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Länderberichte

Pattsituation im neuen Parlament

von Dr. Manfred Lohmann, Henri Bohnet
[Ukraine] Mehr als sechs Wochen nach der Parlamentswahl vom 31.März 2002 fand am 14.Mai die konstituierende Versammlung der Werchowna Rada (WR) statt. Seither sind trotz pausenloser Verhandlungen der Führungen der sechs im Parlament vertretenen politischen Kräfte die Fraktionen bisher außerstande gewesen, eine Mehrheitskoalition zu bilden und sich auf die Besetzung der wichtigsten Parlamentsposten zu einigen.

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Mehr als sechs Wochen nach der Parlamentswahl vom 31. März 2002 fand am 14. Mai die konstituierende Versammlung der Werchowna Rada (WR) statt. Seither sind trotz pausenloser Verhandlungen der Führungen der sechs im Parlament vertretenen politischen Kräfte die Fraktionen bisher außerstande gewesen, eine Mehrheitskoalition zu bilden und sich auf die Besetzung der wichtigsten Parlamentsposten zu einigen. Die Wahl des Parlamentspräsidenten und seiner beiden Vertreter insbesondere ist von zentraler Bedeutung für die Arbeit der WR in der neuen Legislaturperiode. Interessenkonflikte verlaufen zwischen den einzelnen Fraktionen, vor allem aber auch innerhalb den beiden größten, der pro-präsidentiellen "Einheitlichen Ukraine"(EU -früher "Für die Einheit der Ukraine") und "Unsere Ukraine"(NU) unter Juschtschenko. Somit ist die Bildung einer arbeitsfähigen Mehrheit in der WR in nächster Zeit noch unwahrscheinlich und die Glaubwürdigkeit des neuen Parlaments in den Augen der Bevölkerung schon zu Beginn in Frage gestellt.

Den Zeitraum zwischen Wahltag und der ersten Zusammenkunft der WR wusste der Präsidentenblock am effektivsten zu nutzen. Zu den 35 über Parteiliste und 66 über Direktwahlkreise gewählten Abgeordneten konnten weitere 74 unabhängige Abgeordnete durch "vertrauliche Gespräche" mit dem Präsidenten, bevorstehende Steuerfahndungen und Geldgeschenken dazu 'überredet' werden, der Fraktion der "Einheitlichen Ukraine" beizutreten.

So soll beispielsweise einem Fraktionsmitglied des oppositionellen Timoschenko-Blocks eine Geldsumme bis $250.000 für einen Seitenwechsel angeboten worden sein. Gute "Überzeugungsarbeit" haben auch die vereinigten Sozialdemokraten geleistet, die immerhin 12 weitere Mitglieder in ihren Rängen begrüßen durften. Dagegen erhielten die Fraktionen der vier verbliebenen Parteien in der WR keinen oder nur sehr geringen Zulauf von den Unabhängigen. Somit haben sich die Fraktionsverhältnisse in der neuen WR mit Hinblick auf das offizielle Wahlergebnis stark zugunsten der pro-präsidentiellen Kräfte verändert (s. Tabelle im Anhang). EU-Vorsitz Litwin sprach denn auch von einem "Wahlsieg" seines Bündnisses.

Tauziehen um Präsidium und Ausschüsse

Juschtschenkos Bündnis ist nunmehr - mit Abstand - nur zweitstärkste Parlamentsfraktion und damit trotz verstärkt kritischer Haltung gegenüber den politischen Machthabern auf eine Zusammenarbeit entweder mit dem Präsidentenblock oder den Kommunisten angewiesen, um auch nur eine situative Mehrheit (226 Stimmen) zur Durchbringung seiner politischen Programmatik zustande zu bringen.

Kennzeichnend für die Schwierigkeiten einer Kompromissfindung dieser Art ist der fortdauernde Kampf um die Parlamentsführung. Trotz einer schon Ende April veröffentlichten Erklärung der vier Parteiführer Juschtschenko, Timoschenko, des Sozialisten Moros und des Kommunisten Simonenko über die zukünftige Koordinierung ihrer parlamentarischen Tätigkeit - die eine zahlenmäßige Mehrheit theoretisch garantiert hätte - hat sich diese Initiative in den ersten Sitzungen der Rada nicht durchsetzen können.

