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Länderberichte

Tschechien vor den Parlamentswahlen

von Frank Spengler, Anneke Müller

Der Wahlausgang ist weitgehend offen, jede der beiden großen Parteien kann gewinnen.

In der Tschechischen Republik geht das Ringen der Parteien um die Gunst der Wähler in die entscheidende Phase. Am 14. und 15. Juni 2002 wählen die Bürger des Landes ein neues Unterhaus, die Abgeordnetenkammer mit 200 Sitzen. Bürgerliche Demokraten (ODS) und Sozialdemokraten (CSSD) liegen bei Umfragen nahezu gleich auf mit deutlichem Abstand vor den anderen Parteien.

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In das künftige Abgeordnetenhaus werden wohl nur noch drei Parteien einziehen: Die "Koalition", ein Parteienbündnis der Christdemokraten (KDU-CSL) und Freiheitsunion (US-DEU) sowie die Kommunisten (KSCM). Vor diesem Hintergrund wird schon heute die Frage nach den Möglichkeiten einer künftigen Regierungsbildung gestellt. Die demokratischen Parteien haben sich hinsichtlich des künftigen Koalitionspartners aber noch in keiner Weise festgelegt. Mit Ausnahme der Kommunisten sind alle prinzipiell miteinander koalitionsfähig und auch koalitionsbereit. Wichtig erscheint der Griff nach der Macht zu sein, ohne dabei eine klare und für den Wähler erkennbare Position beziehen zu wollen. Das Kernthema des Wahlkampfes 2002 in den letzten Wochen machte das schlaglichtartig deutlich.

Nationale Interessen im Wahlkampf

Das beherrschende Thema des bisherigen Wahlkampfs war die Frage nach den nationalen Interessen. Die beabsichtigte Wirkung des Themas zu Gunsten einer Partei jedoch trat nicht ein, weil mit dem Blick auf die Wahlen keine der Parteien eine differenzierte Auseinandersetzung wagte. Im Gegenteil, Tschechiens Politiker traten mit bisher unbekannter Geschlossenheit auf.

Im Abgeordnetenhaus kam es auf Betreiben der ODS und der Kommunisten zu einer Diskussion über die Benes-Dekrete sowie zur Verabschiedung einer Resolution durch alle Parteien über die Unveränderbarkeit der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges. Politische Kommentatoren sahen die Nationale Front aus den Zeiten des realen Sozialismus wieder auferstehen.

Aktuell werden nun allerdings doch einige andere Akzente im Wahlkampf erkennbar. Vor allem die Bürgerlich Demokratische Partei wirbt mit unmissverständlichen Programmpunkten um den Wähler. Und zwar mit Erfolg: Die ODS liegt gegenwärtig bei den Meinungsumfragen vorn. Die linke Tageszeitung "Právo" spekulierte in einem Kommentar (6. Mai 2002) über die Gründe. Der Kommentator vermutet, dass viele Wähler die Politik durch einen "Filter des Desinteresses" wahrnehmen und deshalb "einfach das lieben", was "übersichtlich und unkompliziert" scheint.

So präsentieren sich die Bürgerlichen Demokraten nicht nur mit einer bekannten Führungspersönlichkeit, Václav Klaus, sondern auch mit einfachen Parolen. Die ODS betreibt zurzeit eine Kampagne, die von vielen politischen Beobachtern als rechts-populistisch bezeichnet wird. "Wir werden gegen ausländische Händler kämpfen, die unseren einheimischen Unternehmern Raum nehmen" oder "wir werden die Zuwanderung von Ausländern beschränken" sind nur beispielhaft einige der Aussagen zur Wahl der ODS.

Der an der Prager Karls-Universität lehrende Politologe Rudolf Kucera urteilte gegenüber der "Prager Zeitung" (23. Mai 2002), dass der ODS bei der "Jagd nach Wählerstimmen" sachliche und gesellschaftlich relevante Themen fehlten. Deshalb würden gezielt nationalistische Emotionen angesprochen, die auch dort ausgelöst werden, wo die Interessen der Gesellschaft gar nicht bedroht seien. Die Partei von Václav Klaus versucht auf diese Weise, zusätzliche Wähler zu gewinnen, die zu einem Gutteil am rechten Spektrum angesiedelt sind. Das Kalkül: Die Stammwähler bringen der Partei wohl 25 Prozent, für einen Wahlsieg braucht die ODS aber über 30 Prozent.

