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Die Ukraine – transparent, aber korrupt?

Die Ukraine ist das transparenteste korrupte Land in Europa. Korruption, Oligarchie und teilweise mafiöse Strukturen sind weiterhin Teil des Alltags der Menschen in der Ukraine, ob im Gesundheits- oder Bildungsbereich, in der Wirtschaft, im Zollwesen sowie in der Medienlandschaft. Nichtsdestotrotz wurden durch den Reformkurs der vergangenen Jahre mehr Transparenz und gesellschaftliches Bewusstsein für Korruption erreicht. Die deutsche Regierung und die Europäische Union unterstützen die Ukraine substanziell. Antikorruptions- und Justizreform sind Prioritäten.

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Im „Korruptionswahrnehmungsindex 2018“ von Transparency International belegt die Ukraine gemeinsam mit afrikanischen Ländern wie Mali, Malawi und Liberia Platz 120 von 180 (mit 32 von 100 Punkten). Insgesamt liegt das Land auf Platz drei der korruptesten Länder des Kontinents Europa, nur Aserbaidschan (Platz 152) und Russland (Platz 138) schneiden noch schlechter ab.

Wenn man Deutsche nach ihrem Bild von der Ukraine fragt, dominieren die vier Ks: Krim, Krieg, Krise und Korruption. Auch die Ukrainer selbst sehen den Frieden im Donbas (32,1 Prozent) sowie den Antikorruptionskampf (34 Prozent) als Prioritäten und zentrale Aufgabe des neuen Parlaments. Dies geht aus einer Umfrage des Razumkow-Zentrums im Juli 2019 hervor; nur die Erhöhung von Gehältern und Renten (38 Prozent) sowie die Senkung der Nebenkosten (38,8 Prozent) erreichen eine größere Unterstützung der Befragten. Korruption scheint ein endemisches, strukturelles Problem zu sein, das sich wie eine Hydra durch nahezu alle Gesellschafts- und Lebensbereiche zieht.

Trotzdem hat sich in den fünf Jahren seit der „Revolution der Würde“ viel getan. Insbesondere sind die korrupten Machenschaften in vielen Bereichen transparenter und durch Präventionsmaßnahmen eingehegt worden. Ein Beispiel sind die verpflichtenden elektronischen Vermögens­erklärungen (e-declarations). Seit 2014 müssen alle Amtsträger im öffentlichen Dienst eine elektronische Auflistung sämtlicher Einkünfte und Besitztümer abgeben, die weitaus detaillierter als in anderen europäischen Ländern ausfällt und online für jeden Bürger zugänglich ist. Daraus wird in vielen Fällen ersichtlich, dass sich Beamte mit einem Monatsgehalt von mehreren Hundert Euro wohl keine großzügigen Immobilien, teuren Autos oder Schweizer Uhren auf legalem Wege leisten können. Die Überprüfung der Erklärungen wird von der Nationalen Agentur zur Prävention von Korruption (­NACP) vorgenommen und Ermittlungen werden an das Nationale Antikorruptionsbüro (­NABU) übergeben. Laut dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme, ­UNDP) war die Veröffentlichung der Einkommen und Vermögen der Beamten über ein offenes, direkt zugängliches digitales System das bahnbrechende Instrument der Ukraine zur Verhinderung von Korruption. Das System sei ein wichtiger Schritt in Richtung von mehr Transparenz und ein Sprungbrett für einen Kulturwandel. Dieses Instrument ermöglicht es also der Zivilgesellschaft, internationalen Organisationen sowie staatlichen Institutionen, die Korruption in vielen Bereichen nachvollziehbar zu machen, zu überwachen oder aufzudecken. Weil es jedoch bei der konsequenten Ahndung dieser offenkundigen Korruptionsfälle hapert, kann die Ukraine durchaus als transparentes, aber korruptes Land beschrieben werden. Prävention und Transparenz sind nur der erste Schritt und es bedarf auch unabhängiger Institutionen, die sich der strafrechtlichen Verfolgung und Verurteilung der Fälle widmen.

