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Länderberichte

Wahlbericht Nr. 4

von Ralf Wachsmuth †, Igor Plaschkin

Endlich geschafft! – Machtwechsel in der Ukraine

Die Wahl des Präsidenten der Ukraine scheint nun abgeschlossen. Internationale Wahlbeobachter sind mit dem Ablauf der Wahl zufrieden und bestätigen das klare Ergebnis zugunsten des bisherigen Oppositionsführers Viktor Juschtschenko.

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Am Nachmittag des 28. Dezember gab die Zentrale Wahlkommission das vorläufige amtliche Endergebnis der wiederholten Stichwahl vom vergangenen Sonntag bekannt. Danach heißt der neue ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko. Rechtsstaat und Demokratie haben gesiegt und dem westlich orientierten Reformpolitiker durch eine faire und freie Wahl eine legitime Grundlage verliehen. Juschtschenko hat im 3. Urnengang innerhalb von 57 Tagen zwar mit einem überzeugenden Vorsprung gewonnen, doch so überwältigend wie die Prognosen und Exit-Polls verhießen, war er nicht (s.u.). Juschtschenko hat eine entscheidende Hürde übersprungen, doch am Ziel ist er noch lange nicht. Die eigentlichen Bewährungsproben stehen erst noch bevor. Ob die in wenigen Tagen beginnende Ära Juschtschenko tatsächlich als der eigentliche Beginn der ukrainischen Unabhängigkeit in die Geschichtsbücher Einzug halten wird, werden bereits die kommenden Monate zeigen. Ein Sieger steht unzweifelhaft fest: das ukrainische Volk, das mit dem unerschütterlichen Glauben an seine Macht und durch eine entschlossen und ausschließlich mit friedlichen Mitteln geführte ‚orangene Revolution’ die Regierenden zum Einlenken und damit zur Einhaltung demokratischer Spielregeln zwang. Das vom Präsidenten Kutschma, seiner Präsidialverwaltung und der pro-präsidentiellen Parlamentsmehrheit über Jahre fast bis zur Perfektion eingeübte „Spiel mit den Regeln“ statt „nach den Regeln“ fand am 26. Dezember 2004 ein abruptes Ende.

Im Westen Top – im Osten Flop

Der mit dem offiziellen Wahlkampfauftakt am 3. Juli 2004 begonnene Wahlmarathon mit drei Urnengängen (am 31.10., 21.11. und 26.12.) und einer Bürgerrevolution (22.11- 8.12.) fand am 28. Dezember allem Anschein nach mit der Bekanntgabe des amtlichen Wahlergebnisses seinen Abschluss. Danach hat Viktor Juschtschenko bei einer Wahlbeteiligung von 77,19% mit 51,99% (entspricht 15 115 452 Wählerstimmen) einen überzeugenden Sieg errungen. Sein Widersacher und derzeitige Premierminister Viktor Janukowitsch kam auf 44,19% (entspricht 12 848 087 Wählerstimmen).

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Die drei von unterschiedlichen soziologischen Firmen durchgeführten Exit-Polls sahen einstimmig Juschtschenko als klaren Favoriten.