Dieses Scheitern ist einerseits mit dem überhöhten Selbstbewusstsein der KP und ihren überzogenen Forderungen bezüglich der Besetzung von Schlüsselpositionen in Parlamentsvorsitz und Ausschüssen zu erklären.

Die Fraktion der Kommunisten sieht sich als Zünglein an der Waage bei der Mehrheitsbildung und lässt sich sowohl vom oppositionellen als auch vom Präsidentenlager umwerben.

Andererseits hat die Führung von NU in ihrem Paketvorschlag zur Besetzung der drei Vorsitze einen taktischen Fehler begangen, indem sie den alten Parlamentssprecher Pljuschtsch (Unabhängige) erneut für diese Position vorschlug und nicht das Mitglied der Interims-Parlamentsführung und NU-Angehörigen Musijaka, der auch bei der KP respektiert wird.

Mittlerweile scheint sich ein Kompromiss zwischen Juschtschenko und EU-Führer Litwin anzubahnen, nachdem der Ex-Premier sich am 16. Mai mit dem Präsidenten unter vier Augen getroffen und er ferner vertrauliche Gespräche mit dem EU-Vorstand geführt hatte. Juschtschenko hatte diesem ein Papier vorgelegt, aus dem u.a. hervorgeht, er werde die Kandidatur des ehemaligen Leiters der Präsidialadministration zum Parlamentssprecher unterstützen - ein ausdrücklicher Wunsch Kutschmas und Teil des Paketes von EU -, wenn Juschtschenko erneut das Amt des Premiers eingeräumt wird.

Der Präsident nutzt erneut seine Prärogative

Wie wenig Einfluss jedoch Juschtschenko und seine Fraktion gegenwärtig auf die Strukturierung und zukünftige Arbeit der WR besitzen, zeigt sich an einem weiteren Beispiel: Entgegen Forderungen des Wahlsiegers Juschtschenko, dem Parlament größere Entscheidungskompetenz bei der Zusammensetzung des Ministerkabinetts und anderer Schlüsselstellungen im Staatsapparat zu gewähren, hat der Präsident eigenhändig schon zahlreiche Ämter durch Erlasse besetzt.

Während die Fraktionen in der WR sich weiterhin um die Verteilung der Parlaments- und Ausschussvorsitze streiten, konnte Kutschma unbehelligt alte Gefolgsleute effektiv neu positionieren. So wurden die Posten des Justiz-, Transport- und Agrarministers schon besetzt, die durch den Einzug ihrer Vorgänger über die Parteilisten der pro-präsidentiellen Kräfte ins Parlament freigeworden waren. Weitere Ernennungen betreffen den ständigen Vertreter des Präsidenten in der WR, den Vizesekretär des nationalen Sicherheitsrates und den Generalstaatsanwalt, der jedoch vorerst nur vorläufig sein Amt innehat.

Einzig der neue Leiter der Präsidialverwaltung ist noch nicht ernannt worden, obwohl nach der kürzlichen Freistellung des skandalumwitterten ehemaligen Innenministers Krawtschenko von seinem Amt als Gouverneur von Cherson ein engster Vertrauter Kutschmas dieses Amt einnehmen könnte. Als weiterer aussichtsreicher Kandidat wird der Vorsitzende der Steuerbehörde Asarow gehandelt.

Auch auf der Ebene der Oblast-Gouverneure kam es zu Veränderungen, nachdem mehrere regionale Verwaltungsleiter über EU-Liste oder als Direktkandidaten in die WR gewählt worden waren. Ferner wurden von Kutschma die Gouverneure der Lemberger und Ternopiler Oblasts ersetzt, die in der Wahl Juschtschenkos Bündnis und seine Kandidaten - offensichtlich entgegen Kutschmas Weisungen - 'gewinnen ließen'.

Welche wichtige Stütze die Gouverneure für den Präsidenten sind, zeigte sich in der ersten Sitzung der WR, bei der sie - nach Einladung des Präsidenten durch das Rada-Präsidium - trotz wiederholten Protests der Opposition den Sitzungssaal nicht verließen und das Abstimmungsverhalten 'ihrer Abgeordneten' genau beobachteten.