Die Regierung Poroschenko hat die grundlegenden Institutionen dafür geschaffen: das bereits erwähnte Nationale Antikorruptionsbüro (­NABU) und die Nationale Agentur zur Prävention von Korruption (­NACP), die Nationale Agentur für die Rückführung gestohlener Vermögenswerte (­NASAR), die spezialisierte Staatsanwaltschaft für Antikorruption (­SAPO), den Nationalen Rat für Antikorruptionspolitik (­NCACP) und schließlich den Antikorruptionsgerichtshof (­HACC). Leider konnten diese neu geschaffenen Institutionen nicht immer effizient arbeiten und bis zu diesem Jahr keine Verurteilungen vorweisen. Das war einer der Gründe für die Unzufriedenheit der ukrainischen Bevölkerung mit dem ehemaligen Präsidenten Poroschenko.

Mit dem Politikwechsel im Frühjahr 2019 kommt in der Ukraine auch frischer Wind in den Bereich der Korruptionsbekämpfung.

Nicht zuletzt deshalb haben sich die Bürger der Ukraine mit der Wahl Wolodymyr Selenskyjs zum Präsidenten und einem Parlament, der Werchowna Rada, mit 80 Prozent Politik-Neulingen für frische Gesichter und andere Regeln in der Politik entschieden. Die neue Regierung schreitet mit hohem Tempo voran und hat auch im Antikorruptionsbereich bereits zahlreiche ­Gesetzesänderungen verabschiedet. Beispielsweise wurde die Strafbarkeit von gesetzeswidriger Bereicherung wieder eingeführt, ein Neustart der Nationalen Antikorruptionsbehörden beschlossen und die Verbesserung der Strafprozessordnung sowie die Reform der Staatsanwaltschaft angestoßen. In den Neuernennungen der Leiter von Justiz- und Antikorruptionsbehörden, der Beteiligung internationaler Experten bei der Richterauswahl und in einer neuen Ethikkommission sieht man viel Potenzial, den Antikorruptionskampf endlich substanziell voranzubringen. Die Ablösung der alten politischen Eliten durch progressive, neue und junge Politikakteure erscheint als Chance für die Ukraine. Der politische Druck, Korruption wirkungsvoll zu bekämpfen, ist hoch – auch von Seiten der Zivilgesellschaft und der internationalen Partner. Die Entscheidungsträger in der Ukraine müssen dieses Problem angehen – nicht nur, um die Konditionen des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union zu erfüllen, sondern auch um den Lebensstandard der ukrainischen Bürger zu erhöhen und deren Vertrauen in die Institutionen wiederzuerlangen. Die meisten Ukrainer vertrauen nicht den Institutionen der Exekutive, Judikative oder Legislative, sondern der Kirche, Freiwilligenorganisationen und der Armee. Dies ist ein großes Problem, das langfristig das Funktionieren der noch sehr jungen Demokratie gefährdet. Es ist den vorherigen Regierungen nicht gelungen, dieses Vertrauen der Bevölkerung wiederzugewinnen. Mit einem Durchschnittseinkommen von 340 Euro monatlich (brutto), was nur ca. 20 Prozent des europäischen Durchschnitts im Jahr 2018 entspricht, bleibt die Ukraine das ärmste Land Europas, wenngleich sich positive Tendenzen zeigen. Die sozioökonomischen Voraussetzungen der Bevölkerung können sich aber nur nachhaltig verbessern, wenn das Investitionsklima attraktiver wird; und auch dies hängt wesentlich von der Verringerung korrupter Machenschaften und einem funktionierenden und unabhängigen Justizsystem ab.

Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte bei ihrem letzten Besuch in der Ukraine im November 2018, dass der Antikorruptionskampf neben Dezentralisierung und Privatisierung eine der wichtigsten Reformen sei. Während des 21. EU-Ukraine-Gipfels im Juli 2019 gab auch die Europäische Union den Kampf gegen Korruption explizit als eine von vier Prioritäten für die neue Regierung an und warnte vor der Gefahr eines Rollbacks im Antikorruptionskampf. Die deutsche Regierung und die Europäische Union unterstützen die Ukraine also auf ihrem Reformweg. Aktuelle Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (­OECD) vom Herbst 2019 bestätigten, dass Deutschland nach den ­USA und der EU der drittgrößte Geldgeber der Ukraine ist. Von den über 15 Milliarden Euro, welche die EU seit 2014 für die Ukraine mobilisiert hat, wurden 2016 und 2019 jeweils 15 Millionen Euro gezielt für eine Antikorruptionsinitiative bereitgestellt. Wieso diese substanzielle Unterstützung insbesondere im Antikorruptionskampf notwendig und im Sinne der europäischen Werte ist, stellt der folgende Beitrag dar.

Die Früchte des Euromaidan

Die Ukraine hat sich in der Revolution der Würde (Euromaidan oder auch Maidan-Revolution, nach dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz) im Jahr 2014 für den europäischen Weg entschieden. Die Menschen haben dafür hart gekämpft, viele haben diesen Kampf sogar mit ihrem Leben bezahlt. „Der Maidan hat die Zivilgesellschaft vereint und bestärkt. Auch wenn wir nicht wussten was danach passieren würde, haben wir dieses Empowerment gefühlt“ so Anastasia Kozlovtseva, Leiterin der Abteilung für Internationale Beziehungen von Transparency International Ukraine. Sie betont, dass Transparenz nur der erste Schritt sein kann und die Implementierung von Reformen folgen muss.

Die Reformen seit dem Maidan haben vor allem im Bereich der öffentlichen Vergabe – mit dem Online Portal „ProZorro“ – ein Paradebeispiel für transparenten Umgang mit öffentlichen Geldern geschaffen. Diese Online-Plattform für öffentliche Auftragsvergabe wurde aus einer Allianz der Zivilgesellschaft sowie des privaten und öffentlichen Sektors aufgebaut und gewährleistet den freien Zugang zu allen öffentlichen Ausschreibungen. „ProZorro“ gilt als eines der „innovativsten öffentlichen Beschaffungssysteme, das staatliche Dienstleistungen in einem auf Interessengruppen ausgerichteten, transparenten, effektiven, fairen und kostengünstigen Weg bereitstellt“. Jeder kann die öffentlichen Ausschreibungen online einsehen und das Portal sorgt so nicht nur für einen offenen Wettbewerb zwischen Unternehmen, die Waren und Dienstleistungen an den Staat liefern, sondern bietet auch die Möglichkeit der besseren Kontrolle der Auftragsvergabe für die Zivilgesellschaft. Schätzungen zufolge hat „ProZorro“ bereits mit bis zu zehn Prozent zu den Einsparungen der öffentlichen Ausgaben beigetragen.

Alte Machtstrukturen und einflussreiche Interessen­gruppen sind in der Ukraine weiterhin präsent und verlangsamen den Antikorruptionskampf.