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Wie in der vorhergegangenen Wahlrunde war es Juschtschenko gelungen, in 16 Gebieten und der Stadt Kiew die Mehrheit zu erlangen. Am erfolgreichsten war er wiederum im Zentrum und im Westen, wo er bis zu 96,03% (Gebiet Ternopil) erreichte. Tristesse dagegen im hochindustrialisierten Osten. In Donezk, der Hochburg von Janukowitsch, kam er aber über einen Anteil von 4,21% nicht hinaus (am 21.11.: 2,03%). Auch das Ergebnis in Lugansk war wenig erfreulich: nur 6,21% stimmten für Juschtschenko. Die Industriezentren des Ostens Dnipropetrowsk (32%), Charkiw (26,37%), Lugansk und Donezk scheinen für ihn ebenso vernagelt zu sein wie das überwiegend russisch-sprachige Sewastopol (7,96% für Juschtschenko). Was für Juschtschenko der Osten sind spiegelbildlich der Westen und die Hauptstadt Kiew (13,77%) für Janukowitsch. Geradezu deprimierend der Wahlausgang in Ternopil (2,70%), Iwano-Frankiwsk (2,86%) und Lwiw (4,72%). Im Endergebnis konnte Janukowitsch also 8 Gebiete, die Stadt Sewastopol und die autonomen Republik Krim auf seiner Habenseite verbuchen. Das Ergebnis verdeutlicht, dass die Ukraine ein ethnisch-kultureller Graben durchzieht. Vereinfacht formuliert: je stärker russisch geprägt das Gebiet, um so größer die Zuneigung zu Janukowitsch, dem eine Russland-freundlichere Haltung zugeschrieben wird als Juschtschenko. Von einer Spaltung des Landes zu reden, wäre aber eine unverantwortliche Übertreibung. Die Separationsbestrebungen einiger östlicher Oblaste als Reaktion auf die Entscheidung zahlreicher Städte der Westukraine, Juschtschenko bereits nach der 2. Wahlrunde als Präsidenten anzuerkennen, die tatsächlich der Befürchtung eines Auseinanderbrechens des Landes Nahrung gaben, brachen bereits innerhalb weniger Tage in sich zusammen. Die Befürchtung, Zehntausende wütender Bergleute würden sich im Falle einer Wahlniederlage von Janukowitsch zu möglicherweise gewalttätigen Protestaktionen in die Hauptstadt Kiew auf den Weg machen, hat sich zum Glück nicht bewahrheitet. Auch die Situation in Kiew selbst trotz der Anwesenheit mehrerer Tausend Janukowitsch Anhänger aus dem Osten des Landes blieb ausnahmslos friedlich und relativ entspannt. Die Mischung aus politischem Protest, Musikfestival und Volksfeststimmung auf dem Kiewer Maidan (Unabhängigkeitsplatz) schien auf die „Weiß-Blauen“ anziehend zu wirken: je länger die Protestaktionen der Opposition in Kiew andauerten, desto mehr liefen zu den „Orangenen“ über. Juschtschenko und seine Sympathisanten hatten für die zumeist jugendlichen Janukowitsch-Anhänger ihren Schrecken verloren. Eine Großveranstaltung für Janukowitsch vor dem Zentralbahnhof, an der etwa 10.000 – 15.000 Menschen teilnahmen, löste sich unmittelbar nach der Rede des Präsidentschaftskandidaten auf. Anhänger des ‚gegnerischen Lagers’ mischten sich unter die Blau-Weißen und nach einigen freundlichen Worten und noch mehr Wodka war die gesamtukrainische Bruderschaft schnell wieder hergestellt. Diese Ausschnitte zeigen, dass der Ost – West Graben durchaus wieder zugeschüttet werden kann und die Grenzen in den Köpfen verschwinden können. Janukowitsch hat in seinem Wahlkampf die Ost – West Unterschiede instrumentalisiert und eine Angstkampagne durchgeführt, die bedauerlicherweise durch unbedachte Bemerkungen von Politikern aus dem Juschtschenko Lager geschürt und aus Moskau tatkräftig unterstützt wurde. Hinzu kommt, zumindest bis zur ersten Wahlrunde, eine einseitige, gegen Juschtschenko gerichtete Berichterstattung in den Medien (mit Ausnahme des Kanals 5, der allerdings nicht überall zu empfangen ist).

Alle drei Wahlgänge auf einen Blick

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Lob der internationalen Wahlbeobachter

„Dies ist ein einzigartiger, sauberer politischer Sieg,“ jubelte Juschtschenko gemeinsam mit seinen Anhängern nach der Bekanntgabe der ersten Auszählungsergebnisse in der Nacht von Sonntag auf Montag. Diese Aussage steht in Einklang mit dem Bericht der Wahlbeobachter von OSZE-ODIHR, Europäischem Parlament, dem Europarat und den Parlamentarischen Versammlungen der OSZE und NATO. Der Vorsitzende der internationalen Wahlbeobachtungsmission Bruce George sagte anläßlich der Präsentation des vorläufigen Abschlussberichts am Montag nachmittag, dass das Land am Sonntag einen großen Schritt in Richtung auf freie und demokratische Wahlen gemacht habe. Auch Botschafter Geert-Hinrich Ahrens, Leiter der OSZE-ODIHR Langzeitbeobachtermission, sprach von großen Fortschritten vor allem bei der Arbeit der Zentralen Wahlkommission. Massive Fälschungen habe es im Gegensatz zu den vorhergegangenen Runden nicht gegeben, so die einhellige Meinung der internationalen Beobachter. Ein Heer von etwa 12.000 Wahlbeobachtern war im Land unterwegs und verfolgte die Wahlen. Allein die OSZE entsandte die Rekordzahl von 1.370 Beobachtern aus 44 Ländern. Auch nach vorläufiger Beurteilung ukrainischer Beobachter „gab es keine massive Beeinflussung durch die Medien, keinen Druck durch die Behörden und keine Manipulationen,“ so der Vorsitzende des Wählerkomitees der Ukraine, Igor Popow, für dessen Organisation mehr als 10.000 Beobachter im Einsatz waren. Es seien nur „Verstöße technischer und nicht systematischer Natur“ feststellbar gewesen.

