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Theodor Heuss: Rede anlässlich seiner Wahl zum Bundespräsidenten, 1949

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Präsident Dr. Köhler: Ich erteile dem Herrn Bundespräsidenten das Wort.

Bundespräsident Dr. Heuss: Verehrte Mitglieder des Bundestags, des Bundesrats und der Bundesversammlung!

Niemand wird – so hoffe ich – missdeuten, und mancher wird, denke ich, verstehen, wenn ich in dieser mich sehr bewegenden Stunde, die mein Leben verwandelt, zunächst persönliche Dinge ausspreche und zweier Männer gedenke: meines früh verstorbenen Vaters, der in die Seelen seiner jungen Söhne die Legenden des Jahres 48 gegossen hat, die mit der Familiengeschichte verbunden sind, und der uns einen Begriff davon gab, dass die Worte Demokratie und Freiheit nicht bloß Worte, sondern lebengestaltende Werte sind; und Friedrich Naumanns, des Mannes, der das wachsende Leben gestaltet hat, ohne den ich nicht das wäre, was ich bin, dem ich das Wissen zumal verdanke, das als Erbe in mir geblieben ist, dass die Nation nur leben kann, wenn sie von der Liebe der Massen des Volkes getragen wird, von dem ich gelernt habe, dass die soziale Sicherung mit die Voraussetzung der politischen Sicherung ist. Er hat uns das Wort in die Seele geschrieben: „Das Bekenntnis zur Nationalität und zur Menschwerdung der Masse sind für uns nur die zwei Seiten einer und derselben Sache“.

Ich darf an dieser Stelle mit aller Gelassenheit aussprechen: Dieses Amt wurde von mir nicht in einem unruhigen Ehrgeiz erstrebt. Es ist für mich mit persönlicher Resignation verbunden; denn manche Pläne wissenschaftlicher und literarischer Natur entfliehen mit ihm. Aber ich darf sagen, dass ich noch nie einer Aufgabe ausgewichen bin, wenn die Pflicht es verlangte. Ich möchte in der Berufung in dieses Amt die Deutung so sehen dürfen, dass sie eine Anerkennung darstellt für die Mittleraufgabe, die mir im Verlaufe des letzten Winters und Frühjahrs in Bonn zugewachsen war, als wir das Grundgesetz zu bilden hatten.

Noch ein persönliches Wort! In den Zeitungen habe ich in den letzten Tagen allerhand seltsame Dinge von mir lesen können – nette Sachen –, auch dass mir die „Ellbogenkraft“ fehle, die zum Politiker gehöre. Ich selber habe das Gefühl: von der Ellbogenpolitik haben wir reichlich genug gehabt. Ich betrachte es persönlich als einen Gewinn meines Lebens im öffentlichen Sein, dass ich, um die Worte von ehedem zu gebrauchen, auf der Rechten wie auf der Linken persönliche Freundschaften und Vertrauensverhältnisse besaß und heute besitze; das wird so bleiben. Es mag einer auch darin einen Mangel sehen; aber mir scheint, dass dieses Amt, in das ich gestellt bin, keine Ellbogenveranstaltung ist, sondern dass es den Sinn hat, über den Kämpfen, die kommen, die nötig sind, die ein Stück des politischen Lebens darstellen, nun als ausgleichende Kraft vorhanden zu sein.

Was ist denn das Amt des Präsidenten der Deutschen Bundesrepublik? Es ist bis jetzt ein Paragraphengespinst gewesen. Es ist von dieser Stunde an ein Amt, das mit einem Menschentum gefüllt ist. Und die Frage ist nun, wie wir, wir alle zusammen, aus diesem Amt etwas wie eine Tradition, etwas wie eine Kraft schaffen, die Maß und Gewicht besitzen und im politischen Kräftespiel sich selber darstellen will.

Es ist nicht meine Aufgabe und kann nicht meine Vermessenheit sein, in dieser Stunde so etwas wie ein Regierungsprogramm Ihnen vorzutragen. Das ist nicht meines Amts. Aber Sie haben einen Anspruch darauf, Auffassungen von mir kennenzulernen.