Zudem wurden erfolgreiche Reformen im Banken- und Gassektor durchgeführt, wo zuvor Geldwäsche im großen Stil betrieben wurde. Auch die bereits erwähnten verpflichtenden elektronischen Vermögenserklärungen der Beamten und Angestellten im öffentlichen Sektor schaffen Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Geldströmen, die es den zivilgesellschaftlichen und internationalen Organisationen ermöglichen, über Missstände zu informieren und Korruptionsfälle aufzudecken. Trotz dieser Transparenz fehlt es bislang an der konsequenten Verfolgung offengelegter Fälle. Beispielsweise gaben ­NABU und ­SAPO im August 2019 bekannt, dass in 751 Kriminalverfahren ermittelt werde, bei denen 133 Personen unter Verdacht stünden und 369 Anklagen erhoben worden seien. Auffällig ist, dass es bisher keine finalen Verurteilungen gibt. Die neuen Antikorruptionsbehörden haben es schwer, insbesondere bei der Ermittlung gegen hochrangige Regierungs- und Verwaltungsmitglieder. Das ­NABU wurde bereits im Jahr 2014 geschaffen, auch mit Hilfe von EU-Geldern. Allerdings kommen die Ermittler nur schleppend voran und werden teilweise in ihrer Arbeit von alten Strukturen und mächtigen Interessengruppen behindert. Das ­SAPO litt bisher unter Missmanagement, ebenso die Nationale Agentur für Korruptionsprävention. Außerdem fehlte bis vor Kurzem eine eigene gerichtliche Instanz – der Antikorruptionsgerichtshof (­HACC) wurde im Jahr 2019 gegründet und hat im September seine Arbeit aufgenommen. Nun erhofft man sich für das Frühjahr 2020 die ersten Verurteilungen. Die Ernennung der Richter für den ­HACC war ein großer Erfolg, denn ein internationaler Expertenrat durfte bei der Auswahl nicht nur beraten, sondern tatsächlich mitbestimmen. In keinem anderen Land der Welt gäbe es eine solche Antikorruptionsgesetzgebung, so der damalige Präsident Petro Poroschenko zur Annahme des Gesetzes in der Rada. Durch die Personalpolitik des neuen Präsidenten Selenskyj haben sich positive Signale zunächst bestätigt. Den Vorsitz des neu gegründeten Antikorruptions­politikrates im Parlament hat Anastasiya Krasnosilska übernommen, die zuvor für das Antikorruptions-­Aktionszentrum (Anti Corruption Action Centre, AntAC) tätig war. Ruslan Riaboshapka, ein angesehener Reformer und Antikorruptions-Experte, wurde zum Generalstaatsanwalt ernannt. Neben der Schaffung von Transparenz durch Monitoring und Präventionsmechanismen wurden also auch die notwendigen Institutionen zur Strafverfolgung eingesetzt und ein personeller Neustart begonnen.

 

Abb. 1: Die zehn wichtigsten Reformen nach einer Umfrage im Juni 2019 sowie die Meinung der Bevölkerung zum Erfolg der Reformen im Juni 2019 (in Prozent)

https://www.kas.de/documents/259121/7681178/weininger_grafik_01_DE.svg/51de2a67-006a-05bc-4e61-e890f2f16a8d?t=1574941970330

Quelle: Eigene Darstellung nach Razumkow-Zentrum 2019: „Ukraine nach den Wahlen: soziale Erwartungen, politische Prioritäten, Entwicklungsperspektiven“ (Übers. d. Autorin),S. 74 / 79, in: https://bit.ly/2OtKqMc [21.11.2019].

 

Weshalb ist die Ukraine in den Rankings also immer noch eines der korruptesten Länder, wenn sich so viel getan hat? Wie die vorhergehenden Beispiele zeigen, kann die Ukraine durchaus erfolgreiche Reformen seit dem Maidan vorweisen. Das Land sei jedoch immer noch von endemischer Korruption durchzogen und die Antikorruptionsinitiativen seien nur teilweise implementiert worden, heißt es im aktuellen Bericht der Organisation Freedom House, in dem das Land als „teilweise frei“ bezeichnet wird (mit 60 von 100 Punkten). Es gibt aber noch eine weitere Errungenschaft: Die vom Westen finanzierte Bildungs- und Lobbyarbeit im Bereich Antikorruption hat ihren Beitrag dazu geleistet, den öffentlichen Druck auf die Regierung zu erhöhen, um die Antikorruptionsreformen wirkungskräftig durchzuführen. Je mehr aufgedeckt wird, desto stärker rückt die Problematik in das Bewusstsein der Gesellschaft. Dies wurde auch an wochenlangen Diskussionen in der ­ukrainischen, aber auch der internationalen Öffentlichkeit über das geleakte Telefongespräch zwischen dem US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump und Selenskyj deutlich, wobei die Folgen für die Ukraine noch unklar sind.

