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Soziale Sicherung als Privileg?

з Peter Rimmele, Romina Liesel Elbracht

Indiens Umgang mit Covid-19

Indien hat gegenwärtig eine der umfassendsten Ausgangssperren der Welt verhängt. In einem Land mit mehr als 1,3 Milliarden Bürgerinnen und Bürgern stellt die Möglichkeit zur sozialen Distanzierung allerdings ein Privileg dar. Eine weitere Ausbreitung des neuartigen Virus könnte zu hohen Opferzahlen führen. Strenge und schnelle Regulierungen seitens der Regierung sind daher einerseits unabdingbar, doch zwingen sie andererseits Millionen von Menschen an den Rand ihrer Existenz.

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Trotz anfänglich vergleichsweise niedrigen Infektionszahlen mit Covid-19 griff Indiens Regierung schon früh zu strengen Maßnahmen. So war Indien eines der ersten Länder, das ein komplettes Einreiseverbot für ausländische Reisende verhängte. Während seiner Ansprache an die Nation am 23. März verkündete Premierminister Narendra Modi zudem eine landesweite Ausgangsperre bis zum 14. April, die nun bis zum 3. Mai verlängert wurde. Diese Einschränkung hält gegenwärtig 1,3 Milliarden Inder und Inderinnen an ihren aktuellen Aufenthaltsorten fest und führte bereits zu einer Vielzahl von sozialen Komplikationen. Indien kämpft nicht nur gegen die Ausbreitung des Virus. Die über Nacht verhängte Ausgangssperre offenbarte im Nachgang der Verkündung weitreichende Konsequenzen – insbesondere für die ärmsten Teile der Bevölkerung. Fehlende soziale Sicherungssysteme, informelle Arbeitsverhältnisse und unmittelbare Lohnverluste haben bereits jetzt Millionen von Menschen zu Vertriebenen im eigenen Land gemacht.

 

Aktuelle Situation und politische Maßnahmen

 

Die Gesamtzahl der Covid-19-Krankheitsfälle am Freitag, den 17. April, liegt bei nun 13.835. Die Zahl der Todesopfer beträgt derzeit 452, wobei allein in den letzten 24 Stunden über 39 Todesfälle gemeldet wurden. Laut indischer Behörden ist der stetige Anstieg der Anzahl positiver Fälle bislang noch nicht auf die gefürchtete community transmission des neuartigen Coronavirus zurückzuführen. Aufgrund der geringen Anzahl von Tests gehen Expertinnen und Experten jedoch von einer hohen Dunkelziffer aus.

Seit am 30. Januar 2020 die erste Erkrankung in Indien in Kerala dokumentiert wurde, hat sich das Virus mittlerweile im ganzen Land ausgebreitet. Die am stärksten betroffenen Bundesstaaten sind Maharashtra, Tamil Nadu und Delhi. Um die weitere Ausbreitung des Virus weitestgehend einzudämmen, wurden sogenannte „Hotspot-Gegenden“ abgeriegelt. Am 14. April erweiterte die Regierung von Delhi die Liste der entsprechenden Zonen um acht weitere Gebiete, womit sich die Gesamtzahl der abgeschotteten Bezirke, auch „red zones“ genannt, auf 55 erhöht. Niemandem, mit Ausnahme der wesentlichen Arbeitskräfte etwa im Gesundheitsbereich, ist es erlaubt, diese Gebiete zu betreten oder zu verlassen.

Gleichzeitig werden die Bewohner eines Hotspots nacheinander von entsprechendem Gesundheitspersonal auf Covid-19 getestet.

Die Anzahl und Verbreitung der Infizierten in Neu-Delhi stieg nach einer nur einige Tage vor Inkrafttreten des Lockdowns stattfindenden religiösen Veranstaltung der Tablighi Jamaat-Gemeinde, eine sunnitisch-islamische Missionsbewegung, im Stadtteil Nizamuddin deutlich an. Innerhalb von zwei Tagen wurden 647 positive Covid-19-Fälle in 14 Bundesstaaten ausfindig gemacht, welche mit dieser Veranstaltung in Verbindung gebracht wurden. Aktuell ist der Stadtteil unter strenger Überwachung durch Polizei und paramilitärischer Kräfte. Viele Bewohner des Stadtteils fürchten eine Stigmatisierung des Viertels. Basierend auf der Angst, die ganze Gegend sei „verseucht“, wird der Stadtteil schon jetzt kaum mit Essen beliefert und einige Krankenhäuser weigern sich, Krankenwagen in diesen Bezirk zu schicken.

