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Neue politische Perspektiven für die Türkei durch die Regierungskrise

von Dr. Wulf Eberhard Schönbohm
Seit zwei Monaten ist Ministerpräsident Bülent Ecevit schwer krank, wird ausschließlich von seiner Frau Rahsan Ecevit betreut, die auch den Zugang zu ihm kontrolliert und entscheidenden Einfluss auf Bülent Ecevits Entscheidungen hat. Bei seinen wenigen Aufttritten in der Öffentlichkeit demonstriert er seine Schwäche und Hinfälligkeit. Alle Forderungen nach Rücktritt hat Ecevit bisher entschieden zurückgewiesen.

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Hintergründe der Regierungskrise

Seit zwei Monaten ist Ministerpräsident Bülent Ecevit schwer krank und lebt in seinem Privathaus oder im Krankenhaus, ausschließlich betreut von seiner Frau Rahsan Ecevit, die auch den Zugang zu ihm kontrolliert und entscheidenden Einfluss auf Bülent Ecevits Entscheidungen hat. Der Ministerpräsident kann keine Kabinettssitzungen durchführen, er hat an den Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrates nicht teilgenommen, er tritt praktisch nicht mehr in der Öffentlichkeit auf und wenn, dann demonstriert er seine Schwäche und Hinfälligkeit. Alle Forderungen nach Rücktritt hat Ecevit bisher entschieden zurückgewiesen. Selbst als neun wichtige Abgeordnete aus seiner Partei austraten, um der Forderung nach seinem Rücktritt und nach Einberufung eines außerordentlichen DSP-Parteikongresses zur Wahl eines neuen Vorsitzenden Nachdruck zu verleihen, hat dies Ecevits Haltung nicht geändert.

Die türkische Regierung war nicht handlungsfähig, denn der Ministerpräsident war schwer krank und die Dreier-Koalition aus DSP, MHP und ANAP war wegen des Widerstandes der MHP gegen entscheidende, von der EU geforderte Reformen blockiert. Als Folge dieser politischen Situation stiegen die Preise und die Zinsen, stürzte die Börse und der Kurs der türkischen Lira ab.

Die politische Szenerie kam am 8. April in Bewegung durch den überraschenden Rücktritt des stellvertretenden DSP-Ministerpräsidenten Özkan auf Druck von Ecevit, obwohl Özkan seit über 10 Jahren ein enger vertrauter Ecevits gewesen war, im Hintergrund die Fäden zog und so die Koalitionsregierung funktionsfähig hielt.

Der wahre Grund für diese unerwartete Entlassung kommt aber in diesen Tagen heraus: Özkan soll zusammen mit Außenminister Cem und Wirtschaftsminister Dervis (angeblich unterstützt von Yilmaz) die Bildung einer neuen Regierung geplant haben, einer Regierung (ohne die MHP und ohne Ecevit) mit Außenminister Cem an der Spitze. Der Plan war, eine neue Regierung zu bilden aus der Cem-DSP, ANAP und DYP, toleriert von der islamischen AKP.

Der AKP-Vositzende Erdogan hat dies inzwischen allerdings bestritten. Als Ecevit dies erfuhr, entließ er Özkan. Mit Özkan verließen aber bis heute ca. 48 DSP-Abgeordnete die Partei, und dieser Aderlass hält noch an. Gleichzeitig trat Außenminister Cem am 10. Arpil zurück und kündigte am 12. April die Gründung einer neuen Partei an, die er zusammen mit Özkan und Wirtschaftsminister Dervis (parteilos) gründen wolle. Ecevit forderte auch Wirtschaftsminister Dervis zum Rücktritt auf, woraufhin dieser sein Entlassungsgesuch einreichte, das aber aufgrund der Intervention von Staatspräsident Sezer von ihm wieder zurückgenommen wurde, weil dieser (wohl zu Recht) befürchtete, dass mit dem Rücktritt von Dervis die türkischen Finanz- und Aktienmärkte zusammenbrechen könnten.

Obwohl Dervis bis zum Ende der Regierung Wirtschaftminister bleiben wird, wird er trotzdem die Kooperation mit Özkan und Cem zur Bildung einer neuen Partei fortsetzen. Dies hat nun der MHP-Vorsitzende Bahçeli zum Anlass genommen, um Dervis zum Rücktritt aufzufordern. Daraufhin hat Ecevit sein Verbleiben im Amt von dem Dervis's abhängig gemacht.