Es wäre fatal zu verkennen, dass der öffentliche Diskurs über Korruption sowie die langjährige Arbeit der zahlreichen Graswurzelinitiativen in diesem Bereich Zeichen einer demokratischen Entwicklung des Landes und der Bevölkerung sind. Dieser Wandel in den Köpfen fand also bereits vor der Wahl Selenskyjs statt. Ebenso sind die demokratischen und freien Wahlen im Jahr 2019, welche zu einem friedlichen Machtwechsel geführt haben, ein gutes Zeichen. Eine solche Entwicklung war bisher nur in wenigen anderen postsowjetischen Ländern außerhalb der EU möglich.

Wirtschaftlicher Erfolg oder Rollback?

Die zügigen und zahlreichen Reformbemühungen der neugewählten Regierung unter Präsident Selenskyj drücken zunächst eine Bestätigung der Westorientierung des Landes aus. Trotz zahlreicher Risiken gibt es zumindest Grund zur Hoffnung, dass man die richtigen Reformprioritäten mit politischem Willen und dank absoluter Mehrheit im Parlament durchsetzen wird. Da das Parlament eine wichtige Rolle bei der Umsetzung der Reformen mit der entsprechenden Gesetzgebung einnimmt, hat der Präsident die einmalige Gelegenheit, diese Reformen mit seiner Partei Sluha Narodu (deutsch: „Diener des Volkes“, nach der gleichnamigen Fernsehserie des ehemaligen Schauspielers) ohne Widerstände aus dem Parlament durchzusetzen. Frühere Kämpfe zwischen den Koalitionspartnern und zwischen Regierung und Parlament gelten nun nicht mehr als Ausrede. Die große Fraktion der Regierungspartei hat mit 254 von 450 Sitzen die absolute Mehrheit in der Werchowna Rada inne. Der Präsident und sein Team haben große Reformen im Antikorruptions- und Justizbereich angekündigt, streben aber ebenso ein insgesamt besseres Investitionsklima an. Die ca. 3.500 staatlichen Unternehmen sollen im großen Stil privatisiert, Monopole aufgelöst und der Zugang für internationale Investoren erleichtert werden. Auch die von internationalen Geldgebern geforderte Aufhebung des Moratoriums für den Verkauf landwirtschaftlicher Flächen wurde am 13. November in erster Lesung verabschiedet und soll am 1. Oktober 2020 in Kraft treten. Im Oktober entschied das Ministerkabinett, dass auf der „ProZorro“-Plattform künftig auch das Vermögen insolventer Unternehmen öffentlich zum Verkauf angeboten werden soll. Die ersten wirtschaftlichen Erfolge sind ebenfalls zu verzeichnen: Im zweiten Quartal 2019 stieg die Wirtschaftsleistung der Ukraine um 4,6 Prozent und die Währung Griwna wurde deutlich aufgewertet. Die Märkte entwickelten sich zu Beginn des zweiten Halbjahres positiv. Als Gründe wurden neben der neuen Regierung auch die erfolgreiche Ernte im Agrarsektor, steigende Löhne und die Rücküberweisungen von Emigranten genannt. Der Internationale Währungsfonds (­IWF) betonte in einer Pressemitteilung Ende September, dass die solide Fiskal- und Geld­politik der vergangenen Jahre, die Behebung des Defizits im Energiesektor und die Umstrukturierung des Bankensystems die Wirtschaft aus der Krise des Jahres 2014 wieder zurück zum Wachstum geführt sowie makroökonomische Stabilität wiederhergestellt hätten. Doch das aktuelle Wachstum von zwei bis drei Prozent sei noch zu gering, um die Einkommenslücke zu europäischen Nachbarn zu schließen. Ein entsprechend höheres, nachhaltiges Wachstum könne nur durch die Umsetzung ehrgeiziger Reformen erreicht werden. „Dazu gehören vor allem die feste Verankerung der Rechtsstaatlichkeit, Justizreformen und die entschiedene Bekämpfung der Korruption“, so der ­IWF.