Noch vor der offiziellen Verlängerung der Ausgangssperre durch den Premierminister hatten einige Bundesstaaten bereits angekündigt, den Lockdown weiterzuführen. Narendra Modi hatte alle Chief Minister (Regierungschefs der indischen Bundesstaaten, vergleichbar mit der Position deutscher Ministerpräsidenten) zuvor aufgefordert, sich Gedanken über eine mögliche Aufhebung und den Umgang mit der aktuellen Situation zu machen. Der Covid-19-Krisenstab, bestehend aus verschiedenen indischen Ministern, hatte im Zuge dessen die Schließung aller Bildungseinrichtungen und Beschränkungen für alle religiösen Aktivitäten mit Beteiligung der Öffentlichkeit bis zum 15. Mai empfohlen. Dass der aktuelle Lockdown zunächst nur bis zum 3. Mai verlängert wurde, zeugt von einer Kompromisslösung, die wohl vor allem der schwächelnden indischen Wirtschaft zugutekommen soll.

                                                                                                            

Die sozialen Folgen nach der Lockdown-Verkündung

                                                                           

Die sozialen Folgen des Lockdowns sind komplex, unübersichtlich und treffen insbesondere marginalisierte Gruppen: Die Armen, die Arbeiterschicht, Frauen und weitere unterprivilegierte Gruppen innerhalb der Bevölkerung.

Fast 90 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Indien verdienen ihr Geld im informellen Sektor. Sie arbeiten als Haushaltshilfen oder Fahrer, liefern Essen aus, bewachen Häuser, sammeln den Müll ein, verkaufen an Straßenständen und arbeiten auf Baustellen. Durch die über Nacht eingeführte Ausgangssperre verloren Millionen Menschen jede Möglichkeit zu arbeiten. Das plötzliche Wegbrechen von Einnahmequellen zwang zahlreiche Arbeitsmigranten und -migrantinnen dazu, auf welchen Weise auch immer zurück zu ihren Familien in den Herkunftsdörfern zu gelangen. Seit Beginn der Ausgangssperre haben sich deshalb schätzungsweise über 120 Millionen Menschen, die es nicht mehr geschafft haben, in einen der letzten überfüllten Züge zu steigen, zu Fuß auf den Weg gemacht. Die Migration der Arbeiterschaft aus Nachbarstaaten und aus unterschiedlichen Distrikten stellt dabei ein großes Risiko der Weiterverbreitung des Virus dar, da es keine großangelegten medizinischen Kontrollen gibt.

Die Polizei geht vielerorts gewaltsam gegen die sich der Ausgangssperre widersetzenden Menschen vor. Trotz des Einsatzes von Schlagstöcken und dem teils absurd wirkenden Besprühen von Binnenflüchtlingen mit Desinfektionsmitteln setzen die meisten ihren Weg unbeirrt in ihre Heimatdörfer fort. Aufgrund fehlender Verpflegung, unsicherer Routen und Hitze häufen sich die Todesfälle. Diese Entwicklung zeigt deutlich, wie wenig Vertrauen die Betroffenen haben, dass ein soziales Absicherungssystem, in dem sie auch schon bislang kaum Berücksichtigung fanden, sie schützen würde.

Die menschliche Tragödie, die auf das Inkrafttreten des vermutlich notwendigen Lockdowns folgte, basiert laut der The Wire-Journalistin Bahar Dutt auf der fehlerhaften Annahme, dass alle Teile der Gesellschaft sich in gleicher Weise in der Lage wären, auf die neuen Umstände angemessen zu reagieren. Angesichts der gegenwärtigen Krise könne Gerechtigkeit nicht erreicht werden, indem alle Mitglieder der Gesellschaft gleich behandelt würden. Stattdessen sei es notwendig anzuerkennen, dass verschiedene Teile der Gesellschaft unterschiedliche Möglichkeiten hätten auf die Krise zu reagieren bzw. verschiedene Zugänge zu Ressourcen hätten - oder wie im Falle der Ärmsten, möglicherweise gar keine.

Die Regierung kündigte deshalb rasch an, dass verschiedene Ausnahmeregelungen für Bedürftige in Kraft treten sollen. So wurde zugesichert, dass beispielsweise landwirtschaftliche Arbeiten ab dem 20. April unter strengen Sicherheitsvorkehrungen fortgesetzt werden können. Darüber hinaus rief Modi die Bevölkerung zu Solidarität auf. Während seiner Ansprache am 14. April bat er die Bürgerinnen und Bürger alles zu tun, um den Armen und Bedürftigen in diesen schwierigen Zeiten zu helfen und verdeutlichte, dass die Regierung bei der Bewältigung der aktuellen Krise auf die Unterstützung durch die ganze indische Gesellschaft angewiesen ist.

