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Schwere Institutionenkrise in Argentinien

von Frank Priess
Argentinien wird derzeit von einer schweren politischen Krise geschüttelt. Zunächst kaum als schwerwiegend und vor allem neu erachtete Gerüchte und Vorwürfe über die Bestechlichkeit von Senatoren haben sich zu einer Grundfrage über die Legitimität politischer Entscheidungen ausgewachsen und beeinflussen gleichermaßen die Glaubwürdigkeit von Legislative und Exekutive, von Regierung und Opposition. Ein "Kollaps der Institutionen" (Morales Sola) wird keineswegs ausgeschlossen.

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Ganz Argentinien fragt sich: Haben Mitglieder der Exekutive Senatoren der oppositionellen Justizialistischen Partei (PJ) und der regierenden "Unión Cívica Radical" (UCR) durch Geldzuwendungen geneigter gestimmt, für die neue Arbeitsgesetzgebung der Regierung von I zu stimmen? Wo verläuft die Grenze zwischen Korruption und politischer Schacherei zugunsten der Heimatprovinzen von Senatoren, die ihr Votum möglichst teuer "verkaufen" und dann mit handfesten Vorteilen vor den heimischen Wähler treten zu können? Handelt es sich bei solchen Vorgängen um Altbekanntes, das nur nie den Sprung auf die Tagesordnung der öffentlichen Debatte schaffte, oder gibt es substantiell Neues? Und vor allem: Wie geht es weiter?

Den Stein ins Rollen brachten zwei Politiker, über deren Motive seither gerätselt wird: Vizepräsident Carlos "Chacho" Alvarez (FREPASO) und Senator Antonio Cafiero (PJ), ehemaliger Gouverneur der Provinz Buenos Aires und langgedienter Parlamentarier seiner Partei.

In der Zeitung "La Nación" hatte am 25. Juni der angesehene Journalist Joaquín Morales Sola auf der Basis nicht näher bezeichneter Quellen berichtet, im Umfeld der Annahme der Arbeitsgesetzgebung (am 26. April, mit den Stimmen der oppositionellen PJ), eines der ersten wichtigen Reformvorhaben der Regierung de la Rúa, hätten sich offenbar Senatoren der Opposition ihr Votum abkaufen lassen.

Cafiero nahm dies zum Anlaß, am 12. Juli im Senat offiziell eine umgehende Untersuchung zu verlangen, ein Vorgang, der offenbar bei der eigenen Fraktionsführung auf wenig Gegenliebe stieß. Vizepräsident Alvarez seinerseits nutzte dann das Forum des Senats, dem er vorsitzt, um einen anonymen Brief zu verlesen, in dem mögliche Verdächtige direkt bezeichnet werden und als dessen Autor man innerhalb der PJ-Fraktion den "dissidenten" Senator Hector Maya verdächtigt, dem in Entre Rios parteiinterne "offene Rechnungen mit seinem Provinzkollegen und PJ-Fraktionsführer im Senat, Augustino Alasino unterstellt werden. "Vor den höchsten parlamentarischen Autoritäten des Landes", wunderte sich die Zeitschrift "Noticias", "räuspert sich der Vizepräsident, setzt sich die Brille zurecht und liest eine Geschichte von Intrigen, Macht und Geld vor."

Ein überaus ungewöhnlicher Vorgang, der seine Wirkung nicht verfehlte: Medien und Öffentlichkeit waren aufs höchste alarmiert. Die ohnehin schon geringe Glaubwürdigkeit des Senats und der Politik insgesamt befindet sich seither im freien Fall: Nach einer am 26. August veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ibope glauben 81,4 Prozent der Bürger von Buenos Aires an die Richtigkeit der Korruptionsvorwürfe. Gleichzeitig glauben 76 Prozent, ein solcher Vorgang habe keine Chance auf vollständige Aufklärung!

Gravierend ist der Vorgang nicht zuletzt für den Präsidenten selbst: Im Gegensatz zu seiner Regierung genießt Fernando de la Rúa nach wie vor hohe persönliche Zustimmungswerte, die vor allem auf seiner Integrität beruhen. Der Kampf gegen Korruption und die Transparenz von Regierungsentscheidungen waren sein zentrales Wahlkampfthema.

