafür, „eine legitime Diskussion über ein Thema ausgelöst zu haben, das eine Diskussion tatsächlich verdient: Frankreichs Niedergang“. Er sagte, es sei „ein wunder Punkt im nationalen Unterbewußtsein getroffen worden, der ein intellektuelles Getöse verursacht habe“.

Duhamel, ein glühender Verfechter einer möglichst begrenzten Souveränitätsabtretung, damit Frankreich die EU zur Umsetzung der eigenen weltweiten Ambitionen nutzen kann, hat ebenfalls gerade ein Buch veröffentlicht, dessen Titel sich mit „Verwirrungen Frankreichs“ übersetzen läßt. Duhamel bestätigt darin, dass Frankreich keine Zugkraft mehr für Europa besitzt, er betont jedoch auch, dass andererseits Europa ohne Frankreich keine Fortschritte machen kann.

Selbst „Le Monde“, die Frankreichs Ambitionen bzw. die Verzweiflung über gescheiterte Ambitionen normalerweise mit einem Versagen Europas gleichsetzt, machte kürzlich einige wenige Andeutungen über den Ansehensverlust Frankreichs in Europa.

Der ehemalige Chefredakteur der Zeitung Daniel Vernet schrieb: „Wir irritieren unsere Partner oftmals wegen unserer sehr ausgeprägten Tendenz, ihnen unsere Meinung aufoktroyieren zu wollen oder als echte europäische Positionen nur die zu akzeptieren, die in Übereinstimmung mit der französischen Betrachtungsweise sind, selbst wenn sie eine absolute Minderheit darstellen.“

Für Vernet führte dies zu einem ausweglosen Dilemma. „Die europäischen Partner wollen nichts von einer Europapolitik ohne die Vereinigten Staaten hören“, schreibt er. „Frankreich muß deshalb entweder alleine handeln und trotz aller Gegenbehauptungen bleibt sein Einfluß gering. Oder aber Frankreich bemüht sich um einen gemeinsamen Nenner mit seinen Partnern, dann muß es seine nationalen Ambitionen aufgeben.“

Selbst Chirac hat möglicherweise ein Zeichen gegeben, dass er die neue Betrachtungsweise der realen Handlungsmöglichkeiten Frankreich versteht. In seinen zwei großen Reden über die Weltpolitik seit der Sommerpause unterließ er jegliche Bezugnahme auf die Multipolarität, die Frankreichs Vorstellung von einer Welt konkurrierender Pole entspricht, wobei Europa als rivalisierender Pol gegen die Vereinigten Staaten auftreten soll.

Der Tenor der Diskussion wird auch von den anderen Büchern bestimmt, die eine Ergänzung zu Baverez’ These liefern und das Bild eines Landes zeichnen, das die Orientierung verloren hat.

In „Ouest contre Ouest“ (West gegen West) von André Glucksman, der zu den wenigen französischen Intellektuellen gehört, welche die Position ihres Landes im Irakkrieg kritisierten, wird Frankreich als eine Nation beschrieben, die auf die Attentate vom 11. September mit Panik reagiert und versucht hat, fern von allen internationalen Realitäten eine sterile Biosphäre zu schaffen.

Das Buch ist ebenfalls ein Bestseller und stellt die Behauptung auf, dass diese Flucht vor der Konfrontation den Versuch beinhaltete, zwei gegensätzliche Vorstellungen der westlichen Welt zu schaffen: ein ruhiges, vor Selbstmordattentaten sicheres Europa und ein kriegsähnliches, imperialistisches und autistisches Amerika.

Glucksman vertritt die These, dass die Zukunft nicht durch die Frage nach Hegemonie oder Multipolarität entschieden wird, die in ihrer Begrifflichkeit die anscheinende Besessenheit der Chirac-Regierung mit den Vereinigten Staaten und den Wunsch, die Amerikaner zu konterkarieren, verkörpern, sondern durch die Frage Zivilisation oder Nihilismus und ob der Westen vereint kämpfen würde, um die Zivilisation zu schützen.

Glucksman glaubt, dass Frankreichs Führung Rußland in ihr Projekt gegen die Vereinigten Staaten einbeziehen wolle und Frankreich Rußland im Gegenzug die Wiederherstellung seines verlorenen Prestiges und Gewichts versprach.

