Rüstow, Alexander
Rüstow, Alexander
geb. am 08.04.1885, gest. am 30.06.1963
„Brauchst Du eine hilfreiche Hand, so suche sie zunächst am Ende Deines rechten Armes“. Dieses von Rüstow gerne genutzte Bonmot beschreibt seine tiefe Überzeugung, nach der auf der Grundlage von Freiheit und Eigenverantwortung jedes Individuum – im Rahmen seiner Kräfte – zunächst selber für die Gestaltung und Absicherung seines Lebens sowie für die Prägung seines (unmittelbaren) Umfeldes verantwortlich ist. Bis Rüstow allerdings zu dieser Erkenntnis fand, war es ein weiter Weg, der ihn über eine breite humanistische Ausbildung, eine tiefe Auseinandersetzung sowohl mit der Theorie des Sozialismus als auch mit der des Liberalismus in die Opposition und schließlich ins Exil während des Dritten Reiches geführt hat.
Unter dem Eindruck der anhaltenden Wirtschaftskrise in der Weimarer Republik forderte Rüstow bereits 1932 eine vollständige Abkehr von der interventionistischen Wirtschaftspolitik des Staates (Interventionismus). Stattdessen sollte sich der Staat – wie ein Schiedsrichter – auf die Gestaltung und Einhaltung der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen konzentrieren. Die Durchsetzung des Wettbewerbsprinzips als dem grundlegenden marktwirtschaftlichen Koordinationsverfahren dient dabei der Schaffung und Sicherung der persönlichen Entscheidungs- und Handlungsspielräume.
Rüstows Ziel war eine freiheitliche Ordnung des Gemeinwesens, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt und mit ihren Ordnungselementen die menschlichen Verhaltensweisen erfasst und nutzt. Diese Vorstellung von einer Gesellschaftsordnung entwickelte sich bei Rüstow, weil er sich mit ganz unterschiedlichen Themen beschäftigte und schließlich die Erkenntnisse aus seinen kulturhistorischen, soziologischen und wirtschaftswissenschaftlichen Forschungen zu einem Puzzle zusammensetzte. Und weil Rüstow einer der ersten in dieser Denkrichtung war, wird er heute neben Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Alfred Müller-Armack, Franz Böhm und Ludwig Erhard zu den Gründungsvätern der Sozialen Marktwirtschaft gezählt.
In der von Rüstow skizzierten Gesellschaftsform,
in der Demokratie und
Marktwirtschaft untrennbar miteinander
verflochten sind, bestehen
unterschiedliche Interessensphären,
die er in wirtschaftliche und überwirtschaftliche
gliedert. Für die Wirtschaft
spricht er von deren dienender
Funktion, die nicht mehr als nur die
materielle Versorgung des Einzelnen
sowie der Gemeinschaft sicherzustellen
hat. Grundsätzlich gilt für den
Markt der Wettbewerb als Organisationsprinzip.
Gleichzeitig aber begrenzen
die durch die Ordnungspolitik
gesetzten Rahmenbedingungen
den Wettbewerb der Wirtschaftssubjekte
auf dem Markt und schützen
diesen vor Monopolbildung und
Wettbewerbsverzerrungen. Die darüber
hinausgehenden Lebensbereiche
wie Kultur, Erziehung und Familie,
Ethik und Religion oder Staat sind für
Rüstow von größerer Bedeutung als
das Wirtschaften; in diesen Lebensbereichen
werde das Verhalten durch
moralische Werte gesteuert.
Diesen ordnungspolitischen Rahmen
will Rüstow durch eine umfassende,
in sich logische Sozialpolitik –
er nennt sie „Vitalpolitik“ – ergänzen.
Mittels dieser Vitalpolitik will er das
tägliche Leben des Einzelnen, dessen
familiäre Situation, dessen Wohn- und
Arbeitsumfeld, also dessen
Wohlbefinden insgesamt menschenwürdig
gestalten. Rüstow sieht die
von ihm konzipierte Vitalpolitik als
Bestandteil der Wirtschaftspolitik an
und unterwirft sie damit auch grundsätzlich
den gleichen Anforderungen.
Entsprechend gelten für die Vitalpolitik
die Prinzipien der Marktkonformität,
der Subsidiarität und der grundsätzlichen
Gleichwertigkeit von Leistung
und Gegenleistung im Rahmen
des wirtschaftlichen Tauschprozesses.
Sozialpolitisch motivierten Fragen,
wie etwa die der sozialen Sicherung,
der Start- und Bildungsgerechtigkeit
oder der Siedlungs- und Familienpolitik,
sind somit nur im Rahmen
der neoliberalen Ordnungsvorstellungen
zu lösen. Die soziale Frage wird
damit von Rüstow grundsätzlich als
Teil der Wirtschaftsordnungsfrage gesehen.