Aber auch für die wirtschaftliche Prosperität sind ein funktionierendes, unabhängiges Justizsystem und der erfolgreiche Kampf gegen die Korruption notwendig. Nur dann werden sich ausländische Geldgeber auf langfristige Investitionen einlassen. Die Ukraine hat 2014 ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union unterzeichnet – inklusive einem Freihandelsabkommen (Deep and Comprehensive Free Trade Agreement, ­DCFTA). Die EU unterstützt unter anderem die wirtschaftlichen Reformen des Landes und investierte seit 2014 beispielsweise ca. 110 Millionen Euro in die Entwicklung des privaten Sektors, insbesondere in die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen. Seit Inkrafttreten des ­DCFTA im Januar 2016 hat der bilaterale Handel zwischen der EU und der Ukraine um 49 Prozentpunkte zugenommen. Damit wurde die EU zum größten Handelspartner der Ukraine (42 Prozent).

Was also sind die Risiken, welche die wirtschaftlichen Reformen behindern könnten und denen die Ukraine, gemeinsam mit den internationalen Partnern, entgegentreten muss?

Auch unter den neuen Parlamentsabgeordneten der Partei „Diener des Volkes“ bestehen Verbindungen zur ukrainischen Oligarchie.

Oft werden die fehlende Fraktionsdisziplin, Oligarchie und Machtkonzentration genannt. Erstere ist in der politischen Kultur der Ukraine nicht besonders ausgeprägt. Auch im Team Selenskyjs zeichnen sich von Beginn an verschiedene Interessengruppen innerhalb der Fraktion der „Diener des Volkes“ ab. Die zum Teil sehr jungen und unerfahrenen Mandatsträger bilden eine sehr diverse Gruppe aus Reformern und jungen Geschäftsleuten – teilweise auch mit Beziehungen zu Ihor Kolomojskyj, einem bekannten Oligarchen der Ukraine, der immer wieder mit Präsident Selenskyj in Verbindung gebracht wird. Viele der Abgeordneten von Sluha Narodu sind über Direktmandate gewählt worden und haben möglicherweise im Vorfeld lokale Versprechen gegeben, sind fragwürdige Seilschaften eingegangen oder verfolgen eigene Interessen. Hinter einigen neuen Abgeordneten stehen ohne Zweifel Oligarchen, die in der Ukraine immer noch Politik, Wirtschaft und Medien dominieren. Neben den Reichen, die ihren Einfluss nicht kampflos aufgeben werden, gibt es auch im System selbst Widerstand. Die notwendigen Reformen sind nicht immer populär und die administrativen Kapazitäten der lokalen und nationalen Ebene sind noch immer begrenzt – im Hinblick nicht nur auf gute Regierungsführung, sondern auch auf das Wissen über komplexe Transformationen und Reformgesetzgebungen. Das größte Risiko ist aber die Machtkonzentration, welche der Präsident gemeinsam mit seiner absoluten Mehrheit im Parlament innehat. Das schwach ausgeprägte System der Checks und Balances im politischen System der Ukraine – eigentlich kontrolliert das Parlament den Präsidenten – ist nun faktisch ausgehebelt. Sowohl die Medien als auch die Zivilgesellschaft scheinen bei der neuen Regierung einen schwierigeren Stand zu haben. Mykhailo Zhernakow, Jurist und Leiter der ­DEJURE Foundation, erklärte zu Beginn der Legislaturperiode im Spätsommer 2019, dass der Vorbereitungsprozess der ersten Reforminitiativen und Gesetzesvorschläge durch das neue Regierungsteam leider nicht als offen oder inklusiv bezeichnet werden könne. Dies sei im Herbst bereits etwas besser geworden, als sich das Parlament tiefer mit den Reformgesetzen beschäftigte. Mit der Regierung Poroschenko war dies ein eingespielter Konsultationsprozess gewesen, in den Zivilgesellschaft und Experten miteinbezogen wurden. Gerade wegen der aufgezeigten Risiken gilt es, jeglichen Rückschritten des seit dem Maidan erreichten Demokratisierungsprozesses entgegenzutreten und keine autoritären oder populistischen Tendenzen zuzulassen. Die G7-Staaten sollten weiterhin geschlossen auftreten und sich mit der Zivilgesellschaft auf gemeinsame Prioritäten für die Reformagenda einigen. Die Erfolge in der Wirtschaft und bei den Reformen sind auch für die Vermeidung jedweden Rückfalls in ein autoritäres Szenario notwendig.