Die Regierung fordert die Bevölkerung auf Zuhause zu bleiben und so wenig Kontakt wie möglich zu anderen Menschen zu haben, doch ist dieser Anspruch für viele schlicht nicht umsetzbar. Die Folgen des Lockdowns zeigen deutlich, dass der Zugang zu einem „Dach über dem Kopf“, Wasser, Seife und sozialen Sicherungssystemen ein Privileg darstellt. Viele der besonders Bedürftigen verloren aufgrund nicht gezahlter Mieten ihre Unterkünfte und suchen nun als Obdachlose Zuflucht in ihren Heimatdörfern.

 

Soziale Sicherung in Indien
 

Indien hat in den letzten Jahrzehnten bei vielen Gesundheitsindikatoren eine signifikante Verbesserung erzielt: Die Kinder- und Müttersterblichkeit sind erheblich gesunken, die Impfrate bei Kindern ist deutlich gestiegen und auch die Lebenserwartung indischer Frauen und Männer ist in den letzten zehn Jahren auf rund 69 Jahre gestiegen Trotz dieser bemerkenswerten Fortschritte ist das indische Gesundheitssystem nach wie vor von großen Ungleichheiten, finanziellen Hindernissen und hohen Direktzahlungen für Dienstleistungen im Gesundheitswesen geprägt. Jeder fünfte Inder lebt unter der internationalen Armutsgrenze von weniger als 1,9 USD pro Tag. Die indische Regierung gibt nur 1,1 Prozent ihres BIP für die Gesundheitsversorgung aus. Zum Vergleich: Die Gesundheitsausgaben in Deutschland beliefen sich im Jahr 2017 auf 375,6 Milliarden Euro oder 4.544 Euro je Einwohnerin bzw. Einwohner, was einem Anteil von 11,5 Prozent des BIP entspricht. Aufgrund des unterfinanzierten öffentlichen Gesundheitssystems und des Mangels an formeller Beschäftigung haben die meisten Menschen in Indien keinen wirksamen Sozialversicherungsschutz. Fast 62 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben in Indien stammt daher aus eigener Tasche, was eine der Hauptursachen für die große Armut des Landes darstellt und jedes Jahr 63 Millionen Inder und Inderinnen unter die Armutsgrenze drückt.

PM-JAY, ein Flaggschiffprogramm der nationalen Gesundheitspolitik der aktuellen indischen Regierung, wurde am 23. September 2018 von Premierminister Narendra Modi ins Leben gerufen. Am selben Tag wurde das Programm auch in 26 von 36 Bundesstaaten und Unionsterritorien (UT) initiiert. Von den verbleibenden Staaten / UT haben sieben bereits zugestimmt, das System umzusetzen, und der Rest wird voraussichtlich folgen. Das übergeordnete Ziel ist die kostenlose Krankenversicherung von 40 Prozent der ärmsten und verwundbarsten Bevölkerung. Die Förderfähigkeit wird dabei anhand von Daten aus dem Socio-Economic Caste Census aus 2011 ermittelt. Das System ist vollständig steuerfinanziert und die Kosten werden von der Zentral- und der jeweiligen Bundesstaatenregierung gemeinsam finanziert.

Die Situation der vulnerablen Bevölkerung des Landes bleibt trotz der Bemühungen wie im Rahmen von PM-JAY besonders prekär. Das liegt allerdings weniger an Bemühungen, Programme wie PM-JAY flächendeckend umzusetzen, sondern schlicht an der Mammutaufgabe, ausreichend Intensivbetten und Beatmungsgeräte zur Verfügung zu stellen, die im Falle einer noch schnelleren Ausbreitung des Coronavirus in Indien weitgehend fehlen würden. Programme wie PM-JAY bleiben dabei vor allem für die Zukunft der Krankenversicherung in Indien relevant, um im Falle einer erneuten Epidemie oder Pandemie bereits wichtige Maßnahmen vorbeugend umgesetzt zu haben – für die aktuelle Krise kommen diese Maßnahmen zu spät.

