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"Die Konfliktparteien haben die Kontrolle über ihre Anhänger verloren"

Interview mit Michael Lange

Nach dem Tod von 74 Menschen im Anschluss an ein Fußballspiel in Port Said dauern die Unruhen in Ägypten an. Allerdings dürfe man den Sicherheitskräften nicht die alleinige Schuld an der Eskalation geben, meint der Leiter der Abteilung "Politikdialog und Analyse" Dr. Michael Lange von der Konrad-Adenauer-Stiftung im Interview mit dem Deutschlandfunk.

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Wie groß ist die Gefahr, dass die Entwicklung in Ägypten jetzt komplett aus dem Ruder läuft?

Lange: Nun, die Gefahr ist sicherlich gegeben. Die Konfliktparteien haben die Kontrolle über ihre Anhänger verloren, offensichtlich ist auch die Polizei nicht in der Lage, für Ruhe und Beruhigung zu sorgen, und dieser Prozess schaukelt sich jetzt auf beiden Seiten hoch und man kann eigentlich im Moment nicht übersehen, wie sich diese Lage verbessern sollte.

Ist es denn aus Ihrer Sicht wirklich ein unkontrollierter Prozess, oder ist es nicht vielmehr so, wie viele Ägypter ja auch vermuten und Anhänger der Revolution, dass die Gewalt ausgegangen ist von bezahlten Anhängern des alten Mubarak-Regimes?

Nun, aus der Distanz kann man das sicherlich nicht besser beurteilen als die Menschen vor Ort. Aber man sollte immer in Erinnerung behalten, im Nahen Osten sind Verschwörungstheorien ein alltäglicher Gegenstand der Diskussion, und ich weiß nicht, ob man solche Prozesse kontrolliert in Gang setzen kann, ob es tatsächlich diese Interessengruppen gibt, die Hunderte und Tausende von Menschen in Bewegung bringen können, um ihre Interessen zu verfolgen.

Das heißt, Herr Lange, Sie halten es für möglich, dass es sich bei dieser Gewalt in diesem Fußballstadion um "normale" Gewalt gehandelt hat, die einfach aus dem Ruder gelaufen ist?

Nun, wir wissen ja auch aus Europa, dass Fußballspiele dieser Art oft auch in solch ein Chaos wechseln können, wenn die Emotionen der Menschen entsprechend gelagert sind, und dass die Stimmung, die politische Stimmung in Ägypten diese Emotionen natürlich noch verstärkt, liegt ja auf der Hand und es kann schon sein, dass die Rivalitäten von Fußballclubs, dass die Anhänger dieser Fußballclubs, die sich ja auch an den Demonstrationen in Kairo und in Sues engagiert haben, dass die jederzeit außer Kontrolle geraten können, und wenn die Polizei und die Sicherheitskräfte da nicht einschreiten, es zu solchen Exzessen kommen kann.

Der Polizei wird in der Tat ja vorgeworfen, nicht eingegriffen zu haben, und das nicht zum ersten Mal. Das war ja schon einmal bereits, als diese Schlägertruppen vor einem Jahr, diese Kamelreiter eingesetzt wurden, um die Demonstranten niederzuschlagen. Wie ist da die Rolle der Polizei aus Ihrer Sicht einzuschätzen?

Na ja, es ist immer schwierig. Man kann der Polizei nicht gleichzeitig vorwerfen, einzuschreiten und möglicherweise Demonstranten zu verletzen und nicht einzuschreiten, sodass sich Demonstranten untereinander verletzen. Also das ist eine schwierige Situation. Ich glaube, viele Emotionen richten sich gegen die Sicherheitskräfte, die mit der Lage offensichtlich überfordert sind, denn entweder gehen sie gegen aggressive Demonstranten vor, dann macht man ihnen entsprechende Vorwürfe, gehen sie zwischen rivalisierende Demonstranten, macht man ihnen Vorwürfe, gehen sie nicht zwischen rivalisierende Demonstranten, macht man ihnen auch Vorwürfe. Also das ist ein bisschen eine Catch-All-Situation.