Ein letzter Punkt, weshalb Europa den Kampf gegen Korruption in der Ukraine weiterhin unterstützen sollte, ist, dass korrupt erwirtschaftete Gelder oft in europäischen Ländern ausgegeben werden, ob in Österreich, im Vereinigten Königreich oder in den baltischen Staaten. Die ukrainische Korruption ist also auch in Westeuropa spürbar, wo das schmutzige Geld am liebsten ausgegeben wird. Olena Galushka vom Büro des Antikorruptions-Aktionszentrums (AntAC) argumentiert auf dieser Linie: Europa trüge eine Mitverantwortung, wenn bei großen Summen nicht nachgefragt werde, woher das Geld kommt. Somit trage Europa zum Erfolg der Geldwäsche ukrainischer Oligarchen und auch zu deren Einfluss in Westeuropa bei.

Abschließend haben Deutschland und Europa Interesse an der nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung der Ukraine – einem Land mit einer Fläche fast so groß wie Frankreich und mit ca. 45 Millionen Einwohnern in der direkten Nachbarschaft. Dieses große wirtschaftliche Potenzial und das bisher Erreichte geben Hoffnung auf die weiterhin positive ökonomische Entwicklung der Ukraine.

Korruption unter Konfliktbedingungen

„Die Zukunft der Europäischen Union entscheidet sich auch in der Ukraine: Wenn es Russland mit seinen zunehmenden Aktivitäten gegen die Ukraine gelingt, das Land zu destabilisieren oder gar in seinen Machtbereich zurückzu­holen, hätte das gravierende Auswirkungen für die Sicherheit Europas, für die Strahlkraft des westlichen Wertemodells und für die Wirksamkeit der Europäischen Union als Gestaltungsmacht“, so beginnt ein Positionspapier der ­CDU/­CSU-Bundestagsfraktion vom November 2018.

Der anhaltende Konflikt in der Ostukraine ist weiterhin ein wesentlicher Bestandteil der regionalen politischen und gesellschaftlichen Beziehungen.

Aus ukrainischer Sicht bedarf diese Argumentation keiner weiteren Erklärung. Jedoch ist nicht vielen Europäern bewusst, dass seit Beginn des Konflikts in der Ostukraine über 13.000 Menschen getötet wurden, davon ein Viertel Zivilisten, und dass es in Europa wieder zu Grenzverschiebungen kommt und Minen gelegt werden. Genauso besorgniserregend ist die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland 2014, die oft in der Diskussion zur Ukraine in den Hintergrund rückt. Das Ignorieren des Völkerrechts bedroht nicht nur die internationale liberale Weltordnung und das internationale Rechtssystem, sondern ganz konkret die Sicherheit Europas. Dass die Ukraine und ihre freien Wahlen eine denkbare Herausforderung für das russische Machtsystem darstellen, wurde auch im Sommer 2019 erkennbar. Zuerst schaute man fast neidisch aus der russischen Medienlandschaft auf das Nachbarland, wo es verschiedene Kandidaten bei einer Präsidentschaftswahl gab und der Ausgang der Wahlen nicht schon im Voraus bestimmt war. Dass dann ein bekannter Schauspieler ohne politische Erfahrung nicht nur Präsident werden, sondern auch die Mehrheit im Parlament gewinnen konnte, war für viele Russen in ihrem Land unvorstellbar. Dies sei laut Experten aus Russland durchaus einer von mehreren Gründen für die Demonstrationen für freie und gerechte Wahlen in Russland im Sommer 2019 gewesen.