Noch am 9. August war er mit den Senatoren, die jetzt im Mittelpunkt der Verdächtigungen stehen, vor die Presse getreten und hatte die Vorwürfe als "Dinge ohne Fundament" bezeichnet. Bewahrheiteten sich nun die Vorwürfe einer aktiven Verwicklung von Regierungsstellen – seien es nun der Geheimdienst SIDE unter dem de la Rúa Vertrauten Fernando de Santibanez oder das in diesem Fall involvierte Arbeitsministerium des FREPASO-Politikers Alberto Flamarique – oder zumindest regierungsnaher Kreise in einen Korruptionsskandal, wäre der Präsident in höchstem Maße beschädigt, egal ob er nun davon wußte oder nicht. Die politische Verantwortung trifft allemal ihn selbst. "Bisher", so der Meinungsforscher Hugo Haime, "sehen die Menschen die Schuld nicht beim Präsidenten, aber man wird sehen müssen, wie die Untersuchungen weitergehen."

Umso verständlicher ist die Motivsuche bei den zentralen Akteuren Alvarez und i, was Verschwörungstheorien aller Art Tür und Tor öffnet. Sie haben derzeit in Buenos Aires Konjunktur. Eine Auswahl:

  • "Chacho" Alvarez fühle sich zunehmend in der Regierung isoliert und von de la Rúa im Stich gelassen. Er müsse mit ansehen, wie seine Links-Partei FREPASO sich in ihren Grundpositionen im orthodox-liberalen Wirtschaftskurs der Regierung immer weniger wiederfinde. Gleichzeitig verdächtigt er den de la Rúa-Vertrauten und Geheimdienstchef Santibanez der Ausspähung seines Privatlebens und des gezielten Lancierens von entsprechenden Indiskretionen in die Medien. Diesen Stress bezahle er inzwischen sogar mit einem gesundheitlichen Preis: Seine Asthma-Probleme sind Medienthema.

    Sich nun an die Spitze der Aufklärung der Bestechungsvorwürfe zu stellen, ziele entsprechend darauf, das Gesetz des Handelns wieder in die Hand zu bekommen und gleichzeitig auf einem ureigenen FREPASO-Terrain Punkte zu sammeln, abgesehen von der Frage der persönlichen Glaubwürdigkeit. Gleichzeitig sei die Möglichkeit, den Intim-Feind Santibanez zu beschädigen, ein zusätzliches Leitmotiv.

    Daß dabei sein FREPASO-Parteifreund Flamarique mit beschädigt werde, nehme er in Kauf. Zwischen beiden sei ein Zerwürfnis spürbar, das mit der zunehmenden Vertrautheit zwischen Flamarique und de la Rúa zunehme. Ganz gewagte Spekulationen sehen sogar eine Achse zwischen Alvarez, seinem früheren politischen Ziehvater aus PJ-Zeiten Cafiero und dem Vorsitzenden der UCR, Raúl Alfonsín. Mit diesem teile Alvarez die Abneigung gegen Santibanez und den Wirtschaftskurs der Regierung de la Rúa. Würde, so diese Quellen, de la Rúa in den Rücktritt getrieben, könnte Vizepräsident Alvarez das Amt übernehmen und mit neuen politischen Verbündeten einen Kurswechsel herbeiführen.

  • Im Falle Cafiero liegt der Fall ähnlich kompliziert. Manche Beobachter reduzieren den Ausgangspunkt seiner Aktivitäten auf interne Rivalitäten innerhalb der PJ-Fraktion des Senats. Dessen Vorsitzenden Augustino Alasino wolle Cafiero politisch beseitigen. Gleichzeitig habe er in der Korruptionsfrage, die immerhin Regierungsmitglieder einschliessen, die Chance gesehen, der Öffentlichkeit vorzuführen, daß auch die Regierung de la Rúa keineswegs so sauber und unangreifbar dastehe, wie sie dies mit Blick auf die Vorgänger gern vorführen wolle, nicht zuletzt mit heftiger Medienunterstützung. Ganz Böswillige meinen, Cafiero habe lediglich auf sich aufmerksam machen wollen, um bei künftigen "Verhandlungspaketen" nicht wieder übergangen zu werden. Dann sei ihm die Sache einfach aus der Hand geglitten und habe unkalkulierbare Ausmaße angenommen.
Andere Spekulationen schließen Gewerkschaftskreise um den Anführer des Dissidentenflügels der CGT, Hugo Moyano, ein: Dieser habe als erster auf die Vorgänge aufmerksam gemacht, um die ihm nicht genehme Arbeitsgesetzgebung zu kippen und ihr die Legitimität zu nehmen. Auch habe er damit die Teile seiner Gewerkschaft treffen können, die sich um eine Konsenslösung von Anfang an bemüht hatten, nicht zuletzt, um satte Zuwendungen für die eigenen Sozialkassen zu retten.