Mit Geschlossenheit nach außen und einer eindeutigen Führungsfigur kann die CSSD dagegen nicht aufwarten. Das Verhalten des ehemaligen CSSD-Vorsitzenden und Ministerpräsident Milos Zeman deutet auf innerparteiliche Differenzen hin. Ganz anders als bei der ODS von Václav Klaus wirkt Vladimír pidla als Vorsitzender wenig durchsetzungsfähig. Auf den Wahlveranstaltungen wirkte er "zugeknöpft" ("Prager Zeitung", 30. Mai 2002) und verunsichert.

Die Äußerungen von Ministerpräsident Zeman verstärken diesen Eindruck noch. So kritisierte der ehemalige Parteivorsitzende auf einer Pressekonferenz öffentlich das Ministerium für Arbeit und Soziales, dem Spidla vorsteht. Den gegenwärtigen Stand der Arbeitslosigkeit könne er ja wohl beim besten Willen nicht als Erfolg seiner Regierung ausgeben. Die "Právo" (14. Mai 2002), die gewöhnlich gut über die interne Meinungsbildung der Sozialdemokraten unterrichtet ist, bezeichnet Milos Zeman als "kranken Riesen", der inzwischen der eigenen Partei schaden würde.

Diskussion über eine große Koalition

In der tschechischen Presse dominieren nun Berichte und Einschätzungen über die Annäherung zwischen den einzelnen Parteien. Wer mit wem koalieren wird, ist derzeit noch offen. Möglich scheint vieles, von der großen Koalition bis hin zu einer Minderheitsregierung der Sozialdemokraten, die durch die Kommunisten toleriert wird. Das zeigen auch die jüngsten Umfrageergebnisse des Meinungsforschungsinstituts STEM, die vom 27. bis 28. Mai 2002 exklusiv für die Tageszeitung "Lidové Noviny" ermittelt wurden:

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Der Wahlausgang ist weitgehend offen, jede der beiden großen Parteien kann gewinnen. Auch die Frage nach der drittstärksten Kraft im Abgeordnetenhaus ist noch offen.

Während Vladimír Spidla, Vorsitzender der CSSD, öffentlich über eine Kündigung des Oppositionsvertrages mit der ODS nachdenkt, berichtet nur wenige Tage später die Presse von einem Koalitionsangebot des Vorsitzenden der ODS Václav Klaus an den ehemaligen CSSD-Vorsitzenden und Ministerpräsidenten Milos Zeman.

Die Tatsache, dass Klaus Zeman und nicht den Vorsitzenden der Sozialdemokraten anspricht, gibt zu denken. Der Vorsitzende des Abgeordnetenhauses Václav Klaus, der seit der Gründung der ODS auch ihr Vorsitzender ist, nimmt anscheinend den seit einem Jahr amtierenden CSSD-Vorsitzenden Vladimír Spidla nicht allzu ernst. Zwar hatte Zeman mit seinem Rücktritt vom Parteivorsitz im April 2001 den langsamen Rückzug aus der Politik eingeleitet, doch kennen sich Klaus und Zeman sehr gut.

In den zurückliegenden vier Jahren, als die ODS von Klaus durch einen Oppositionsvertrag, später ergänzt durch den "Toleranzpakt", die Minderheitsregierung der Sozialdemokraten tolerierte, haben sich beide als berechenbare Partner kennen und schätzen gelernt. Dass sie miteinander nun auch über künftige Modelle einer Kooperation sprechen, scheint für beide daher ganz selbstverständlich zu sein.

Damit wird deutlich ausgesprochen, was viele Gegner der Übereinkunft befürchtet haben: Kein Ende des Oppositionsvertrages, sondern eine noch engere Kooperation der beiden großen Parteien in einer Regierungskoalition. Rein rechnerisch würden ODS und CSSD nach jüngsten Umfragen eine deutliche Mehrheit im Abgeordnetenhaus gewinnen, die zumindest in dem Unterhaus für Verfassungsänderungen ausreichen könnte.

Die beiden großen Parteien könnten - wie in den Zeiten des Oppositionsvertrags - die Besetzung aller wichtigen öffentlichen Positionen vom Parlament bis hin zu den Medienräten abstimmen, einschließlich der Benennung des künftigen Staatsoberhauptes, das im Januar 2003 gewählt wird.