Neue politische Perspektiven

So chaotisch und krisenhaft diese Ereignisse auch erscheinen mögen, die türkischen Finanzmärkte reagierten darauf positiv. Denn nunmehr tun sich neue politische Perspektiven für die Entwicklung der Türkei auf. Jetzt stehen sich deutlich zwei politische Richtungen gegenüber.

Auf der einen Seite die MHP, unterstützt von wichtigen Teilen in der Bürokratie und im Militär, mit einem Kurs, der die Aufnahmekriterien der EU für die Türkei nicht akzeptiert oder nicht voll erfüllen will; dazu gehören auch wichtige Teile der DSP, denn mit der Berufung von Sükrü Sina Gürel zum stellvertretenden Ministerpräsidenten und auch zum Außenminister, der ein Falke in der EU- und Zypernpolitik ist und der Ecevits skeptische Haltung in diesen Fragen deutlich artikuliert, wird in der Koalition eher die MHP gestärkt.

Auf der anderen Seite stehen die modernen, westlich orientierten und dynamischen Politiker Cem und Dervis, während Özkan eher der Partei-Manager und Organisator ist mit guten Kontakten in die Bürokratie. Diese neue politische Partei unter der Führung der Troika Cem, Dervis und Özkan könnte als sozialdemokratische Partei auf klarem Europakurs neue Attraktivität gewinnen. Die ANAP unter Mesut Yilmaz, die DYP unter Çiller und die AKP unter Erdogan stehen ebenfalls für einen proeuropäischen Kurs.

Nunmehr sind folgende künftige Entwicklungen denkbar: Ein Szenario für die künftige Entwicklung sieht folgendermaßen aus: Die neu gegründete Partei der Troika, die durch die zahlreichen Überläufer von der DSP und durch den Zulauf von unabhängigen Abgeordneten und ggf. auch anderen Parteien gestärkt wird, stürzt zusammen mit ANAP und DYP die Regierung Ecevit über ein Misstrauensvotum und bildet eine neue Koalition mit ANAP, DYP und ggf. auch der AKP. Dies würde aber nur möglich sein, wenn Staatspräsident Sezer die Bildung dieser Regierung unterstützte und z.B. Cem und nicht MHP-Chef Bahçeli den Auftrag für die Regierungsbildung gäbe, vorausgesetzt, die jetzige Koalitionsmehrheit im Parlament ginge verloren.

Schon jetzt hat die Regierungskoalition nur noch 286 Stimmen, 276 Stimmen sind die absolute Mehrheit. Aber auch über den Koalitionsaustritt der ANAP wird spekuliert, wobei die MHP angeblich auch mit der DYP über deren Regierungsbeteiligung an Stelle der ANAP verhandelt. Die neue Regierung wird die erforderlichen Reformen im Hinblick auf die Kopenhagener Kriterien realisieren, also die Todesstrafe abschaffen und die kurdische Sprache in den elektronischen Medien sowie Kurdischunterricht zulassen. Ggf. wird sie noch weitere politische Reformmaßnahmen im Sinne der EU-Kriterien verabschieden.

Gleichzeitig könnte die Regierung die noch erforderlichen Beschlüsse zur Stabilisierung des Wirtschaftsprogramms, das zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds erarbeitet wurde, umsetzen.

Damit erhofft sich die Türkei die Chance, bei dem EU-Gipfel in Kopenhagen am 12. Dezember diesen Jahres einen Termin für den Beginn der Beitrittsverhandlung zu erhalten, was angesichts der schon seit Jahren laufenden Beitrittsverhandlungen mit Rumänien und Bulgarien legitim wäre. Und dann könnten die vorgezogenen Parlamentswahlen im Frühjahr nächsten Jahres stattfinden.

Im Augenblick liegt ein Antrag der MHP für Neuwahlen am 23. November vor, während die ANAP Wahlen im September vorschlägt und die AKP im Oktober. Die ANAP fordert eine Sondersitzung des Parlaments, auf der über die umstrittenen EU-Reformen und den Neuwahltermin entschieden werden soll. Wenn sich aber die genannten Parteien unter Cem zu einer Koalition vereinigen sollten, dann würde diese neue Regierung neues Vertrauen gewinnen und der Ruf nach Neuwahlen könnte nachlassen, falls die neue Regierung die angedeuteten Reformen auch entschlossen umsetzt.