Droht ein weiterer Rechtsstreit?

Im Gegensatz zu den oben zitierten positiven Stellungnahmen sprach bereits vor der Schließung der Wahllokale Taras Tschornowil, Leiter des Janukowitsch-Stab, von massiven Manipulationen. Seinen Berechnungen nach seien etwa drei Millionen Stimmen verfälscht worden: 1,5 Millionen Stimmen seien in Westukraine stellvertretend für im Ausland befindliche Ukrainer abgegeben worden und weitere 1,5 Millionen wegen der Verwirrung um das neue Wahlgesetz der Möglichkeit ihrer Stimmabgabe beraubt worden. Es droht also ein rechtliches Nachspiel, sollte Janukowitsch tatsächlich das Oberste Gericht in dieser Angelegenheit anrufen und das Ergebnis anfechten. Experten wie Alexander Litwinenko vom Rasumkow-Zentrum bezweifeln jedoch, dass das Janukowitsch Lager ausreichende Beweise vorlegen kann. Hinzu kommt, dass der Vorsprung von Juschtschenko groß genug sein müßte, als dass selbst eine erfolgreiche Klage ihm den Wahlsieg noch nehmen könnte.

Laut Wahlgesetz muss die Zentrale Wahlkommission innerhalb einer Frist von fünfzehn Tagen das Wahlergebnis bekannt geben. Nach der Bekanntgabe haben beide Seiten sieben Tage Zeit, das Ergebnis anzufechten. Sollte es zu keiner Klage kommen, könnte die Amtsübernahme frühestens am 5. Januar erfolgen. Parlamentssprecher Lytwyn ließ aber bereits verlauten, dass seiner Meinung nach die Feierlichkeit in der Woche nach dem orthodoxen Weihnachtsfest stattfinden soll und schlägt als Termin den 13. oder 14. Januar vor. Sollte sich das Gericht allerdings des Falles annehmen, was eher unwahrscheinlich ist, könnte sich die Übergabe der Amtsgeschäfte weiter verzögern.

Das umstrittene Wahlgesetz, auf das sich Tschornowil bezieht, war Teil eines Pakets, über das das Parlament am 8. Dezember abstimmte und dem eine überwältigende Mehrheit (402 von 450 Abgeordneten) aus völlig unterschiedlichem Kalkül zustimmten. Dieses mit Hilfe internationaler Vermittler geschnürte Paket beinhaltete die Änderungen des Wahlgesetzes und als weiteren zentralen Bestandteil die Verabschiedung einer Verfassungsreform und rettete das Land nach Meinung politischer Experten vor einer schweren Staatskrise und schuf die Voraussetzungen für faire Wahlen. Beide Seiten feierten die Paketvereinbarungen als ihren Sieg und den Sieg des ukrainischen Volkes. Das Gesetzespaket sorgte allerdings für eine Spaltung der Opposition und vor allem der Teil zur Verfassungsreform stellt sich immer mehr als ein Sprengsatz heraus, der mehr Probleme schafft als löst. Der Block Julia Timoschenko stimmte gegen das Gesetz und bereitet eine Verfassungsklage vor. Viktor Juschtschenko selbst enthielt sich der Stimme.

Die von der Opposition nach der Stichwahl am 21. November erarbeiteten Änderungen zum Präsidentschaftswahlgesetz, die nur für die Stichwahl am 26. Dezember gelten und nach den Wahlen wieder außer Kraft treten, schränken die Wahl mit Abwesenheitsscheinen und außerhalb der Wahllokale (mit Wanderurnen) wesentlich ein. Es waren insbesondere die neuen Bestimmungen zur Stimmabgabe Behinderter und Alter, die früher uneingeschränkt zu Hause mit Hilfe der Wanderurnen wählen durften, die auf eine heftige Kritik nicht nur aus dem Lager Janukowitsch, sondern auch von zahlreichen Menschenrechtsgruppen stießen. Die Änderung erlaubte „die Wahl zu Hause“ ausschließlich für die Schwerstbehinderten; alle anderen Kategorien hatten diese Möglichkeit nicht mehr. Nach Meinung des Wahlstabs von Janukowitsch würden durch diese neue Regelung alte Leute, die mehrheitlich Janukowitsch wählen würden, ihres Wahlrechts beraubt. Die Verbündeten von Janukowitsch im Parlament wandten sich mit einer Klage an das Verfassungsgericht, das am Morgen des 25. Dezember, also einen Tag vor der Stichwahl, dieser Klage teilweise stattgab damit die alte Regelung wieder in Kraft setzte, nach der alle Personen, die einen entsprechenden Antrag mit der ärztlichen Bescheinigung spätestens bis um 20 Uhr des Vorwahltags bei der lokalen Wahlkommission eingereicht haben, zu Hause abstimmen durften. Diese Unstimmigkeiten und darauf folgende Verwirrung in den Wahlkommissionen haben dazu geführt, dass nach den Worten von Taras Tschornowil etwa 1,5 Millionen Menschen mit Gehbehinderungen ihr Wahlrecht nicht ausüben konnten. Nach seinen Angaben sind sieben ältere Menschen, die trotz ihres schlechten gesundheitlichen Zustandes doch ihre Wahllokale besuchten, verstorben.

