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Michael Braun: Wem gehört die Geschichte? Erinnerungskultur in Literatur und Film

Eine Rezension von Prof. Dr. Friedhelm Marx, Otto-Friedrich-Universität Bamberg

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Selten gab es so viele und vielfältige Formen der Vergangenheitsbesichtigung und -revision in Deutschland wie in den letzten zwei Jahrzehnten. Literatur, Film und Fernsehen überbieten sich geradezu in der Erinnerung und Vergegenwärtigung der deutschen Geschichte, vor allem des Nationalsozialismus und des Holocaust. Angesichts einer Vielzahl von literarischen Werken über das „Dritte Reich“ fragt der österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein, „wie man diese Geschichten noch erzählen kann, ohne der Sache bei allem guten Willen am Ende doch nur einen schlechten Dienst zu erweisen, und wenn ich Sache sage, meine ich Aufklärung, meine ich Erinnerung. Denn oft haben die Fiktionalisierungen von nicht direkt Betroffenen etwas allzu Glattes, allzu Routiniertes, weil das Ergebnis ihrer Erzählanstrengung von vornherein klar ist, manchmal nicht mehr als die Wiederholung der Tautologie, daß die Guten gut sind und die Bösen böse . Es macht aus den vielen Geschichten individuellen Leids konsumierbare Geschichtchen, über die man folgenlos Rotz und Wasser heulen kann, es macht aus der Geschichte ein Spektakel .“*

Das neue Buch von Michael Braun „Wem gehört die Geschichte? Erinnerungskultur in Literatur und Film“ gibt einen Überblick über die gegenwärtige Erinnerungskonjunktur jenseits der von Norbert Gstrein beschriebenen medialen Erinnerungsroutinen. In den hier vorgestellten Werken der letzten zwei Jahrzehnte wird Geschichte nicht zum Spektakel, sondern zur ästhetischen und ethischen Herausforderung. Das gilt für die literarischen und filmischen Auseinandersetzungen mit der NS-Zeit ebenso wie für die mit der DDR: Diesen beiden Fluchtpunkten der Erinnerungskultur seit 1989 ist jeweils ein umfangreiches Kapitel gewidmet. Das Spektrum der hier vorgestellten Werke reicht im Bereich der Literatur von Günter Grass, Walter Kempowski und Christa Wolf bis zu Durs Grünbein und Uwe Tellkamp; hinzu kommen ausführliche Analysen von Filmen wie Der Untergang (2004), Sophie Scholl – Die letzten Tage (2005), Sonnenallee (1999) und Das Leben der Anderen (2005). An diesen und vielen anderen Beispielen zeigt Michael Braun, welchen substantiellen Beitrag Literatur und Film zum kulturellen Gedächtnis zu leisten vermögen. Die Vielzahl heterogener Neuverhandlungen der deutschen Geschichte bürstet die herkömmlichen Bewertungsmuster gegen den Strich und macht zugleich auf prekäre Leerstellen und Tabuzonen der kollektiven Erinnerungskultur aufmerksam.

Gerahmt werden diese beiden thematisch gebundenen Kapitel von einer konzisen Einführung in die Erinnerungskultur der Gegenwart, die den Forschungsstand zum kulturellen Gedächtnis mit zahlreichen Beispielen anschaulich macht, sowie einer Schlussreflexion, die die ethischen und ästhetischen Implikationen der Erinnerungskultur aufgreift: insgesamt ein instruktives, engagiertes und lesenswertes Plädoyer für Literatur und Film als Erinnerungsmedien der Gegenwart: Ihnen gehört die Geschichte.

  • Norbert Gstrein: Die Differenz. Fakten, Fiktionen und Kitsch beim Schreiben über ein historisches Thema. Wiener Rede. Frankfurt am Main 2003, S. 10f.

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Prof. Dr. Michael Braun

Prof. Dr

Referent Literatur

michael.braun@kas.de +49 30 26996-2544
Einzeltitel
18. November 2010
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Wem gehört die Geschichte? Erinnerungskultur in Literatur und Film KAS