Wir sind eine Bundesrepublik. Und nun die Frage: Sind wir zusammengefügt aus Staaten, oder sind wir auseinandergegliedert in Staaten? Wenn man sich das plastisch vorstellt, so spürt man gleich, dass hier zwei Geschichtsauffassungen, die gleichzeitig politisch aktuellen Charakter haben, nebeneinandertreten. Wir stehen in der dauernden Auseinandersetzung mit unserer Geschichte, in dem Bundestag kommt dies zum Ausdruck, dass das deutsche Volk in diesen letzten acht Jahrzehnten eine historische Rechtspersönlichkeit eigenen Ranges geworden ist und nicht bloß eine Addition von Landsmannschaften darstellt.

(Sehr richtig!)

Aber indem wir das sagen, bejahen wir doch die Landsmannschaft. Die Schwierigkeiten, die in dieser Frage stecken, sind jedem, der im öffentlichen Leben gewirkt hat, offenkundig genug. Nach dem ungeheuren Vorgang, in dem wir heute drinstehen, dieser furchtbaren Binnenwanderung von Millionen Heimatloser, die eine neue Heimat finden sollen, finden müssen, ist der Begriff der Landsmannschaft in mancher Wandlung mitbegriffen.

Aber die Länder als Staatsfiguren sind Elemente unseres staatlichen Lebens, und hier die große Schwierigkeit: sie stehen in den Paragraphen gleichen Rechts und gleicher Art nebeneinander, aber sie haben eine verschiedene Geschichtsträchtigkeit, und an dieser Frage werden sich sehr große Schwierigkeiten entwickeln. Wir sind uns dieser Reibungen bewusst. Wir wissen dies: In Deutschland wird in den einzelnen Ländern nicht nur sprachlich, sondern auch politisch ein verschiedener Dialekt gesprochen. Das schadet nichts. Es ist nur zu wünschen, dass die, die diese verschiedenen Dialekte sprechen, der gemeinsamen Grundsprache sich je und je bewusst bleiben.

Wir hatten in den Verhandlungen über das Grundgesetz – und wir werden das hier wieder bekommen – die Problematik des Verhältnisses der einzelnen Länder zu dem Bund. Dazu ein persönliches Wort: wir wollen keinen Zentralismus in Deutschland haben. Wir haben die Lehre der Nationalsozialisten hinter uns, die uns gezeigt haben, wohin es führt, wenn der deutsche Mensch genormt werden soll. Wir wollen nicht den genormten Deutschen! Wir wollen dies so aussprechen: Die Länder sollen ihr Eigenleben führen, aber nicht ihr Sonderleben, sondern im Verband des Gemeinen. Man möge das nicht falsch verstehen, wenn ich sie begreifen will als die hohen Entfaltungen – gleichviel wie die psychologisch-historischen Voraussetzungen sind – der Selbstverwaltung.

Man hat von den Deutschen oft geredet, dass sie ein „unpolitisches Volk“ seien. Das will ich jetzt nicht vertiefen, es geht ja durch unsere eigene Kritik hindurch. Aber dies möchte ich sagen dürfen: Die Legende von dem unpolitischen Volk der Deutschen ist falsch, wenn wir etwas davon wissen, was die Selbstverwaltung in Deutschland, seitdem sie der Freiherr vom Stein geschaffen hat, aus diesem deutschen Volk in den konkreten Aufgaben gemacht hat. Und so begreife ich – wenn wir das Zentralistische, Befehlsmäßige ablehnen – die Gliederung, in der wir leben, als die großen Schulungsmöglichkeiten und als die Voraussetzungen zu dem, was ich eine lebendige Demokratie nennen möchte. Eine lebendige Demokratie!

