Rueff, Jacques
Rueff, Jacques
geb. am 23.08.1896, gest. am 23.04.1978
Rueff verbindet als französischer Nationalökonom, Finanzexperte, Währungs- und Wirtschaftspolitiker wie kaum ein anderer innovative Beiträge zur ökonomischen Theorie mit erfolgreicher Tätigkeit in der praktischen Wirtschaftspolitik und Staatsverwaltung. Er hat die französische Währungs- und Wirtschaftspolitik stärker beeinflusst als jeder andere Wissenschaftler oder Politiker. Er hat sich stets für eine freiheitliche Wirtschaftsordnung und eine liberale Wirtschaftspolitik eingesetzt, auch in Zeiten, in denen dies nicht populär war. Mit der Theorie der Eigentumsrechte, mit seinem Kampf gegen die Inflation, mit der Kritik am Gold-Devisen-Standard und mit den Vorschlägen für eine Stabilitätspolitik und für eine Regelbindung der Geldpolitik war er seiner Zeit voraus. Einige seiner Reformvorschläge wurden später akzeptierte Praxis, z. B. im Europäischen Währungssystem und in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion.
Rueffs theoretisches Hauptwerk ist
L’ordre social (1. Aufl. 1945). Der Titel
der deutschen Übersetzung Die Soziale Ordnung (1952) ist missverständlich;
richtiger wäre „Die Wirtschafts-
und Gesellschaftsordnung“.
Ausgehend von einer Preis-, Produktions-,
Geld- und Markttheorie entwickelt
Rueff darin eine Inflationstheorie
und eine Theorie der Wirtschaftsund
Gesellschaftsordnung. Er geht
dazu von der damals innovativen
(und von den meisten Kritikern
kaum gewürdigten) Idee aus, dass jeder
Gütertausch (Kauf, Verkauf) am
Markt ein Austausch von Eigentumsrechten
(droits de propriété) ist. Damit
ist Rueff der wichtigste Vorläufer
der heutigen Theorie der Verfügungsrechte
(property rights theory). Mit
der Theorie der Eigentumsrechte erklärt
Rueff auch die Inflation: Der
Staat schafft zur Finanzierung eines
Budgetdefizits „falsche“ (oder „gefälschte“)
Eigentumsrechte, indem er
die (weisungsabhängige) Zentralbank zwingt, im Grunde wertlose Staatspapiere
als Grundlage der Schaffung
von Zentralbankgeld zu akzeptieren,
das dem Staat zur Nachfrage nach
Gütern und Dienstleistungen zur Verfügung
gestellt wird. Wenn die von
dieser Zusatznachfrage ausgelösten
Preissteigerungen durch einen Preisund
Lohnstopp verhindert werden,
entsteht statt der offenen eine „zurückgestaute“
Inflation („inflation réprimée“).
Der Kampf gegen die Inflation und
für Währungsstabilität bildet ein Leitmotiv
für Rueffs praktische wirtschaftspolitische
Arbeit. Schon 1926
leistete er wichtige Vorarbeit für die
Stabilisierung des Franc-Wechselkurses
und die Wiederherstellung der
Goldkonvertibilität des Franc durch
Ministerpräsident Poincaré. Rueff berechnete
auf der Grundlage von
Kaufkraft- und Lohnparitäten einen
Franc-Wechselkurs, der durch die
Einführung des stabilen und in Gold
konvertiblen „Franc Poincaré“ auch
realisiert wurde. Mit der richtigen
Wechselkurswahl erreichte Rueff,
dass die Rückkehr zur Goldwährung
in Frankreich nicht – wie vorher in
England – Deflation und Lohnsenkungen
zur Folge hatte.
Rueffs bedeutendste Leistung ist
zweifellos die Konzeption der Wirtschafts-
und Währungsreform in
Frankreich 1958, die sogar auf seine
Initiative zurückgeht. Die Wirtschaftslage
in Frankreich hatte sich 1958 krisenhaft
zugespitzt: hohes Haushaltsdefizit,
Inflation, Kapitalflucht,
Schrumpfen der Devisenreserven,
Devisenbewirtschaftung, Importprotektionismus,
Verlust der internationalen
Wettbewerbsfähigkeit, Abwertungsdruck.
Auf der Grundlage eines
Vorschlags von Rueff erarbeitete ein
Ausschuss unter seinem Vorsitz ein
konsistentes Reformprogramm für die
Regierung, das 1958/ 59 vom Regierungschef
de Gaulle und vom Finanzminister
Pinay in die Praxis umgesetzt
wurde: (1) Um die Inflation
zu stoppen, musste die Finanzierung
des Haushaltsdefizits durch die Zentralbank
verboten und das Defizit
selbst beseitigt werden. (2) Zur Behebung
des Budgetdefizits waren Steuern
zu erhöhen und konsumtive
Staatsausgaben – vor allem Subventionen
– zu reduzieren; staatliche
Investitionsausgaben wurden dagegen
erhöht (Staatsausgaben). (3)
Die Indexbindungen von Löhnen
und anderen Einkommen wurden
abgeschafft. (4) Um Preissteigerungen
zu verhindern, wurden zahlreiche
Mengenbeschränkungen für Importe
aufgehoben und so Wettbewerbsdruck
durch Importe hergestellt.