Weiterhin im Amt bleibt vorerst Ministerpräsident Kinach und die übrigen Kabinettsmitglieder. Der de-facto Alleingang Kutschmas in allen wichtigen innenpolitischen Entwicklungen seit den Wahlen steht im krassen Widerspruch zu der von ihm auf einem kürzlichen Treffen mit dem polnischen Präsidenten Kwasniewski in Iwano-Frankiwsk geäußerten Behauptung: "In demokratischer und wirtschaftlicher Hinsicht ist die Ukraine viel weiter entwickelt als eine Reihe von EU-Beitrittskandidaten."

Nachdem in drei Wahlkreisen in den Oblasts Winniza, Dnipropetrowsk und Tscherkassy die Wahlen wegen Manipulationen für ungültig erklärt worden waren, hat die Zentrale Wahlkommission (ZWK) inzwischen die Nachwahlen für den 14. Juli angesetzt. Mittlerweile hat der Wahlkampf in diesen Wahlkreisen begonnen, wobei die Verlierer der Märzwahl jetzt noch einmal auf einen verspäteten Einzug in die WR hoffen. Unter den prominentesten Bewerbern für diese drei Parlamentsmandate ist die Progressive Sozialistin Witrenko, Jabluko-Führer Brodsky und der Vorsitzende des "Wintersaat-Generation"-Projektes von Kutschmas Schwiegersohn Pintschuk, Horoschkowsky.

In der gerade begonnenen Legislaturperiode steht das neu gewählte Parlament vor der Verabschiedung noch ausstehender Gesetze und Reformen. In diesem Kontext hob der scheidende Parlamentsvorsitzende Pljuschtsch in der Eröffnungssitzung die Weiterführung der Verwaltungsreform, eine gesetzliche Grundlage für die Geschäftsordnung des Parlaments - in dem die Rechte und Rolle von parlamentarischer Mehrheit und Opposition festgeschrieben sind - und den Steuerkodex hervor.

Die großen Fraktionen vor der Zerreißprobe?

Kürzlich wurden Statistiken über die Struktur der neuen WR veröffentlicht, die den Medien Anlass zum Optimismus hinsichtlich seiner professionellen Arbeit geben. Demnach wurden 40% oder 180 der Abgeordneten aus der vorherigen Legislaturperiode wiedergewählt - gegenüber 33% 1998 - und haben somit schon gewisse Erfahrung bei der Gesetzgebung .

Diese Sicht hält jedoch unter genauerer Betrachtung der Geschehnisse der vergangenen Wochen nicht stand. Es gibt deutliche Signale, dass vor allem der Präsidentenblock unter Litwin vor einer Zerreißprobe steht. Eine Zusammenarbeit mit Nascha Ukraina unter den genannten Bedingungen im oben angesprochenen Papier von Juschtschenko würde den Mitgliedern der "Einheitlichen Ukraine" wichtige Posten vorenthalten.

Auch der Mehrheitsbeschluss der WR gegen den Vorschlag von EU, weitere sechs Ausschüsse - zu den bisherigen 23 - zu schaffen, kann den zahlreichen Forderungen der Führer der EU-Kernparteien nach einer gebührenden Entlohnung für ihren Zusammenhalt während des Wahlkampfes nicht entsprechen.

Denn immer mehr stellen die politischen Führer der rivalisierenden Industrieclans von Donezk (Asarow) und Dnipropetrowsk (Tihipko, Derkatsch) insbesondere den Nutzen einer einheitlichen Fraktion in Frage, wenn eine eigene Fraktion nach ihrer Selbsteinschätzung jeweils immerhin ca.50 Mitglieder umfassen würde.

Auch in den Rängen von Nascha Ukraina herrscht keine Eintracht zwischen den ideologisch und politisch sehr unterschiedlichen Mitgliedsparteien. Schon in der ersten Sitzungswoche wurden Gerüchte laut, dass die "Solidarnost"-Partei des NU-Wahlstableiters Poroschenko beabsichtige, in das Präsidentenlager überzuwechseln. Schon Wochen vor der konstituierenden Versammlung der WR wurde - während insbesondere die "Einheitliche Ukraine" und die vereinigten Sozialdemokraten erfolgreich unabhängige Abgeordnete anwarben - öffentlich darüber gestritten, welche Rolle Juschtschenko in der neuen Legislaturperiode spielen sollte.

