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Veranstaltungsberichte

Bratislava als europäische Kulturbrücke

von Andre Kagelmann, Nadine Maria Seidel

Internationale Fachkonferenz „Brücken bauen in Europa“ über Literatur, Werte und Europäische Identität

„Es gibt jetzt in Europa keine Nationen mehr, nur noch Parteien.“ Mit diesen kühnen und zunächst auch irritierenden Worten trug sich der Philosoph Jürgen Habermas in das Goldene Buch der Stadt Düsseldorf ein, als ihm im Dezember 2012 der Heinrich-Heine-Preis verliehen wurde. Erhellend wirkt diese Aussage vor allem, wenn man weiß, dass Habermas hier einen Satz Heines aus dem Jahr 1828 zitiert.

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Solche politischen, historischen und literarischen Perspektiven waren es, die auf der internationalen Fachkonferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung vom 21. bis 24. Mai 2013 in Bratislava aufgezeigt wurden. Den hochkarätig besetzten Auftakt bildete ein Vortragssymposium anlässlich des zwanzigjährigen Bestehens des KAS-Auslandsbüros in der Slowakischen Republik. Im Mittelpunkt der Festveranstaltung, die im prachtvollen Alten Parlament der slowakischen Hauptstadt ausgerichtet wurde, standen die Grußworte von Ján Figel‘, dem Stellvertretenden Vorsitzenden des Nationalrates der Slowakischen Republik, und die Festrede des Präsidenten des Deutschen Bundestages und stellvertretenden Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung, Norbert Lammert.

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Die Beiträge in den einzelnen Sektionen des wissenschaftlichen Teils der Tagung (Konzeption von Norbert Beckmann-Dierkes, Werner Böhler, Michael Braun, Birgit Lermen und Tim B. Peters), die im Spiegelsaal des Bratislaver Primatialpalais fortgeführt wurde, nahmen auf vielfältige und überzeugende Art und Weise die in den Reden des Festakts aufgezeigten politischen Europaperspektiven auf: Oliver Jahraus (München) spannte den kategorialen Bezugsrahmen, indem er das Brückenbauen, Leitmetapher der Konferenz, auffächerte: Neben Brücken geopolitischer Natur und denen zwischen Politik und Wissenschaft stünden solche, die transdisziplinäre Wechselwirkungen von persönlicher Identität und kulturellen sowie wissenschaftlichen Strukturen dimensionierten. Die anschließenden Analysen und Diskussionen der vier Sektionen wurden durch einen reichhaltigen Input an aktueller Literatur in abendlichen Lesungen von Irena Brežná (Basel), Ilma Rakusa (Zürich), Susanne Schädlich und Andreas Apelt (beide Berlin) ergänzt.

Sektion 1

In Sektion 1 wurde die Frage erörtert, wie viel Erinnerung Europa braucht: Ausgehend von der Feststellung, dass es zwar eine gemeinsame Vergangenheit, aber viele Gedächtnisse gebe, beleuchtete Dagmar Koštálová (Bratislava) Prozesse der Neukonzeption des Individuums in der slowakischen Transformationsgesellschaft. Sie koppelte diese Überlegungen mit einer kritischen Inbezugnahme auf aktuelle europaskeptische Diskussionen (Agamben, Streek). Johann Holzner (Innsbruck) bezog sich in seinem Vortrag auf das habsburgische Erbe in Europa, u.a. unter Bezugnahme auf Kokoschkas Metapher des barocken Kirchbaus als paneuropäischem Gesamtkunstwerk. Erhard Schütz (Berlin) thematisierte das literarische Rückkehrrecht der Erinnerung im weiteren Kontext der ‚Bewirtschaftungen‘ des kulturellen Gedächtnisses. Dabei wies er auch auf einen möglichen diskursiven Kurzschluss zwischen poetischer Autonomie und historischer Instrumentalisierung hin.

Sektion 2

In der zweiten Sektion „Werte heute?“ lotete der Vortrag von Peter Hanenberg (Lissabon) die Metaphern von Literatur als Wertekompass und Echolot aus. Literatur betrachtete er evolutionär als Urmöglichkeit des Menschen zur Weltaneignung und Welterfahrung und klopfte sie auf die narrative Konstruktion von Wirklichkeit ab: Dabei sah er in einer freien Literatur dann Wert und Kompass zugleich, wenn sie im Modus des Übersetztseins universell werde. Der anschließende Beitrag „Politik, Werte, Religion in Mitteleuropa“ von Paul Nolte (Berlin) widmete sich einer geschichtlich-politisch-historischen Geographie, in der sich Eindeutigkeiten auflösen würden. Besonderes Augenmerk legte Nolte auf den Widerspruch zwischen dem (west-)europäischen Prozess der Säkularisierung in einer globalisierten, mehrheitlich religiösen Welt. Für die Verortung der unübersichtlichen postsäkularen Wertediskussion schlug er einen prozeduralen, offenen Zugriff vor, der der oft diffusen Interdependenz von Religion, Werten und Politik Rechnung trage. In der anschließenden Diskussion war es insbesondere dieser performative Ansatz, der Widerspruch und Fragen nach der zugrundeliegenden Substanz von ‚Werthülsen‘ unter Betonung einer Ungleichzeitigkeit der europäischen Entwicklung provozierte.