Die "Hospodárské Noviny" bezeichnet deswegen auch den noch bestehenden Oppositionsvertrag als "bestimmenden Faktor" für die nächsten Wahlen und äußerte, dass er gegenwärtig die "traurige Spitzenleistung der tschechischen Politik" darstelle. Auch in Zukunft könne dieses Modell wieder Anwendung finden. Der vorgebliche Erhalt stabiler Verhältnisse diene doch tatsächlich einzig jenen als Garantie, die weiter ungestört, ohne kritische Fragen der Bürger und ohne die Mitarbeit jener, die anderer Meinung sind, arbeiten wollen, so der Kommentator.

Tatsächlich warteten Ende April 2002 viele tschechische Fernsehzuschauer gespannt auf das Fernsehduell zwischen dem ODS-Vorsitzenden Václav Klaus und dem ehemaligen CSSD-Vorsitzenden Milos Zeman. Der Auftritt war enttäuschend. Die Tageszeitung "Mladá Fronta Dnes" (29. April 2002) bezeichnete das Duell als "Treffen zweier alter Freunde", dem jegliche Spannung und Energie fehlte.

Unterstützt wird die Spekulation über eine große Koalition zudem durch die Schwäche der Koalition, dem Parteienbündnis aus KDU-CSL (Christdemokraten), der US (Freiheitsunion) bzw. DEU (Demokratische Union). (Im Januar 2002 zerfiel die Viererkoalition, der außer der KDU-CSL, US und DEU noch die ODA (Bürgerliche Allianz) angehörte. Bis zu ihrem Zerfall auf Grund ungelöster finanzieller Probleme der ODA hatte das Parteienbündnis reale Chancen auf einen Wahlsieg.)

Laut Umfragen würde das Parteienbündnis derzeit nur noch 16,1% der Wählerstimmen erringen können. Auch verfügt die Koalition über ein unklares Profil. Das wird an den Äußerungen zu möglichen Koalitionen mit anderen Parteien deutlich: Viele zweifeln an einer möglichen Regierungskoalition zwischen den Sozialdemokraten und der Koalition, denn Vladimír pidla hat gegenüber den Medien angedeutet, dass er nur in der KDU-CSL einen möglichen Partner sehe.

Ebenso wie bei den Wahlen vor vier Jahren hat die Freiheitsunion angekündigt, dass es für die Partei kaum vorstellbar sei, das Land gemeinsam mit den Sozialdemokraten regieren zu können. Sie tendiert eher zur Zusammenarbeit mit der ODS. Die Medien halten sich bei Kommentaren über die "Koalition" zurück. Das Parteienbündnis führt momentan einen wenig sichtbaren Wahlkampf, verpasst wichtige Chancen zur Profilierung und macht Themen frei, die sie mit Gewinn beim Wähler hätte besetzen können. Die geringen Wahlchancen der Koalition führen auch zunehmend zu einem Konflikt innerhalb des Bündnisses über eine möglichen Aushebelung der vereinbarten gemeinsamen Wahllisten. Einige Politiker der Koalition sehen wegen der aktuellen Meinungsumfragen nur eine Möglichkeit in das Abgeordnetenhaus einzuziehen, wenn sie mit Hilfe von Wahlpräferenzen - jeder Wähler kann drei Präferenzstimmen vergeben - ihren Mitbewerber aus dem eigenen Lager auf der Wahlliste überspringen.

Dabei ist die KDU-CSL im Vorteil, da sie eine bessere Mitgliederstruktur aufweist. Dies bedeutet, dass zurzeit der Wahlkampf der Koalition nicht nur gegen den politischen Gegner, sondern versteckt auch um die Präferenzstimmen der eigenen Wähler geführt wird. Die Aufstockung von bisher acht auf 14 Wahlkreise, durch die Änderung des Wahlgesetzes, führt erstmals dazu, dass die Präferenzstimmen Einfluss auf die Listenplätze haben könnten.

Kommunisten nicht ungefährlich

Eine nicht zu unterschätzende Kraft stellen - 13 Jahre nach der Wende - wieder die Kommunisten dar. Sind sie inzwischen anerkannte Gesprächspartner der Parlamentsparteien, denn die gemeinsame Resolution des Abgeordnetenhauses zu den Bene-Dekreten trägt auch ihre Unterschrift. Unter der Bevölkerung bezeichnet gar ein Drittel die KSCM als demokratische Partei.