Der ägyptische Militärrat hat ja im Prinzip faktisch das Sagen in Ägypten seit dem Sturz Mubaraks. Wie ernst ist es denn diesem Militärrat mit der Demokratisierung des Landes?

Nun, Militärs gelten nicht als Demokraten und schon gar nicht mit einer Tradition, wie sie in Nordafrika uns allen bekannt ist. Sie sind sicherlich herausgefordert, den Prozess zu begleiten. Ich glaube, es ist unverzichtbar, dass Sicherheitskräfte sich bemühen, diesen Prozess sicher und gewaltlos zu gestalten. Wenn es ihnen nicht gelingt, dann liegt das sicherlich nicht nur an den Sicherheitskräften, sondern auch an den aufgewühlten Menschen, die mit dem Prozess, so wie er sich jetzt darstellt, nicht zufrieden sind und für sich noch keine Erfolge dieses Prozesses erkennen. Man wird abwarten müssen, inwieweit das Militär bereit ist, sich noch stärker in den politischen Prozess einzubringen.

Wie stark sind die Kräfte, die noch dem alten Mubarak-Regime anhängen?

Nun, ich glaube, die sind sehr stark, denn die Bilder, die wir aus Kairo gesehen haben, haben ja nur einen Ausschnitt der Bevölkerung gezeigt, die dort demonstriert haben. Es waren sicherlich Tausende, möglicherweise auch zeitweise Hunderttausende, aber wir dürfen nicht vergessen, dass Ägypten 80 Millionen Einwohner hat und dass es viele Einwohner, viele Teile der Bevölkerung gibt, die mit der augenblicklichen Situation noch weniger zufrieden sind als mit der, wie sie vielleicht in den letzten Monaten unter Mubarak geherrscht haben.

Wie geht die Entwicklung aus Ihrer Sicht jetzt weiter? Wie groß sind die Chancen, dass jetzt wieder Frieden einzieht im Land?

Nun, die Chancen sehe ich im Moment nicht so groß, denn die Masse der Bevölkerung möchte eigentlich mit ihrem täglichen Leben unter sicheren Bedingungen fortfahren, und es könnte zu einem Konflikt zwischen der Mehrheit dieser Sicherheit und berufliche Erfolge wünschenden Bevölkerung und den sicherlich in der Minderheit befindlichen Protestierern und Reformanhängern kommen. Ich glaube, diese Auseinandersetzungen zwischen bestimmten Gruppierungen in Ägypten drücken das auch aus. Es gibt eine Gruppe engagierter Reformbefürworter, die sich entsprechend engagieren und dem Prozess auch diese Brisanz geben; es gibt aber auch die, ich will nicht sagen, schweigende Mehrheit, denn sie finden sich jetzt auch immer stärker herausgefordert, sich diesen ewigen Protesten entgegenzustellen, und die sind stärker daran interessiert, dass sich Sicherheit und Stabilität wieder einstellt, damit die Wirtschaft wieder Fuß fasst und sie nicht noch mehr wirtschaftlichen Schaden nehmen, als sie es ohnehin schon in den letzten Wochen getan haben.

Und auf welche Seite wird sich die Wagschale dann hinbewegen?

Gut, ich meine, jetzt ist viel Emotion im Spiel und wenn sich dieser Prozess auf beiden Seiten hochschaukelt, dann ist nicht zu erwarten, dass die von einigen gewünschte Ruhe und Ordnung schnell einkehrt. Und wenn wir den Prozess verfolgen - wir haben jetzt Schura-Wahlen, die sind nicht so wichtig, aber mit Blick auf den verfassungsgebenden Prozess, der zumindest die politisch interessierten Menschen ja interessieren muss, kann damit gerechnet werden, dass die dort zu diskutierenden Probleme sich selbst zu einem Kulturkampf ausweiten können, denn da geht es ja um die politische Ordnung des Landes, das ist ja das Entscheidende. Ob das in einer friedlicheren Stimmung erfolgen wird, das steht im Moment natürlich stark in Zweifel.

Mit freundlicher Genehmigung des Deutschlandfunks.

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Leiter des Auslandsbüros in Washington, D.C.

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