Eine klare Stellungnahme von ihm dazu gab es jedoch bisher nicht. Ferner scheint es eine gründliche Absprache innerhalb der NU-Fraktion bezüglich der Nominierung ihres Kandidaten für den Parlamentsvorsitz nicht gegeben zu haben. Die Entscheidung, für Pljuschtsch als WR-Sprecher zu plädieren, scheint der NU-Führer über die Köpfe der übrigen Mitglieder hinweg getroffen zu haben.

Die Hoffnung eines beträchtlichen Bevölkerungsteils auf eine zielorientierte Zusammenarbeit der oppositionellen Fraktionen von Juschtschenko, Timoschenko und Moros - in einer kürzlich durchgeführten Umfrage sprechen sich 40% der Befragten dafür aus, dass die Parteien in der WR ein Impeachment-Verfahren gegen Kutschma initiieren - ist bisher nicht verwirklicht worden.

Immerhin enthielt die zusammen mit den Kommunisten Ende April verfasste Erklärung eine scharfe Verurteilung des Verhaltens des Staatsapparates während des Wahlkampfes. In einer weiteren Erklärung vom 15.Mai forderten die vier Fraktionsvorsitzenden die Entlassung sämtlicher Mitglieder der ZWK, nachdem diese nicht in der Lage gewesen sei, für alle Wahlteilnehmer faire Wahlkampfbedingungen und gerechten Zugang zu den Medien zu gewährleisten. Auch am Wahltag habe sie ineffektive Arbeit geleistet, wie die Schlangen in den Wahllokalen, die Inkompetenz der lokalen und regionalen Wahlkommissionen und die Auswertung der Wahlresultate bewiesen.

Untermauert wird diese Aussage durch über 300 Beschwerden von Einzelkandidaten und Parteien über diverse Verletzungen des Wahlgesetzes, die das Oberste Gericht der Ukraine gegenwärtig überprüft. In einer vom Rasumkow-Zentrum Ende April veröffentlichten Umfrage vertraten 59% der Befragten die Meinung, dass die vergangene Parlamentswahl nicht fair und transparent war und die politische Führung des Landes sich nicht für demokratische Wahlen eingesetzt hat.

Der oben angeführten Umfrage vom Rasumkow-Zentrum zufolge sehen - mit großem Abstand - gut 45% der Bevölkerung Juschtschenkos Bündnis als Wahlsieger. Dementsprechend fordert ein Viertel der Befragten, Juschtschenko das Amt des Premiers zu übergeben. Ferner sprechen sich knapp 40% für die Bildung einer Parlamentsmehrheit aus, denn nur sie garantiert nach Meinung der Befragten eine effektive Arbeit der neuen WR. Bisher zeichnen die ersten Sitzungen des Parlaments jedoch ein ähnliches Bild wie nach der Parlamentswahl 1998.

Damals behinderten die Verhandlungen um den Parlamentsvorsitz und die Besetzung der Ausschüsse für über zwei Monate die Arbeit der Rada. Eine dauerhafte parlamentarische Mehrheit kam ebenfalls bis zum Regierungsantritt Juschtschenkos im Dezember 1999 nicht zustande. Damals zeigte Kutschma wenig Interesse an einer effektiven Arbeit des Parlaments und spielte die einzelnen politischen Kräfte gegeneinander aus.

Dieses Mal hat der Präsident jedoch wichtige Gründe, sich weitaus intensiver bei der Neustrukturierung des Parlaments einzus etzen. Mit einer ihm loyalen parlamentarischen Mehrheit will er das Referendum von 2000 über die Ausdehnung der präsidentiellen Kompetenzen unter gleichzeitiger Entmachtung der WR endlich umsetzen und einen ihm getreuen Nachfolger im Amt des Staatsoberhauptes für die Präsidentschaftswahl im Herbst 2004 vorbereiten.

Anhang:

Endgültige Ergebnisse der Parlamentswahl und Fraktionen im Parlament
Politische Parteien und Blöcke% nach ParteilistenMandate über ParteilisteFraktionsstärke(23. Mai)
Nascha Ukraina23.52%70119
Kommunistische Partei20.04%5963
Einheitliche Ukraine11.98%35175
Block Julia Timoschenko7.21%2223
Sozialisten6.93%2022
Sozialdemokra-
tische Partei (vereinigte)
6.24%1931
Unabhängige14
Gesamt:225447

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Gabriele Baumann

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Leiterin des Projekts Nordische Länder

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