Es ist – davon ist neuerlich nicht viel zu sagen – das geschichtliche Leid der Deutschen, dass die Demokratie von ihnen nicht erkämpft wurde, sondern als letzte, als einzige Möglichkeit der Legitimierung eines Gesamtlebens kam, wenn der Staat in Katastrophen zusammengebrochen war. Dies ist die Last, in der der Beginn nach 1918, in der der Beginn heute vor uns steht, das Fertigwerden mit den Vergangenheiten. Diese Aufgabe war 1918 da. Damals dynastische Empfindungen, die weitergingen, von denen nicht gering zu sprechen ist: heute das Problem, vom Ausland stärker gesehen und groß gemacht, wie-weit die nahe Vergangenheit, die hinter uns liegt, noch seelisch zwischen uns vorhanden.

Es ist eine Gnade des Schicksais beim Einzelmenschen, dass er vergessen kann. Wie könnten wir als einzelne leben, wenn all das, was uns an Leid, Enttäuschungen und Trauer im Leben begegnet ist, uns immer gegenwärtig sein würde! Und auch für die Völker ist es eine Gnade, vergessen zu können. Aber meine Sorge ist, dass manche Leute in Deutschland mit dieser Gnade Missbrauch treiben und zu rasch vergessen wollen. Wir müssen das im Spürgefühl behalten, was uns dorthin geführt hat, wo wir heute sind. Das soll kein Wort der Rachegefühle, des Hasses sein. Ich hoffe, dass wir dazu kommen werden, nun aus dieser Verwirrung der Seelen im Volk eine Einheit zu schaffen. Aber wir dürfen es uns nicht so leicht machen, nun das vergessen zu haben, was die Hitlerzeit uns gebracht hat.

Die Bundesrepublik Deutschland umfasst nur einen Teil unseres Volkes. Ich darf von den Deutschen im Osten sprechen. Ich muss von Berlin sprechen. Mehr als die Hälfte meines Lebens – verzeihen Sie das persönliche Wort – habe ich in dieser Stadt gelebt. Ich habe jahrelang als Bezirks- und Stadtverordneter mit in ihr gewaltet. Es ist mir eine Herzenssache und nicht bloß rationale Überlegung, dies auszusprechen: Berlin ist heute an das Schicksal Westdeutschlands gebunden; aber das Schicksal von Gesamtdeutschland bleibt an Berlin gebunden. Dessen müssen wir uns bewusst bleiben.

Und dann das andere. Ich habe selber, als wir das Grundgesetz berieten, den Antrag gestellt, dass wir uns als „stellvertretend“ empfinden für die deutschen Brüder, die an dieser Aufgabe nicht mitwirken konnten. Wir wissen gut genug, dass das Herausarbeiten aus unserer Quasi-Souveränität, in der wir stecken, nicht bloß von uns geleistet wird, dass hier eine Weltproblematik vorliegt, dass wir in dem Mächteschicksal der anderen mit gebunden sind. Aber wir sprechen dies aus: Es ist mir in den politischen Erörterungen der vergangenen Jahre manchmal begegnet, dass man von dem Ackerboden, von den Kartoffelfeldern, von dem Kalorienvorrat sprach. Es ist ganz gut, wenn wir den anderen etwas davon erzählen, was es für die Ernährung Deutschlands bedeutet, dass diese Basis entrückt ist. Aber der deutsche Osten ist nicht bloß Getreideacker und Kartoffelfeld; er ist die Heimat deutscher Menschen. Dessen sollen wir uns in diesen Auseinandersetzungen im Innern wie nach außen hin immer bewusst bleiben. Seit die großen Wanderungen des späten Mittelalters zu Ende kamen und sich festigten, ist dort deutsches Land, das wir nicht vergessen können, weil es in unserem Geschichtsgefühl und in dem Wissen um das Schicksal von Millionen deutscher Menschen bleibt. Dessen sollen auch die anderen innewerden und innebleiben.