Zur Realisierung dieser neoliberalen
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung
stellt Rüstow klare Anforderungen
an jedes Mitglied der Gesellschaft.
Er fordert einen rücksichts- und
verantwortungsvollen Umgang
miteinander und den Respekt vor
den Bedürfnissen des jeweils anderen.
Darüber hinaus appelliert er immer
wieder an das Individuum, das
eigene Schicksal selbst in die Hand
zu nehmen und im jeweiligen Umfeld
für den Erhalt der persönlichen
und damit auch der gesellschaftlichen
Freiräume zu arbeiten.
Rüstow hat einen wesentlichen
Einfluss auf die Ausgestaltung des
Neoliberalismus genommen; konkret
auf
- die geistesgeschichtliche Fundierung der neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sowie deren Abgrenzung gegenüber Sozialismus und (altem) Wirtschaftsliberalismus,
- das Kennzeichnen der Bedeutung, die ein Ordnungsrahmen für den Erhalt einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung hat, sowie
- die Kennzeichnung der überwirtschaftlichen Einflussgrößen auf die Gestaltung der menschlichen Lebensräume.
in Form der Subsidiarität, der
Leistungsgerechtigkeit sowie der
Konsistenz wirtschaftspolitischen
Handels in der seit 1948 praktizierten
Wirtschaftspolitik nur begrenzte Berücksichtigung
gefunden. Neben einer
Vielzahl von Momenten, die eine
mangelhafte Verwirklichung der Sozialen
Marktwirtschaft begünstigt haben,
ist sicherlich ein Grund auch darin
zu sehen, dass die Entwicklung
der komplexen, neoliberalen Wirtschafts-
und Gesellschaftsordnung einerseits
und deren politische Umsetzung
andererseits, weitgehend in unterschiedlichen
Händen lag und somit
zu vermuten ist, dass bei den
politisch Verantwortlichen ein tiefes
Verständnis für die Gestaltung des
neoliberalen Ordnungsrahmens fehlte.
Bis in das hohe Alter wurde Rüstow
nicht müde, sich u. a. als Vorsitzender
der Aktionsgemeinschaft Soziale
Marktwirtschaft (ASM) auf dem
Wege der Politikberatung für eine
ordnungskonforme Ausgestaltung der
Sozialen Marktwirtschaft einzusetzen.
Wissenschaftlicher und beruflicher Werdegang
1903 Humanistisches Abitur in Berlin; 1903-1908 Studium der klassischen Philologie, Philosophie, Mathematik, Physik, Jura sowie Nationalökonomie in Göttingen, München und Berlin; 1908 Promotion in klassischer Philologie über das kretische Lügnerparadoxon (Der Lügner. Theorie, Geschichte und Auflösung. Leipzig 1910); 1908-1911 Lektor in einem renommierten Leipziger Verlag für klassische Texte; 1914-1918 Kriegsdienst bei der Artillerie, zum Schluss als Leutnant d. R., Träger des Eisernen Kreuzes I. und II. Klasse; 1919-1924 Referent für Kartellfragen im Reichswirtschaftsministerium; 1924-1933 Syndikus und Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung im Verein Deutscher Maschinenbauanstalten (VDMA); 1933-1949 Professor an der Universität zu Istanbul, Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte; 1949-1956 Professor an der Universität zu Heidelberg, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften; 1955-1962 Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft (ASM) .
Literaturhinweise:
- RÜSTOW, A. (1932), Freie Wirtschaft – Starker Staat (Die staatspolitischen Voraussetzungen des wirtschaftspolitischen Liberalismus), in: Boese, F. (Hrsg.), Deutschland und die Weltkrise, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 187, Dresden, S. 62-69, neu veröffentlicht in: Hoch, W. (Hrsg.) , Alexander Rüstow. Rede und Antwort, S. 249-258, ferner unter dem Titel: Interessenpolitik oder Staatspolitik? in: Der deutsche Volkswirt, Bd. 7, Nr. 6, Berlin 1932, S. 169-172;
- DERS. (1945), Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, in: Istanbuler Schriften, Nr. 12, Istanbul, Zürich, New York, 2. Aufl., Helmut Küpper 1950;
- DERS. (1950 u. a.) Ortsbestimmung der Gegenwart. Eine universalgeschichtliche Kulturkritik. I. Band: Ursprung der Herrschaft, Erlenbach-Zürich 1950, II. Band: Weg der Freiheit, Erlenbach-Zürich 1952, III. Band: Herrschaft oder Freiheit? Erlenbach-Zürich 1957.