Janukowitsch – vom Sessel des Premierministers auf die harte Oppositionsbank?

Unabhängig von einer möglichen Klage hat Janukowitsch seine Niederlage bereits eingeräumt und angekündigt, eine starke Opposition aufzubauen, die er selbst anführen werde. Dieses Vorhaben dürfte angesichts der Erosion im noch-Regierungslager nur schwer wenn überhaupt zu realisieren sein. Innerhalb weniger Wochen haben die Regierungsfraktionen ihre Mehrheit verloren. Hauptleidtragender dieser Entwicklung ist neben Janukowitsch auch der frühere Nachfolger von Juschtschenko im Amt des Premierministers Anatolij Kinach. Bis vor kurzem noch als Vorsitzender der Partei Industrieller und Unternehmer der Ukraine (eine der so genannten Oligarchen-Parteien) Teil der pro-präsidentiellen Parlamentsmehrheit und Gegenkandidat von Juschtschenko in der ersten Wahlrunde (mit etwa 1% der Stimmen abgeschlagen aus dem Rennen geworfen) wechselte er rechtzeitig die Fronten und unterstützt gemeinsam mit Julia Timoschenko und dem Sozialisten Moros Juschtschenko. Der erst am 14.05.2004 geschlossene Fraktionsverbund seiner Partei mit der Demokratischen Volkspartei löste sich allerdings im Dezember bereits wieder auf. Die Abgeordneten schlossen sich anderen Fraktionen an oder gesellten sich zu der Gruppe der Fraktionslosen, die seit Mitte November eine wundersame Vermehrung erfuhr und sich mehr als verdoppelte (von 18 auf 47) und mittlerweile die viertgrößte ‚Fraktion’ darstellt. Sollte Janukowitsch tatsächlich seine zukünftige Rolle als Oppositionsführer sehen, hat er zunächst einmal ausreichend Zeit, sich außerhalb des Parlaments auf diese neue Herausforderung vorzubereiten. Als Premierminister ist er nicht Mitglied des Parlaments und muss sich entweder bis zu den nächsten Parlamentswahlen im März 2006 gedulden (was unwahrscheinlich ist) oder einen Abgeordneten zur Aufgabe seines Direktmandats in einem sicheren Wahlkreis zu ‚überreden’, um sich als Kandidat aufstellen zu lassen und über diesen Umweg ins Parlament einzuziehen. Nach Meinung der meisten politischen Experten sollte Janukowitsch seine Niederlage eingestehen und unverzüglich vom des Amt des Premierministers zurücktreten. Seine Lage wird zunehmend aussichtslos: selbst seine politischen Freunde (wenn er jemals welche hatte) rücken von ihm ab, sein Hauptfinanzier, der Donezker Oligarch Achmetow knüpft bereits erste zarte Kontakte zu seinem ‚Erzfeind’ Juschtschenko und Kutschma scheint nur noch genervt zu sein und möchte dem Spuk möglichst bald ein Ende bere iten.

Quo vadis, Juschtschenko?

Mit dem Sieg des pro-westlichen Juschtschenko ist der vom gesamten Westen herbeigesehnte und durch faire Wahlen – wenn auch im zweiten Anlauf - legitimierte Politikwechsel eingetreten. Während des gesamten Wahlkampfs von der Woge einer revolutionären Euphorie getragen wird der neue Präsident sich ab sofort in die Niederungen des politischen Alltagsgeschäfts begeben und sich den ungeheuer großen Erwartungen seiner Anhänger stellen müssen. Die Ausgangsposition könnte kaum schwieriger, die Aufgaben, vor denen er steht, kaum größer sein. Erschwerend kommt hinzu, dass die Hoffnungen von 52% der Bevölkerung – davon die große Mehrheit aus der im Vergleich zum Osten ärmeren Westukraine – nicht auf einem Führungsteam, einer Partei oder Koalition von mehreren Parteien lastet, sondern ausschließlich auf seinen Schultern. Juschtschenko ist Person und Programm zugleich. Er wird bereits jetzt von seinen Anhängern in den Himmel der politischen Heiligen erhoben, bevor er überhaupt ein Gesetz unterzeichnet hat. Auf der anderen Seite hat ihm eine ganze Region im Osten des Landes – bevölkerungsstärker und wirtschaftlich weiter entwickelt als der Westen – eine Abfuhr erteilt. Unter solchen Bedingungen sind Enttäuschungen bei der Anhängerschaft vorprogrammiert.