Das andre Szenario für die Entwicklung sieht dagegen folgendermaßen aus: Die Regierung Ecevit kann ihre parlamentarische Mehrheit halten und weitere DSP-Austritte stoppen. Ecevit hat in einem langen TV-Interview am vergangenen Freitag, in dem er bemerkenswert konzentriert wirkte, noch einmal betont, dass er nicht zurücktreten werde und hoffe, die MHP von einer Neuwahl im Frühjahr nächsten Jahres überzeugen zu können. Acht neue Minister und Staatsminister sind als Folge der Rücktritte bereits berufen worden. Falls die MHP ihren Widerstand gegen die von der EU geforderten Reformen aufgeben sollte, könnte dies der Regierung politisch Luft verschaffen. Aber dafür gibt es bisher keine Anzeichen.

Erste Streitigkeiten gibt es auch bereits in der geplanten neuen Partei von Cem über die Frage, ob sie auch konservative Abgeordnete von anderen Parteien aufnehmen solle oder nur ehemalige DSP-Abgeordnete, ob sie also eine sozialdemokratische Linkspartei oder eine zentristische Sammelpartei sein wolle. Und ob diese neue Partei organisatorisch stark genug wäre, um bei Wahlen erfolgreich abzuschneiden, ist auch noch unklar. Cem hat sich heute für einen möglichst späten Wahltermin ausgesprochen, um Zeit für den Parteiaufbau zu gewinnen. Das türkische Parlament befindet sich schon seit 14 Tagen in den Sommerferien. In den nächsten Tagen und Wochen wird sich entscheiden, zu welchem Termin es zurückgerufen wird und für welchen Neuwahltermin es sich entscheidet.

Noch ist alles offen

MP Ecevit hat am Wochenende den früheren, sehr populären Innenminister Tantan (ANAP) zu einem Gespräch empfangen, was hier Aufsehen erregt hat. Tantan war auf Druck von Yilmaz als Minister ausgeschieden und aus der ANAP ausgetreten. Er soll wichtige Akten besitzen, die Korruptionsvorwürfe gegen die ANAP beweisen. Das Gespräch wird nun so interpretiert, dass Ecevit Yilmaz damit drohen will, mit diesen Beweisen in die Öffentlichkeit zu gehen, falls die ANAP aus der Koalition ausscheiden sollte.

Im übrigen wird hier jetzt ein weiteres Szenario diskutiert: Falls Ecevit seine Regierungsmehrheit verliert und sich keine andere Regierungsmehrheit bildet, könnte Staatspräsident Sezer auch eine Übergangsregierung bis zu den Neuwahlen berufen, in der alle Parteien vertreten sind. Also noch ist alles offen.

In jedem Fall lässt sich feststellen, dass durch die geschilderten Ereignisse die türkische Politik gezwungen wird, eine politische Grundsatzentscheidung zu fällen über ihren künftigen EU- und Reformkurs. Und das ist gut so. Es bleibt festzuhalten, dass der EU-Beitritt seit 3 Jahren das entscheidende politische Thema, ja der rote Faden für alle Reformbemühungen in der Türkei ist. Dies zeigt, wie wichtig und positiv die EU-Mitgliedschaftsperspektive für die Türkei und deren Entwicklung ist. Falls doch noch, in welcher politischen Konstellation auch immer, rechtzeitig vor dem EU-Gipfel in Kopenhagen die entsprechenden Reformen realisiert werden sollten, wäre es für die Türkei verheerend, wenn der EU-Gipfel der Türkei trotzdem keinen Termin für die Beitrittsverhandlungen geben würde. Dabei weiß jeder, dass die Beitrittsverhandlungen sicherlich viele Jahre, vielleicht sogar ca. 10 Jahre, dauern würden.

Der MHP-Vorsitzende Bahçeli hat übrigens den Wahltermin November damit begründet, dass man nach der deutschen Bundestagswahl wisse, wer dort die Regierung stelle und dann könnten sich die EU-Ambitionen der Türkei gegebenenfalls ohnehin erledigen. Deutschland wäre also wieder einmal ausschlaggebend für die Türkei.

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Sven-Joachim Irmer

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