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Vorsichtiger Systemwechsel im ägyptischen Gesundheitssektor

von Björn Bentlage
Mitte Oktober veröffentlichte die ägyptische Tageszeitung Masri al-Yawm Auszüge eines Gesetzentwurfs zur Krankenversicherung, der in der beginnenden Sitzungsperiode dem Parlament vorgelegt werden soll. Das Gesetz ist Teil einer Großreform, die einen Systemwechsel im ägyptischen Gesundheitssektor vollzieht. Politische Grundprobleme lässt das Reformprojekt allerdings unangetastet.

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Das öffentliche Gesundheitssystem Ägyptens macht immer wieder Schlagzeilen. Verseuchte Blutkonserven, Verwechselungen von Betäubungsmitteln, Organraub und Todesfälle, weil millionenteure Geräte nicht instand gehalten wurden - das sind die großen Skandale und Unfälle der letzten Jahre. Doch die eigentliche Problematik liegt im tagtäglichen Normalbetrieb, im System selbst. Wegen gravierender Qualitätsmängel wird der Großteil öffentlicher Kliniken von Patienten gemieden. Wer kann, sucht die Privatbehandlung. Die staatliche Krankenversicherung, die knapp die Hälfte der Bevölkerung abdeckt, ist (mit Ausnahme von Schulkindern und Studenten) an den Arbeitsplatz gebunden. Sie schließt also gerade die einkommensschwachen Bevölkerungsteile aus. Gleichzeitig müssen Ärzte mehrere Jobs parallel aufnehmen, um sich finanziell über Wasser halten zu können. 2009 gab es Mediziner-Streiks und Protestmärsche für ein ausreichendes Einkommen. Der seit 1992 amtierende Vorstand der Ärztekammer drohte kürzlich mit dem geschlossenen Rücktritt. Kurzum - die Reformbedürftigkeit des Gesundheitswesens ist offenkundig.

Lange Reformgeschichte

Das jetzt diskutierte Reformprogramm geht zurück auf die Mitte der 1990er Jahre. In enger Kooperation mit der Weltbank und anderen internationalen Partnern wurde damals ein Konzept erarbeitet, das aus drei Hauptelementen besteht: erstens der Fokussierung auf allgemeinmedizinische Versorgung; zweitens der Neudefinition der Rolle des Staates im Gesundheitswesen; und drittens der schrittweisen Ausweitung der staatlichen Krankenversicherung auf die gesamte Bevölkerung. 1997 wurde das Programm von Ägypten offiziell beschlossen.

Die erste Komponente setzte das Gesundheitsministerium unter Mithilfe von USAid, der Europäischen Kommission und anderen Partnern in mehreren Gouvernoraten um. Seit 2004 werden die Pilotprojekte auf andere Gouvernorate ausgeweitet. Die zweite und dritte Komponente sind Gegenstand des gegenwärtigen Gesetzentwurfs. Hier hatte es in der Vergangenheit immer wieder Verzögerungen gegeben. Ein erster Entwurf existierte bereits 2001, zwei Jahre darauf präsentierte die Regierungspartei ein Strategiepapier auf ihrer ersten Jahreskonferenz, 2004 liefen Beratungen im Gesundheitsausschuss der Volkskammer und 2005 war die Gesundheitsreform Teil des Wahlprogramms von Präsident Mubarak.

Die Diskussionen dauerten das ganze Folgejahr an. 2007 stellte der einflussreiche Sohn des Präsidenten, Gamal Mubarak, das Konzept hochrangigen Parteifunktionären vor, ein neuer vorläufiger Gesetzentwurf (Nummer acht) des Gesundheitsministeriums wurde im November des gleichen Jahres publik, aber sowohl 2007 als auch 2008 scheiterte der Entwurf noch in der Abstimmungsphase zwischen Gesundheits- und Finanzministerium. Der Zeitrahmen zur Umsetzung der Reform wurde dabei immer weiter nach hinten geschoben.

