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Veranstaltungsberichte

„DenkTag“ - Erinnerung bedeutet Zukunft

Die junge Generation und der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

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mit Dr. Evelina Merova (Prag), Dr. Dagmar Lieblová (Prag), Olga Tarcali (Paris), Marianne Spier-Donati (Paris), Jörg Kallenbach MdL (Erfurt), Michael Panse MdL (Erfurt), Jörg Schwäblein MdL (Erfurt)

Erfurt, Montag, 27. Januar 2003 bis Donnerstag, 30. Januar 2003

Anlässlich des Gedenktages an die Opfer des Nationalsozialismus beteiligten sich in der Woche nach dem 27. Januar 2003 insgesamt 13 Erfurter Bildungseinrichtungen (Regelschulen, Gymnasien, Gesamtschulen) an einer Reihe von 15 Einzelveranstaltungen mit Zeitzeuginnen. Als Referenten beteiligten sich überdies drei Erfurter Landtags-Abgeordnete an den Gesprächsrunden und erörterten die Aufarbeitung der dunkelsten Seite deutscher Geschichte durch die Politik, stellten zugleich Methoden zur Bekämpfung von Rechtsextremismus vor. Schließlich lässt sich die Gefahr eines Wiederaufflammens der nationalsozialistischen Weltanschauung nicht wegdiskutieren, zumal rassistische Weltbilder bei vielen Jugendlichen latent vorhanden sind und teilweise in Gewalt ausbrechen.

Als Zeitzeugin, die während des Dritten Reichs massiv unter dem alltäglichen Rassismus der Nationalsozialisten litt, war Dr. Evelina Merova nach Erfurt gereist. Frau Merova wurde 1930 in Prag als Tochter einer jüdischen Familie geboren und erlebte ihre ersten Lebensjahre in der Hauptstadt der demokratischen Tschechoslowakei – eines der wenigen bis Kriegsausbruch demokratisch gebliebenen Systeme Europas. In ihrer Heimatstadt musste sie nach dem Einmarsch der Wehrmacht im Frühjahr 1939 miterleben, wie die jüdische Bevölkerung eine systematische Entrechtung erfuhr: Den Juden war es untersagt, mit der Straßenbahn zu fahren, Konzerte, Theater oder das Kino zu besuchen, sich in Parks aufzuhalten. Als äußeres Zeichen als Juden mussten sie später den „gelben David-Stern“ tragen. Bald gab es eine Räumungspflicht der Wohnungen – Juden durften nicht mehr in ihren alten Wohnungen bleiben, sondern maximal einen Raum pro Familie bewohnen: In einer Dreizimmerwohnung lebten somit drei einander fremde jüdische Familien.

Die repressiven Machthaber verwehrten den jüdischen Kindern die Bildung, warfen sie aus den Schulen. Für die kleine Evelina blieb als einzige Bildungsmöglichkeit der Gang zur jüdischen Schule, doch war diese so arg überfüllt, dass meist bis in den Abend hinein der Unterricht erfolgte. Die einzige Chance zum Spiel im Freien ergab sich auf dem jüdischen Friedhof, wo die Kinder hinter den Grabsteinen Verstecken spielten. War schon dies kein schönes Spiel für die jüdischen Kinder, so setzte das größere Unheil im Oktober 1941 ein, als die Deportationen von tschechischen Juden ins Ghetto Theresienstadt begannen. In der nach Kaiserin Maria Theresia benannten einstigen Garnisionsstadt legten die Nationalsozialisten ein spezielles Ghetto für tschechische Juden an, das sie in der Propaganda als „vom Führer an die Juden geschenkte Stadt“ darstellten, in Wahrheit aber das Durchgangslager für Transporte nach Osten diente.