 

Eine ungewisse Zukunft
 

Die Covid-19-Krise hat Indien definitiv erreicht. Mittlerweile werden drastische Maßnahmen in Form eines nationalen Lockdowns sowie Maßnahmen zur wirtschaftlichen Entlastung (u.a. in Form von cash transfers an besonders Bedürftige) umgesetzt. Fast nie war es so notwendig gewesen, dass Zentralregierung, indische Bundesstaaten und Unionsterritorien unisono agieren.

Die Ankündigungen von Premierminister Narendra Modi und anderen politischen Entscheidungsträgern waren in vielerlei Hinsicht sehr deutlich, was beispielsweise die Notwendigkeit von sozialer Distanzierung angeht. Nichtsdestotrotz bedarf es einer noch klareren Kommunikation, auch um die schwächsten Teile der Bevölkerung zu schützen und ihnen realistische Perspektiven aufzuzeigen. Die indische Online-Zeitung Scroll.in pocht dabei auf die Implementierung folgender Vorschläge als oberste Priorität: Eine einfach formulierte, landesweite Regelung, was bei Nahrungsknappheit oder Unterkunftsnot zu befolgen ist; die Veröffentlichung einer Erklärung, wie die verabschiedeten Hilfspaketejeder Schicht der Gesellschaft zu helfen vermögen; die Thematisierung der Situation der Arbeiterschaft und Tagelöhner und das Bemühen um mittel- und langfristige Lösungen; der verbesserte Umgang mit mutmaßlich positiven Fällen von Covid-19; oder die Berücksichtigung privater Akteure, die bei Beschaffung und Lieferung mit eingebunden sind und ein essentielles Bindeglied zwischen Produzenten und Konsumenten darstellen. Letzteres bleibt weiterhin relevant, um vor allem Indiens Mittelschicht, die sich mit dem nationalen Lockdown bislang arrangiert hat, zufrieden zu stellen. Dass soziale Distanzierung in der größten Demokratie der Welt bis auf wenige Ausnahmen bislang so gut funktioniert, hängt auch von der relativ guten Versorgungslage mit Grundnahrungsmitteln in Großstädten ab. Lebensmittelgeschäfte und Apotheken bleiben geöffnet und Lieferdienste sind nach anfänglichen Schwierigkeiten weiterhin in der Lage Gemüse, Obst, Fleisch und Pizza bis vor die Haustür zu liefern.

Premierminister Modi beraumt derweilen regelmäßige Videokonferenzen mit den Chief Ministern aller indischen Bundesstaaten und Unionsterritorien an. Eine klare Kommunikation und ein ständiger Austausch werden auch mittel- und langfristig entscheidend sein, um die sich von Distrikt zu Distrikt unterscheidenden Infektionsraten zu besprechen und gegebenenfalls auf eine strikt ortsgebundene Lockerung der Maßnahmen zu setzen. Dabei setzt Indien aber nicht nur auf die nationale Perspektive, sondern engagiert sich auch im Rahmen der G-20-Staaten im Kampf gegen die Pandemie. Im Rahmen einer virtuellen Konferenz wurde dabei vonseiten der G-20 beschlossen „[to invest] $5 trillion into the global economy, and do whatever it takes to minimize the economic and social impact of the Covid-19 pandemic”. Darüber hinaus formulierte das indische Außenministerium im Sinne seiner „Neighbourhood First“-Policy, dass Nachbarstaaten angemessene Lieferungen von Paracetamol und Hydroxychloroquine (HCQ) erhalten würden, sofern sie bei der Bekämpfung von Covid-19 davon abhängen sollten.

Amartya Sen, Raghuram Rajan und Abhijit Banerjee unterstreichen im aktuellen Indian Express, dass es nun mit der Verlängerung des Lockdowns entscheidend sei, öffentliche Kantinen für gestrandete Migrantinnen und Migranten zur Verfügung zu stellen und ein Äquivalent des Schulessens an die Häuser bedürftiger Kinder zu schicken. Dabei muss der ständige Austausch mit renommierten lokalen NGOs verbessert werden, die noch am ehesten die besonders vulnerable Bevölkerung erreichen können. Hunger selbst ist nur eine der existenziellen Sorgen der Betroffenen: Die Landwirte benötigen Geld, um Saatgut und Dünger zu kaufen. Ladenbesitzer müssen ihre Regale wieder auffüllen können. Wieder andere müssen sich Sorgen machen, ob sie fällige Darlehen zurückzahlen können. Auch um keinen Nährboden für soziale Unruhen in der Covid-19-Krise zu schaffen, darf weder die indische Politik noch die Gesellschaft diese existenziellen Sorgen ignorieren.

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