Auch die US-Botschaft in Buenos Aires wird als interessierte Seite genannt: Ihr sei das intransparente Privatisierungsverfahren in Argentinien ein Dorn im Auge, bei dem US-Firmen gegenüber europäischen Konkurrenten zu oft das Nachsehen gehabt hätten. Die Offenlegung von Korruptionspraktiken sei daher nun eine späte Revanche und ein Wink für die Zukunft. Der Phantasie sind jedenfalls keine Grenzen gesetzt. Problematisch nur, daß sich in Argentinien mittlerweile jeder alles vorstellen kann.

Nachdem inzwischen Vizepräsident Alvarez und andere die Justiz eingeschaltet haben und nicht allein auf die Selbstaufklärungsmechanismen des Senats vertrauen, kommt der Aufklärungsarbeit des Richters Carlos Liporaci eine hohe Bedeutung zu, der in dieser Woche Zeugen vernimmt. Schon liegt die Ankündigung vor, die Bankkonten der Senatoren überprüfen zu wollen, um an greifbare Beweise zu kommen. Sie liegen bisher nämlich nicht auf dem Tisch.

Senator Cafiero hatte zunächst angegeben, nicht selbst über solche zu verfügen und daher auch keine Namen möglicher Beteiligter nennen zu wollen. Dies könne nur dazu führen, daß er sich selbst Verleumdungsklagen ausgesetzt sehe und schließlich Aussage gegen Aussage stehe. Der Druck scheint dann aber doch so groß geworden zu sein, daß Cafiero mittlerweile seine Zurückhaltung aufgegeben und Richter Liporaci Namen von Verdächtigen genannt hat.

Entsprechend stehen diese Namen, die der Öffentlichkeit bisher nur durch Indiskretionen interessierter Seiten bekannt geworden sind, oben auf der Zeugenliste: Nach Zeitungsberichten sind es der Vorsitzende der PJ-Fraktion im Senat, Augustino Alasino (Entre Ríos) – PJ-Senator Ricardo Branda (Formosa) laut Version der Zeitung "Clarin", PJ-Senator Alberto Tell nach Version der Zeitung "Página 12" – sowie PJ-Senator Remo Constanzo (Rio Negro). Branda und Constanzo gehören innerhalb der Fraktion zu den engsten Vertrauten des Fraktionsführers und sind zugleich Vorsitzende wichtiger Senatskommissionen.

Branda war es auch, den die Zeitschrift "Noticias" am 26. August, offenbar unter Verletzung des "off the record" mit folgender Aussage zitiert: "Politische Gefälligkeiten hat es immer gegeben. Es ist schwer zu sagen, was ein Akt von Korruption ist. Es ist ein Stil, der innerhalb des politischen Systems benutzt wird. Die Grenzlinie zwischen Stimmenkauf und politischer Gefälligkeit ist fließend ...".

Die Zeitung "La Nación", bei der in der Kolumne des Journalisten Joaquín Morales Sola die ersten öffentlichen Hinweise auf Korruption im Senat erfolgt war, bringt an zentraler Stelle zusätzlich den PJ-Senator für Tucuman und ehemaligen Vize-Präsidentschaftskandidaten Ramon "Palito" Ortega ins Spiel: Cafiero habe darauf hingewiesen, daß Ortega gegenüber dem früheren Gouverneur und Präsidentschaftskandidaten der PJ, Eduardo Duhalde, zugegeben habe, Bestechungsgelder erhalten zu haben.