Frau Merova berichtete über den Alltag im Lager Theresienstadt, dabei über die Selbstorganisation des Schulunterrichts durch die jüdischen Kinder. Eine wichtige Rolle spielte für die Häftlinge das kulturelle Leben, das von den Nationalsozialisten erst untersagt, bald geduldet, später propagandistisch ausgeschmückt wurde. Die Zeitzeugin wies auf das Schaffen ihrer Freundin Helga Weissova-Hoskova hin, die den Lageralltag in Kinderzeichnungen festhielt. Höhepunkt der Kunstschaffenden im Lager war allerdings die Kinderoper „Brundibar“, aufgeführt von den Insassen. Trotz dieser lichten Tage war der Alltag in Theresienstadt von Hunger, Krankheiten und Tod gekennzeichnet – Familienangehörige und Freunde starben oder verschwanden – gen Osten.

1943 trat auch für Frau Merovas Familie ein, wovor die größte Angst bestand: Die ganze Familie wurde nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Für ein halbes Jahr später war die „Sonderbehandlung“, so der Nazi-Jargon für Vergasung, vorgesehen - die ältere Schwester starb zusammen mit dem acht Monate alten Sohn im Gas. Der Vater verstarb im April 1944 an Tuberkulose, später auch Großmutter. Nur wenige Tage vor Ende der Halbjahresfrist geschah aus Sicht von Frau Merova allerdings ein Wunder: Obwohl sie noch zu jung für die Arbeit war und die Mutter bereits die Altersgrenze überschritten hatte, wurden beide als „arbeitsfähig“ selektiert, ins KZ Stutthof transportiert und in dessen Nähe für äußerst harte Arbeit an der Front – dem Ausheben von Panzergräben - eingespannt. Infolge von Hunger, Erschöpfung, Läusen starb schließlich auch die Mutter. Die Tortur des Mädchens dauerte noch bis Januar 1945, wobei ihr stets der Tod vor Augen stand.

Erst am 21. Januar 1945 flüchteten die Nationalsozialisten vor den anrückenden Russen - unmittelbar vor der Ermordung der letzten Gefangenen. Für Frau Merova begann die Freiheit, doch brachten sie russische Soldaten zunächst in ein Militärhospital. Auf der Fahrt in ein sowjetisches Krankenhaus begegnete sie dem Militärarzt Dr. Mer, der das 15jährige Mädchen adoptierte. Fortan lebte Frau Merova in Leningrad und wirkte dort als Dozentin für Germanistik an der Universität.

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Dr. Evelina Merova erzählt an einer Erfurter Schule über ihren Überlebenskampf im Dritten Reich. Links der Landtagsabgeordnete Jörg Schwäblein.

Ein ähnliches Schicksal wie Frau Merova traf Frau Dr. Dagmar Lieblová. Die Mitinitiatorin des Vereins zur Förderung von Theresienstadt e.V. hat es sich seit vielen Jahren schon zur Aufgabe gemacht als Zeitzeugin der jungen Generation zur Verfügung zu stehen und durch selbst erstelltes didaktisches Material zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Seminaren für Jugendliche beizutragen.

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Dr. Dagmar Lieblová berichtet in Erfurt über ihr Schicksal in Theresienstadt und Auschwitz. Links im Bild Michael Panse, MdL, rechts Tagungsleiterin Maja Eib (Bildungswerk Erfurt)