Neue Initiative

Der diesjährige Entwurf ist bemerkenswert, weil ihm eine Machbarkeitsstudie zugrunde liegt, die vom Finanzministerium in Auftrag gegeben wurde. Finanzierungsvorbehalte sind deswegen unwahrscheinlicher. Zudem könnte die auslaufende Amtszeit des Präsidenten für einen letzten Schub zur Umsetzung des Wahlprogramms von 2005 sorgen. Anders als in den letzten Jahren war die Reform des Gesundheitssektors 2009 außerdem wieder Thema auf der eben beendeten Jahreskonferenz der Regierungspartei NDP.

Eines der beiden Hauptziele des Gesetzentwurfs ist die Neudefinition der Rolle des Staates. Damit ist insbesondere die strukturelle Trennung von Angebot, Finanzierung und Regulierung gemeint. Denn über die letzten Jahrzehnte ist ein kompliziertes Durcheinander staatlicher Akteure, Programme und Aktivitäten gewachsen. Öffentliche Kliniken und Krankenhäuser werden parallel zueinander vom Gesundheitsministerium, der Krankenversicherungsorganisation und dem Ministerium für höhere Bildung betrieben. Hinzu kommen zahlreiche Ministerien und Behörden, die eigene Einrichtungen exklusiv für ihre Mitarbeiter unterhalten. Dabei liegen der Betrieb der Klinik, die Regulierung und Kontrolle sowie die Finanzierung oft in einer Hand.

Das neue Gesetz sieht die strikte Trennung dieser Funktionen vor, die von neuen, mit unabhängigen Budgets ausgestatteten Organisationen wahrgenommen werden sollen. So sollen die öffentlichen Kliniken und Krankenhäuser in eine Dachgesellschaft überführt werden, die durch das Krankenversicherungsgesetz gegründet wird. Die Aufsicht und Kontrolle und Akkreditierung würde in den Händen einer zweiten neuen Institution liegen. Und als Drittes sieht der Gesetzentwurf die Einrichtung eines nationalen Krankenversicherungsfonds vor, der die Finanzierung übernähme.

Änderung der Geldflüsse

Doch entscheidend ist nicht allein die Auslagerung der Funktionen in eigenständige Organisationen. Der eigentliche Systemwechsel liegt darin, dass der Krankenversicherungsfonds prinzipiell alle Anbieter unter Vertrag nehmen kann, die die Qualitätsanforderungen der Akkreditierung erfüllen. Dadurch ändern sich die Geldflüsse, die das System finanzieren.

In den letzten zehn Jahren ist der Anteil privater Ausgaben im Gesundheitssektor von 50 auf 60 Prozent gestiegen. Dabei handelt es sich ganz überwiegend um Direktzahlungen. Private Versicherungen spielen kaum eine Rolle. Bisher verlaufen die Geldflüsse aus der Staatskasse und den Brieftaschen der Bürger weitgehend getrennt. Der Großteil (60 Prozent) der Direktzahlungen von Patienten geht an kleinere private Klinken und Praxen und knappe 9 Prozent an private Krankenhäuser. Nur etwas über 8 Prozent der Direktzahlungen landen über Gebühren und Zuzahlungen bei öffentlichen Einrichtungen. Staatliche Gelder gingen demgegenüber bislang fast ausschließlich an öffentliche Einrichtungen.

Das neue System lässt private und staatliche Geldflüsse erstmals in nennenswertem Umfang zusammenfließen. Denn private Kliniken, die vom Krankenversicherungsfonds unter Vertrag genommen werden, erhalten die gleichen Zahlungen für die Behandlung von Versicherten wie öffentliche Konkurrenten. Und öffentliche Kliniken erhalten weitaus höhere Zuzahlungen ihrer Patienten als bisher, weil die Zuzahlung für ambulante Behandlung von 10 auf 30 Prozent heraufgesetzt wird.