Sektion 3

Sektion 3 setzte sich unter der Überschrift „Bildung ist Wissen und Haltung“ mit der Zukunft der europäischen Wissensgesellschaft auseinander. Der Eröffnungsvortrag von Peter Varga (Budapest) „Bürger und Bürgertum in der Bildungsgesellschaft“ thematisierte den Prozess jüdisch-ungarischer Identitätsfindung zwischen den Polen gesellschaftlicher Assimilation und heterogenen Prozessen kultureller Autonomie. Rüdiger Görner (London) zeigte unter dem Titel „Sprache, Wissen, Bildung oder: Der Schafschädel auf dem Lido“ in Anlehnung an Goethes Konzept der ‚aufsteigenden Entwicklung‘ die Polyvalenz begrifflicher Anschauungen im ‚Haus der Sprache‘, das durch die Stimme erbaut werde. Görner schlug vor, humanistische Bildung als Kulturübertragung zu verstehen, die neben dem Inhalt auch immer durch die sprachliche Form bestimmt sei. Diesen diachronen Ansatz rückte er durch das Beispiel des Europäischen Vereinigungsvertrages an die Gegenwart heran. Der Beitrag von Barbara Naumann (Schweiz), verlesen von Günter Blamberger (Köln), diskutierte den Zusammenhang der Begriffe „Elite“ und „Bildung“ in einer sich immer weiter ausdifferenzierten Wissensgesellschaft: Das Neue an der Prägung moderner Funktionseliten sei eine Abspaltung von Spezialwissen und universeller Bildung; der Auflösungsprozess sei allerdings schon ein Topos der Kulturkritik des 19. Jahrhunderts. Diese Perspektive wurde mit einem Blick auf die permanenten Kommunikationsanforderungen der modernen Mediengesellschaft gekoppelt. Die Auseinandersetzung mit und die Durchdringung von Literatur als ästhetischem Artefakt, nicht als funktionalem Medium, könne als an das Konzept der Muße angelehnter Gegenpol gegenüber beiden skizzierten Entwicklungen angesehen werden.

Vierte Sektion

In der vierten und letzten Sektion wurde unter der Überschrift „Wer sind wir?“ der Frage nach kollektiven (europäischen) Identitätskonzepten nachgegangen. Marianne Kneuer (Hildesheim) spannte zunächst einen politikwissenschaftlichen diachronen Rahmen auf, in dem der Blick auf das Verhältnis der mitteleuropäischen Staaten zur Europäischen Union präzisiert wurde. In ihrer prozessualen Betrachtung unterschied sie die Zeit vor von der Zeit nach dem Beitritt und vertiefte ihre Überlegungen unter besonderer Bezugnahme auf die Finanzkrise. Beatrice Sandberg (Bergen) verlagerte im Anschlussvortrag die Perspektive von der politikwissenschaftlichen Makro- auf die literaturwissenschaftliche Mikroebene: auf die von Autobiographien und Identität in Bildungs- und Zeitromanen unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses der Faktizität zur Fiktionalität.

Karl-Rudolf Korte (Duisburg-Essen) widmete sich am Abschlusstag der Konferenz der Frage nach nationaler wie europäischer kollektiver Identität. Diese Identität basiere auf der Möglichkeit der Abwahl, wobei sich demokratische Legitimationsprozesse verändern würden. Silvio Vietta (Hildesheim) ergänzte Kortes Plädoyer für eine übergreifende europäische kulturelle Kohäsion durch eine kulturgeschichtliche Perspektive, die auf dem „Imperium der Rationalität“ gründe: Dieses, in Griechenland zwischen dem achten und fünften Jahrhundert v. Chr. entstandene ‚Reich der Vernunft‘ habe Raum und Zeit entmystifiziert und so die Welt bzw. unseren Blick auf sie, nur vergleichbar mit der neolithischen Revolution, fundamental verändert. Den Abschluss der Konferenz bildete der Vortrag des KAS-Ehrenvorsitzenden und Ministerpräsident a.D. Bernhard Vogel, der eine Antwort auf die Frage nach der Zukunft der Europäischen Union aus einem Panorama der Geschichte des Kontinents entwickelte: Besonderes Augenmerk legte er auf den europäischen Vereinigungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg und betonte die Einzigartigkeit des Privilegs, in Frieden, Freiheit und Wohlstand zu leben. Als Herausforderung unterstrich er die trotz aller Erfolge oft starke Skepsis der Menschen gegenüber (v.a. dem politischen) Europa. Eine Lösung der Identitätskrise könne die sukzessive Vertiefung des am Gemeinwohl orientierten Prozesses der europäischen Integration darstellen, wobei staatliche Souveränitätsrechte geachtet und die Bevölkerungen der Mitgliedstaaten eingebunden werden müssten.

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23. Mai 2013
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