In den nächsten Tagen und Wochen wird er, bevor er sich politischen Inhalten zuwenden kann, knifflige Personalentscheidungen treffen und einen Premierminister, sein Ministerkabinett, Botschafter und Gouverneure benennen müssen. Juschtschenko hat sich aus gutem Grund zu diesem brisanten Thema bislang nicht öffentlich geäußert, aber hinter den Kulissen hat bereits der Kampf um Posten und Pöstchen begonnen. Die Kiewer Gerüchteküche hat gleich mehrere Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten parat: Timoschenko, Kinach, Poroschenko, Lytwyn oder Moros. Frau Timoschenko hat bereits deutlich gemacht, dass sie einen „würdigen“ Posten für sich beansprucht. Auch Moros wird sich, obwohl seine Sozialistische Partei mit 20 Abgeordneten nur eine unbedeutende Rolle im Parlament spielt, nicht mit einem unbedeutenden Posten abspeisen lassen.

Noch schwieriger wird es sein, die hohen Erwartungen der Bevölkerung zu erfüllen. Die Menschen erwarten neben mehr Demokratie und Mitspracherecht eine Erhöhung ihres Lebensstandards. Sie fordern die Bekämpfung der Hauptübel der Gesellschaft: Korruption, Vetternwirtschaft und Einfluss der Clans und Oligarchen. Juschtschenko wird nicht umhinkönnen, die Modernisierung der Wirtschaft voranzutreiben, was nicht ohne den Verlust von Arbeitsplätzen vor allem in der Stahl- und der hoffnungslos antiquierten Kohleindustrie im Osten gelingen wird. Er wird den bisher vernachlässigten Dialog zum Thema ‚Nation Building’ anstoßen müssen, um die Menschen in allen Teilen des Landes zu überzeugen, dass sie alle Bürger eines Staates Ukraine sind.

Juschtschenko wird es nicht allen recht machen können, weder seiner eigenen Bevölkerung noch den Freunden im Ausland. Er wird mit denen Kompromisse schließen müssen, die er und seine Anhänger in den vergangenen Wochen in der orangenen Revolution bekämpft haben um der inneren Befriedung willen. Das wird bei vielen seiner Anhänger im In- und Ausland auf Unverständnis und Ablehnung stoßen.

Juschtschenko hat sich mit seinem Wahlsieg die Möglichkeit eröffnet, als erfolgreicher Reformpolitiker in die Geschichte der Ukraine einzugehen, der sein Land zu einem Modell für Demokratie, Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit macht, von dem Modernisierungssignale in andere Länder der ehemaligen Sowjetunion ausgehen. Diese Herkulesarbeit kann er allerdings nicht ohne russische Unterstützung und Hilfe von seinen europäischen Nachbarn leisten. Ein demokratischer Wechsel wurde erreicht. Doch eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Die Europäische Union sollte die Entwicklung in den kommenden Wochen und Monaten sorgfältig beobachten, die Qualität und Quantität ihrer Unterstützung an die innenpolitischen Reformfortschritte koppeln und gegebenenfalls der Ukraine eine solide und glaubwürdige Perspektive anbieten. Die ukrainische Bevölkerung erwartet zu Recht eine klare und ehrliche Antwort, wie immer sie auch ausfallen mag. Die europäischen Freunde der Ukraine und die EU selbst sollten von allen Versuchen Abstand nehmen, das Thema Ukraine für innenpolitische Spielchen zu nutzen. Dies würde nicht nur den ukrainischen Partner irritieren, sondern wäre unfair gegenüber dem Land und dessen Menschen. Die Zeit zum Handeln ist knapp bemessen. Die nächste ‚Schicksalswahl’ wirft bereits ihre Schatten voraus: die Parlamentswahlen im März 2006 stehen praktisch schon vor der Tür. Bis dahin muss man sich auf so manche gute wie auch unerfreuliche Überraschung aus der Ukraine gefasst machen.

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