Wettbewerb als Reformziel

Das stärkere Zusammenfließen privater und öffentlicher Ausgaben im Gesundheitssektor lässt zum einen auf Synergieeffekte in diesem unterfinanzierten Bereich hoffen. Zum anderen verstärkt es den Wettbewerb. Gemessen an ihrem Anteil an den Gesamtausgaben für Gesundheit dominieren im Segment der kleineren Kliniken und Praxen bereits jetzt die privaten Anbieter, die von der Möglichkeit, Verträge mit dem Krankenversicherungsfonds abzuschließen, noch einmal profitieren dürften. Im Krankenhausbereich wendet sich wegen der hohen Kosten die Mehrzahl der Patienten an die hochsubventionierten öffentlichen Krankenhäuser. Doch auch hier hatten sich in den letzten Jahren private Anbieter über versicherungsähnliche Beitragsmodelle eine Nische erschlossen, die sie im neuen System ausweiten können. Der Wettbewerbsdruck für öffentliche Einrichtungen wird also unbestreitbar größer.

Die Angst vor Privatisierung

Der von Kritikern erhobene Vorwurf der schleichenden Privatisierung verbindet sich mit der Befürchtung, dass die in eine Dachgesellschaft transferierten öffentlichen Kliniken komplett verkauft werden könnten. Vor diesem Hintergrund hatte das Verfassungsgericht 2008 einen Beschluss des Premierministers für verfassungswidrig erklärt, der die im Gesetzentwurf beschriebene Gründung einer Dachgesellschaft vorweggenommen hatte. Ein ausdrückliches Verbot, die Dachgesellschaft zu verkaufen, wie es Gesundheitsminister Al-Gabali in der Vergangenheit ins Spiel gebracht hatte, ist im Gesetzentwurf soweit ersichtlich bisher nicht enthalten. Dennoch scheint eine derart abrupte Privatisierung unrealistisch. Wahrscheinlicher ist ein schrittweiser Rückzug aus Bereichen, in denen der Staat nicht konkurrenzfähig ist.

Für die meisten Versicherten der staatlichen Krankenversicherung bringt das neue Gesetz höhere Kosten in Bezug auf Beiträge, Gebühren und Zuzahlungen. Damit verbunden ist allerdings die Absicht, den Versicherungsschutz in Zukunft schrittweise auf alle Bevölkerungsgruppen auszuweiten. Für die Einkommensschwachen sollen Beiträge und Zuzahlungen vom Staat übernommen werden. Dadurch würden die bürokratischen und aufwendigen Behelfsprogramme, die gegenwärtig und unabhängig von einer Krankenversicherung soziale Ungerechtigkeiten mindern sollen, langfristig überflüssig. Wie lange die Ausweitung des Versicherungsschutzes aber dauern wird, ist ungewiss. In Suez ist vor kurzem allerdings ein Pilotprojekt angelaufen, welches das neue System implementieren soll und erste Erfahrungen liefern wird.

Fazit

Über die Erfolgschancen des neuen Systems lässt sich bislang nur spekulieren. Zu viel hängt von Details ab. Entscheidend werden vor allem das Vertrauen der Patienten in staatliche Strukturen und die Bereitschaft privater Anbieter, sich unter Vertrag nehmen zu lassen, sein. Zudem handelt es sich um einen vorläufigen Entwurf – und die Liste wichtiger Gesetzgebungen, deren Beschluss seit Jahren nicht vorankommt, ist lang. Bereits heute ist aber offensichtlich, dass der mit erheblichen EU-Geldern unterstützte Reformprozess an politische Grenzen stößt. Alle Veränderungen bleiben strikt auf ökonomische und organisatorische Aspekte beschränkt. Die dringend notwendige Reduzierung der Zahl der Ärzte im Staatsdienst und eine Begrenzung der Absolventenzahlen medizinischer Fakultäten sieht das Reformprojekt nicht vor. Derartige Schritte würden auf massive Widerstände in der Bevölkerung stoßen und wären politisch zu riskant. Der anvisierte Systemwechsel ist daher ein organisatorischer und institutioneller. Die politischen Grundprobleme des ägyptischen Gesundheitssystems lässt er unangetastet.

Björn Bentlage ist Lehrbeauftragter für Islamwissenschaft an der Universität Bonn und promoviert an der Ruhr-Universität Bochum.

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