Der Bundesrat und der Bundestag werden vor schier unzählige Aufgaben gestellt sein: die Vereinheitlichung des Rechts, das in den Ländern und in den Zonen auseinandergelaufen ist, die Frage des Lastenausgleichs, Finanzprobleme, die Fragen des Wohnungsbaus, der Kriegsbeschädigten, der Kriegshinterbliebenen, die Sorge für die Vertriebenen, die Eingliederung Deutschlands in die Weltwirtschaft, ohne die wir nicht leben können. Die Frage aber ist die erste im Sinne des Rangs, nicht im Sinne des Morgen-damit-fertig-Werdens. Wann wird es möglich sein, die vornehmste Aufgabe hier mit zu lösen, dass wir die staatliche Selbständigkeit für unser Volk und unseren werdenden Staat zurückgewinnen?

Wir wissen, dass eine Gesamtwende der Fragestellungen gegenüber den historischen Vorstellungen und Gegebenheiten von nationalstaatlicher Bindung im Werden ist und dass die europäische Gesamtstaatlichkeit nun nicht mehr bloß Traum- oder Wunschbild von Idealisten oder Geschichtskonstrukteuren ist, sondern dass sie als realistische Aufgabe vor uns steht.

Deutschland braucht Europa, aber Europa braucht ach Deutschland. Wir wissen es im Geistigen: wir sind in der Hitlerzeit ärmer geworden, als uns die Macht des Staates von dem Leben der Völker absperrte. Aber wir wissen auch dies: die anderen würden ärmer werden ohne das, was Deutschland bedeutet. Wir stehen vor der großen Aufgabe, ein neues Nationalgefühl zu bilden. Eine sehr schwere erzieherische und erlebnismäßige Aufgabe, dass wir nicht versinken und steckenbleiben in den Ressentiment, in das das Unglück des Staates viele gestürzt hat, und dass wir nicht ausweichen in hochfahrende Hybris, wie es ja nun bei den Deutschen oft genug der Fall war. Seltsames deutsches Volk, voll der größten Spannungen, wo das Subalterne neben dem genial spekulativ Schweifenden, das Spießerhafte neben der großen Romantik steht! Wir haben die Aufgabe im politischen Raum, uns zum Maß, zum Gemäßen zurückzufinden und in ihm unsere Würde neu zu bilden, die wir im Innern der Seele nie verloren.

Darf ich den Zufall der Zeit und des Ortes als Symbol nehmen, dass wir in diesem Jahre 1949 den 200. Geburtstag von Goethe begangen haben und dass wir hier in der Geburtsstadt von Beethoven weilen? Es steht uns nicht an, aus diesen beiden Namen, aus diesen beiden großen Erscheinungen etwas zu machen wie Reklameartikel und Propagandageschäfte. Es steht uns auch nicht an, wohlwollend auf ihre Schulter zu klopfen. Aber wir spüren dies: dass in diesen beiden Männern aus dem deutschen Mutterboden Weltwerte geworden sind, vor denen wir selber stolz und bescheiden stehen. Sie mögen uns in der Zerschlagenheit der Zeit Festigung und Trost bedeuten.

Verehrte Mitglieder des Bundestags, des Bundesrats und der Bundesversammlung! Im Bewusstsein meiner Verantwortung vor Gott trete ich dieses Amt an. Indem ich es übernehme, stelle ich dieses Amt und unsere gemeinsame Arbeit unter das Wort des Psalmisten: „Gerechtigkeit erhöhet ein Volk.“

(Langanhaltender lebhafter Beifall.)

Präsident Dr. Köhler (dem Bundespräsidenten die Hand reichend): Möge Ihrer Wahl dem deutschen Volke zum Segen und zum Wohle gereichen!

Wir werden nunmehr den Herrn Bundespräsidenten hinausgeleiten.

Ich schließe die Sitzung.

(Schluss der Sitzung: 19 Uhr 43 Minuten).

Zitiert nach: Die Bundesversammlungen 1949-2004. Eine Dokumentation aus Anlass der Wahl des Bundespräsidenten am 23. Mai 2009, hrsg. vom Deutschen Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit, S. 95-99.

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