Als erstes Kind eines praktischen Arztes wurde Frau Lieblova 1929 in einer Kleinstadt der damaligen Tschechoslowakei geboren. Ihr trauriges Schicksal begann 1942, als sie gemeinsam mit Ihrer Familie nach Theresienstadt deportiert wurde. Im Dezember 1943 kam sie mit ihrer Schwester und ihren Eltern in das sogenannte Familienlager nach Auschwitz. Als Wunder beschreibt Frau Lieblova ihr Überleben in Auschwitz, denn sie wurde als Jahrgang 1925 in den Namenslisten geführt und somit einem Transport in ein Arbeitslagen nach Deutschland zugeteilt. Der Rest der Familie blieb zurück und starb im Juli 1944 in Auschwitz. Schwerstarbeit musste sie zuerst in Hamburg, dann in Bergen-Belsen verrichten, wo sie die Briten im April 1945 befreiten. Im Juli 1945 kehrte sie alleine in die Heimat zurück, wo man fortgeschrittene Tuberkulose feststellte. Erst 1948 verlies sie die Lungenheilanstalt. Wenig älter als die zuhörenden Schüler war Dagmar Lieblova ganz allein auf sich gestellt. Sie schaffte es, privat den gymnasialen Lehrstoff nachzuholen und die Reifeprüfung abzulegen. Daraufhin studierte sie an der Karlsuniversität Deutsch, arbeitete als Mittelstufenlehrerin, später als Dozentin an der Universität. Die Schüler zeigten sich sehr beeindruckt, denn sie konnten nur erahnen, was es bedeutet, in ihrem Alter die Familie zu verlieren und dennoch sich selber nicht aufzugeben.

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Entsetzt hörten die Erfurter Schülerinnen und Schüler vom Schicksal der Holocaust-Zeitzeuginnen

Neben den beiden in der Tschechoslowakei geborenen Jüdinnen war eine Zeitzeugin aus Paris zu Gesprächen in den Schulen angereist: Frau Marianne Spier-Donati begegnete zum dritten Mal ihrer Geburtsstadt Erfurt wieder, wo sie 1930 in einer assimilierten jüdischen Familie aufwuchs. 1935 musste sie – im Zuge der Nürnberger Rassegesetze - die Heimat verlassen, fand zunächst in Brüssel eine Bleibe, doch währte auch dieser Aufenthalt nur bis zum Überfall der Wehrmacht auf Belgien. Als „Deutsche“ galten die Spiers in Belgien als Feinde, obwohl sie als Juden selbst verfolgt wurden. So musste die Familie erneut fliehen, diesmal nach Frankreich. Die Familie erfuhr eine Zwangsinternierung in Ausländerlagern, kam aber Anfang 1942 frei und wohnte kurzzeitig in einer Kleinstadt an der Côte d’Azur. Polizisten des kollaborierenden Vichy-Regimes verhafteten schließlich die Familie Spier, doch war es dem Mut eines Beamten zu verdanken, dass sich die Eltern von Marianne und ihrem Bruder Rolf trennten. Den sicheren Tod vor Augen retteten die Eltern somit wenigstens ihre Kinder.

Nur schwer gelang es Frau Spier-Donati, die Spuren ihrer Eltern zu verfolgen: Von der Mutter gibt es keine Notiz, so dass davon ausgegangen wird, dass sie direkt nach der Ankunft in Auschwitz vergast wurde; der Vater – ein Erfurter Schuhfabrikant – arbeitete zunächst in einer Fabrik für Soldatenstiefel und verstarb auf einem Todesmarsch nach Buchenwald – wenige Wochen vor Kriegsende. Die beiden Kinder dagegen kamen in Sicherheit: Angelo Donati, ein jüdischer italienischer Diplomat, versteckte Marianne und Rolf im winzigen italienischen Bergdorf Creppo, adoptierte die beiden nach dem Krieg.

Die Lebensgeschichte von Marianne Spier-Donati und ihrem Bruder Rolf ist in dem Buch „Rückkehr nach Erfurt“ festgehalten, das Mariannes Jugendfreundin Olga Tarcali verfasste. Doch das Überleben im Krieg ist nur ein Teil des Inhalts. Auslöser für das Buch war eine Einladung des Erfurter Oberbürgermeisters an die früheren jüdischen Mitbürger der Stadt. Frau Spier-Donati kam auf diese Weise 65 Jahre nach der Vertreibung aus der Heimat in ihre Geburtsstadt zurück und fand viele Spuren ihres Lebens in Erfurt wieder, so das Elternhaus. Und hätte es die nationalsozialistische Diktatur, den Rassenhass, den Antisemitismus und den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben, würden heute Marianne Spier-Donatis Enkel unter den Erfurter Schülerinnen und Schülern sitzen.

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