In der ersten Hälfte der neunziger Jahre glaubten noch viele, die KSCM sei eine "sterbende" Partei. Doch tatsächlich hat die Partei in der postkommunistischen Gesellschaft Tschechiens nicht nur in den durch hohe Arbeitslosigkeit betroffenen Regionen wie Most und Ostrava ihre Anhängerschaft, sondern auch in vielen kleineren Gemeinden und Städten. Ihre Lokalpolitiker verfügen oft aus der Zeit von vor 1989 über Erfahrungen im Bereich der öffentlichen Verwaltung. Derzeit hat die KSCM durchaus noch Chancen drittstärkste Kraft im Abgeordnetenhaus zu werden. Das ginge im wesentlichen dann auf Kosten der Sozialdemokraten.

In der Diskussion über eine zukünftige Regierung räumte Vladimír pidla bereits ein, dass über eine Tolerierung einer Minderheitsregierung durch die Kommunisten gesprochen werden könne. Dass in Deutschland das "Magdeburger Modell" in Sachsen-Anhalt im April abgewählt wurde und damit gescheitert ist, scheint Spidla nicht registriert zu haben und versucht es wohl in Tschechien erneut zu testen, so ein Kommentar der deutschsprachigen "Prager Zeitung" (9. Mai 2002).

Ein weiterer Punkt, der die Kommunisten stärken könnte, ist eine Tendenz der Rentner, vermehrt "links" zu wählen. Jüngste Umfragen des Meinungsforschungsinstituts CVVM vom April 2002 belegen dies. Danach würden von den über 60-jährigen 28,4% die CSSD, 23,5% die KSCM und jeweils nur 9% die Koalition oder die ODS wählen. Zudem liegt die Wahlbeteiligung dieser Gruppe anteilsmäßig sehr hoch: 76% waren es 1998, die zu den Wahlurnen gingen (85% hatten zuvor angegeben, wählen zu wollen).

Die diesjährigen Prognosen liegen laut CVVM bei 72%. Im Vergleich dazu würden laut der jüngsten Studie der Tageszeitung "Lidové Noviny" 33% der Erstwähler die ODS wählen, 19% die Sozialdemokraten und 15% die Koalition. In dieser Wählergruppe würden nur 6% den Kommunisten ihre Stimme geben und 5% den Grünen.

Die Endphase des Wahlkampfes

Um die Gunst der Wähler auf ihre Seite zu ziehen, rühren die Parteien zum Abschluss des Wahlkampfes noch einmal besonders intensiv die Werbetrommel und scheuen keine Kosten. Die ODS wird am 13. Juni ein Konzert mit der beliebten tschechischen Sängerin Lucie Bílá auf dem Prager Altstädter Ring veranstalten. Die Koalition führt einen Tag vorher auf dem gleichen Platz eine Lotterie mit Gewinnchancen auf eine Reise in die Europäische Union durch.

Die CSSD hat für den 13. Juni den polnischen Ministerpräsidenten zur Unterstützung ihrer großen Wahlparty in das nordmährisch-schlesiche Ostrava eingeladen. Auch die Kommunisten werden mit Country-Musik und den Vertretern aus der Region auf dem Prager Wenzelsplatz ein letztes Mal um Wählerstimmen werben.

Eine Unbekannte gibt es im Wahlkampf jedoch noch. Staatspräsident Václav Havel meinte Anfang Mai, dass er nicht unbedingt auch den Wahlsieger mit der Regierungsbildung beauftragen müsse. Vielmehr wolle er nach den Wahlen alle im Parlament vertretenden Parteien konsultieren und denjenigen mit der Regierungsbildung beauftragen, der eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus hinter sich vereinen könne. Heftig kritisiert wurde Havel dafür von der ODS, die ihn als "undemokratisch" bezeichnete. Doch auch die CSSD sprach sich dafür aus, den Wahlsieger mit der Regierungsbildung zu beauftragen.

Nach den Protesten hat Staatspräsident Havel zwar sein mögliches Vorgehen abgeschwächt. Doch machte er erneut deutlich, nicht nur als passiver Zuschauer agieren zu wollen. Er behalte sich sehr wohl das Recht vor, die vom designierten Ministerpräsidenten nominierten Minister nicht zu bestätigen, sollten diese an den Kriterien der Unbescholtenheit scheitern.

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