Interessant dabei ist, daß Ortega am 17. Juli, fünf Tage, nachdem Cafiero seine "cuestión de privilegio" im Senat eingebracht hat, erklärte, sich aus der Politik zurückziehen zu wollen. Die Aussage von Ortega vor Richter Liporaci wird für Ende der Woche erwartet.

Auf Seiten der Regierungspartei UCR zielen die Fragen vor allem auf die Senatoren Javier Meneghini (Santiago del Estero), Leopoldo Moreau und Jose Genoud (Mendoza) sowie den Parlamentssekretär Mario Pontaquarto. In der kommenden Woche werden dann wohl auch Kabinettsmitglieder wie Arbeitsminister Alberto Flamarique zu den Zeugen gehören. Da es sich im konkreten Fall um die Annahme der Arbeitsgesetzgebung im Senat handelte, gehört sein Ministerium zu den möglichen Quellen für illegale Zuwendungen.

Das Kabinett als ganzes versucht derzeit, Geschlossenheit zu demonstrieren. In einer gemeinsamen Erklärung vom 28. August weist es alle Vorwürfe, aus der Regierung seien Bestechungsgelder geflossen, entschieden zurück. Allerdings schließt diese Formulierung nicht aus, daß Zahlungen auch von interessierter Seite aus Unternehmen oder Gewerkschaften gekommen sein könnten. Die Öffentlichkeit wird bei soviel Unklarheit wohl bis auf weiteres bei ihren Zweifeln bleiben.

Antonio Cafiero seinerseits und Jorge Villaverde, die beiden PJ-Senatoren aus der Provinz Buenos Aires, haben mittlerweile erklärt, die PJ-Fraktion im Senat wegen Differenzen mit deren Führung – Augustino Alasino – zu verlassen. Schon vorher hatten die Senatoren Hector Maya (Entre Ríos) und Alberto Rodriguez Saa (San Luis) Distanz zur Fraktion genommen, ebenso der Senator für Santa Cruz, Daniel Varizat.

Die PJ-Fraktion verfügt damit nur noch über 34 der 72 Sitze im Senat, drei weniger, als zur Erreichung eines eigenen Quorums nötig wären. Gleichwohl kann sie nach wie vor mit der Unterstützung der Senatoren der Regionalparteien aus Neuquén und Feuerland rechnen.

Für Ende 2001 steht die Neuwahl des gesamten Senats an, diesmal durch Direktwahl seitens der Bürger. Bisher waren die Senatoren von ihren jeweiligen Provinzparlamenten nach dem dortigen Stärkeverhältnis der Parteien ernannt und nach Buenos Aires entsandt worden. Bisher also, so die Kritiker, hätten sich Senatoren nicht direkt den Wählern stellen und um öffentliche Zustimmung werben müssen, was ihre Legitimation nicht eben erhöhe.

Folgerichtig dann ihre Forderung, zur Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit der Institution die Selbstauflösung und vorzeitige Neuwahlen zu betreiben. Dem hatte sich auch UCR-Senator José Genoud angeschlossen, sah sich allerdings sofort dem Verdacht ausgesetzt, lediglich veränderte Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Regierungspartei im Sinne zu haben. Entsprechend wenig Aussicht auf Erfolg dürfte die Initiative denn nach augenblicklichem Stand der Dinge auch haben.

Unabhängig von der Zusammensetzung des Senats aber beginnen die Sorgen, das ganze Verfahren könne zu einer eingeschränkten Handlungsfähigkeit der Legislative insgesamt beitragen und wichtige Gesetze aufhalten. Gerade diese aber könnte Argentinien dringend brauchen, will es in wirtschaftlich turbulenten Zeiten reaktionsschnell agieren, ohne allein von Präsidentialdekreten abhängig zu werden.

Auf dem Spiel steht aber noch mehr: Gerade in Zeiten sozialer Ungewissheit und massiver Sorgen der Bürge geht es um die Glaubwürdigkeit der Politik im allgemeinen und die der demokratischen Institutionen im besonderen. Nicht wenige besorgte Stimmen sind zu hören, die mahnend an das venezuelanische Beispiel erinnern: Auch dort brach ein etabliertes Parteisystem in kürzester Zeit zusammen.

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