„Was ist der Vorteil für Frankreich“, fragt er. „Frankreich kann weiter schlafen. Rußland muß die Amerikaner im Zaum halten und die islamistischen und östlichen Horden fernhalten. Die Vereinigten Staaten haben dann die Aufgabe, weltweit den Kampf gegen die Risiken zu führen, die wir vermeiden wollen. Paris wird sich dabei die Rolle vorbehalten, stellvertretend für alle die Welt zu lenken. Besteht durch die Initiative des Elysée-Palastes der Euro-asiatische Block erst einmal, wird Washington auf seinen Platz verwiesen und kann nicht mehr ausscheren.“

Diese Analysen stimmen mit den von Romain Gubert und Emmanuel Saint-Martin in dem Buch „L’Arrogance Française“ vertretenen Ansichten überein. Die Kapitelüberschriften – „Wie Frankreich Europa verlor“ und „narzisstische Blindheit“ – veranschaulichen gut die These des Buches, dass die französische Außen- und Europapolitik von der „obsessiven Sorge um den Status Frankreichs und dem Terror angesichts seines Niedergangs“ geleitet wird.

Für die Autoren besteht die größte Arroganz Frankreichs darin, so zu tun, als würden die Weltgemeinschaft und seine Partner in Europa nicht begreifen, dass die französische Regierung die „EU als Mittel nutzt, um seinen Einfluß wiederherzustellen und seine verlorene Macht zurückzuerobern.“

Aus dieser Perspektive betrachtet – selbst wenn die Autoren von „L’arrogance française“ dies nicht ausdrücklich sagen - kann man die Politik Frankreichs in der Irakfrage als zeitweilige Instrumentalisierung Deutschlands verstehen, um die Vorherrschaft in Europa wiederzuerlangen – wobei dieser Versuch von der überwiegenden Mehrheit der Nato- und EU-Partner richtig analysiert und durchkreuzt wurde.

Tatsache ist nun, dass mehrere Monate später, nach Schwedens Nein zum Euro (teilweise weil sich Frankreich nicht an die wirtschaftlichen Leistungskriterien hält, die zur Förderung der Glaubwürdigkeit des Euro auch von Frankreich festgelegt wurden) und der wahrscheinlichen Aufteilung der EU in Gruppen mit mehreren Geschwindigkeiten ohne auch nur den Anschein einer gemeinsamen Außen- oder Verteidigungspolitik, Frankreich mit leeren Händen dasteht.

Das inhaltliche Fazit dieser „von einheimischen Autoren für die Franzosen in französisch geschriebenen“ Bücher besteht darin, den Franzosen aufzuzeigen, dass die gegenwärtige Einschätzung der Sachverhalte in Frankreich nicht irgend eine franzosenfeindliche Erfindung von draußen ist, sondern die Wahrheit im eigenen Land verkündet wird.

Für Baverez besteht die Gefahr, dass Frankreich in der Diplomatie zu einem Museum und in der Wirtschaft zu einem Transitzentrum verkümmert. Will es sich dagegen wehren, muß zuerst eine innere Wiederbelebung erfolgen und die Abkehr von dem „sozialen Statistenmodell“, wie er es bezeichnet, eingeleitet werden.

Fortschritte können nur erzielt werden, wenn die dominierende Rolle des „öffentlichen Sektors, der jenseits aller Forderungen nach Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit angesiedelt ist“, beendet wird.

Dann müssen seiner Meinung nach auch die anderen Bereiche der französischen Politik nach der Maßgabe einer echten Integration in Europa reformiert werden.

Er empfiehlt eine Schocktherapie, einen Gewaltmarsch in Richtung Modernität, wobei eine Konfrontation mit den französischen Interessenverbänden nicht ausgeschlossen werden darf, und die Beendigung der „unheilvollen Kontinuität“ von François Mitterrands und Jacques Chiracs Präsidentschaft in einer Art zorniger Immobilität.

Für Baverez und die meisten anderen Autoren, die jetzt die Aufmerksamkeit der Nation erregen, ist die Realität der Gegenwart für Frankreich sehr hart.

„So lautet Baverez’ Schlußfolgerung: "Frankreich wird von der demokratischen Vitalität und dem technologischen Vorsprung der Vereinigten Staaten überholt, von China und Asien industriell und kommerziell unter Druck gesetzt und sein Niedergang beschleunigt sich ebenso schnell wie der tiefgreifende weltweite Wandlungsprozeß."

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2. Oktober 2003
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