(5) Um die durch die Inflation
beeinträchtigte Wettbewerbsfähigkeit
der französischen Wirtschaft wiederherzustellen,
wurde der Franc abgewertet.
(6) Gleichzeitig wurde als
„vertrauensbildende Maßnahme“ eine
neue Währungseinheit der „Neue
Franc“ (= 100 alte Franc) geschaffen
und die Konvertibilität des Franc eingeführt,
d. h. die Devisenbewirtschaftung
aufgegeben.
Die Reform erwies sich als ein großer
Erfolg: Die französische Nachkriegsinflation
wurde schlagartig beendet,
der Staatshaushalt saniert, der
Wechselkurs stabilisiert, die Zahlungsbilanz
ausgeglichen, das Wirtschaftswachstum auf Jahre hin gesichert
und die französische Wirtschaft
für den Gemeinsamen Markt wettbewerbsfähig
gemacht. Um verbleibende
Wachstumshemmnisse zu beseitigen,
erarbeitete 1959/ 60 – wiederum
auf Initiative Rueffs – ein zweiter Expertenausschuss
unter dem Vorsitz
von Rueff und Louis Armand einen
Bericht über die Hindernisse für das
Wirtschaftswachstum (Rueff-Armand-
Bericht). Es handelt sich um das erste
Deregulierungsprogramm der
Welt, das die Beseitigung von Wettbewerbsbeschränkungen,
Marktzugangsbeschränkungen,
staatlichen
Preisfestsetzungen und Starrheiten
des Arbeitsmarkts empfahl und Verbesserungen
im Bildungswesen sowie
in der Verwaltung anregte.
Seit 1961 trat Rueff als Kritiker des
damaligen Weltwährungssystems von
Bretton Woods hervor. Der damalige
Gold-Dollar-Standard ermöglichte
dem Leitwährungsland USA jahrelang
inflationsfinanzierte Budgetdefizite
und Zahlungsbilanzdefizite, ohne zu
einer Abwertung des Dollar und einem
Inflationsstopp gezwungen zu
sein. Dadurch wuchsen die Dollarguthaben
der ausländischen Zentralbanken
immer mehr an (was dort zu
einer importierten Inflation führte).
Rueff sah frühzeitig die Gefahr, dass
der Goldbestand der USA nicht mehr
ausreichen würde, um die formal bestehende
Verpflichtung zur Einlösung
dieser Dollarguthaben in Gold einhalten
zu können. Er befürchtete als
Folge entweder eine Deflationskrise
in den USA oder die Aufhebung der
Goldkonvertibilität des Dollar. Letzteres
trat 1971 tatsächlich ein.
Um die Instabilität und Inflationsneigung
des Gold-Dollar-Standards
zu überwinden, schlug Rueff die
Rückkehr zum internationalen Goldstandard
vor: Die Geldpolitik der
Zentralbanken sollte dadurch Regeln
unterworfen werden; zum Ausgleich
von Zahlungsbilanzdefiziten sollten
statt Devisen nur Goldübertragungen
verwendet werden. Länder mit Zahlungsbilanzdefiziten
wären dadurch
einem Zwang zur Stabilitätspolitik
unterworfen worden. Staatspräsident
de Gaulle machte sich diese Reformvorschläge
Rueffs zu Eigen, konnte
sie aber international nicht durchsetzen.
Wissenschaftlicher und beruflicher Werdegang
Nach dem Militärdienst Studium an der Ecole Polytechnique in Paris ab 1919, ab 1922 Dozent für Statistik und mathematische Ökonomie an der Universität Paris. Eine Auswahlprüfung (Concours) eröffnet ihm 1923 die Karriere zum Inspecteur Général des Finances, einer der angesehensten Positionen der französischen Verwaltung. 1927-30 Mitglied des Wirtschafts- und Finanzausschusses des Völkerbunds (Genf) , 1930-34 Finanzattaché an der französischen Botschaft in London. Seit 1931 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ecole Libre des Sciences Politiques, Paris (später Institut des Sciences Politiques) . 1934-39 im französischen Finanzministerium, 1939-40 Vizepräsident der französischen Zentralbank. Ab 1945 Wirtschaftsberater der französischen Militärregierung in Deutschland. Ab 1952 Richter am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, 1958-62 am Europäischen Gerichtshof (EuGH) . In den 60er Jahren Wirtschaftsberater des französischen Staatspräsidenten de Gaulle. Mitglied der Académie Française und der Académie des Sciences morales et politiques.
Literaturhinweise:
- RUEFF, J. (1977-81), OEuvres complètes (Vollständige Werke) , 4 Bände, Paris, auch in englischer Übersetzung: New York (Lehrman Institute) , darunter Band 1: Autobiographie, in deutscher Übersetzung: Die soziale Ordnung, Bremen 1952;
- KNAPP, F. (1972), Die Währungssünden der westlichen Welt, Frankfurt/ M.