Die Konfliktlösung war eines der Wahlversprechen Selenskyjs und so gab es zwischen Kiew und Moskau im vergangenen Halbjahr kleine Fortschritte. Es kam zu einer Entflechtung an einem Brückenübergang an der Kontaktlinie und einem – wenn auch fragilen, aber vergleichsweise effektiven – Waffenstillstand im Sommer 2019 sowie zur Unterzeichnung der „Steinmeier-­Formel“ in Minsk. Ein Treffen im Normandie-­Format auf Ebene der Staatsoberhäupter ist angesetzt und eine Entflechtung an weiteren Übergangspunkten der Kontaktlinie vorgesehen. Ein besonderes Anliegen ist es Selenskyj, die Lebensbedingungen für die Menschen an der Kontaktlinie auf beiden Seiten zu verbessern. Deren Grauzone ist Nährboden für neue Korruptionsquellen, beispielsweise für den Handel mit Kohle aus den besetzten Gebieten oder dem Schwarzhandel. Im März 2019 kochte ein neuer Korruptions­skandal aus dem Verteidigungssektor hoch. Die Ukraine hat im Jahr 2018 rund fünf Prozent des Bruttoinlandprodukts für Verteidigung ausgegeben. Der staatliche ukrainische Rüstungskonzern Ukroboronprom wird beschuldigt, Waffen und Ausrüstung der ukrainischen Armee im Wert von ca. acht Millionen Euro veruntreut zu haben. Die Auftragsvergabe hatte nicht offen stattgefunden und das ­NABU hatte ermittelt. Einen positiven Effekt hat der Skandal jedoch: Auch in diesem Sektor werden nun Präventivmaßnahmen ergriffen, um Korruption vorzubeugen. Premierminister Oleksij Hontscharuk hat die Bekämpfung von Korruption im Verteidigungssektor ebenfalls in sein Regierungsprogramm aufgenommen. Im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist dies nicht der einzige Fall von Korruption, und die EU unterhält mit der European Union Advisory Mission (­EUAM) eine umfassende Mission zur Sicherheitssektor­reform, die seit Dezember 2014 im Land tätig ist. Das Ziel ist die Unterstützung der ukrainischen Behörden bei der Umsetzung von Reformen im zivilen Sicherheitssektor in Anlehnung an internationale Standards. Hierzu zählen insbesondere die Gewährleistung von Effizienz und Rechtsstaatlichkeit als auch die Stärkung des Vertrauens der Öffentlichkeit in staatliche Institutionen. Im Zeitraum von Juni 2019 bis Mai 2021 stehen der Mission zur Erfüllung dieser Aufgaben 54 Millionen Euro zur Verfügung. Der Antikorruptionskampf ist auch hier Teil der Reformen, welche das Vertrauen der Bevölkerung in die öffentlichen Institutionen, insbesondere die Sicherheitsbehörden, wiederherstellen sollen. Der militärische Kampf in der Ostukraine könnte auch mit nichtmilitärischen Mitteln gewonnen werden, wenn sich die Ukraine innenpolitisch so reformiert, dass sie für alle Ukrainer auf beiden Seiten der Kontaktlinie attraktiv ist.

Ausblick

Bisher hat das so oft zitierte „Sandwich“ aus internationalen Partnern und ukrainischer Zivilgesellschaft mit vereinten Kräften für die Reformen im Justiz- und Korruptionsbereich gekämpft. Das Visa-Liberalisierungsabkommen der Ukraine mit der EU galt als größter Erfolg und als Belohnung für die Reformen. Seit Inkrafttreten im Juni 2017 sind ca. drei Millionen Ukrainer mithilfe eines biometrischen Passes in die EU eingereist. Eine konkrete Voraussetzung hierfür waren Fortschritte in der Antikorruptions-­Gesetzgebung. Diese Politik aus „Zuckerbrot und Peitsche“ hat bisher zu den größten Reform­erfolgen geführt und sollte auch weiterhin angewandt werden. Die EU wies zuletzt auf ihrem Gipfel im Juli 2019 darauf hin, dass die Ukraine im Korruptionskampf und in der Justizreform mehr tun muss, um die volle Implementierung des Assoziierungsabkommens zu gewährleisten. Eine Rücknahme der Visa-Liberalisierung wurde bisher nicht ins Auge gefasst. Auch die makrofinanziellen Hilfen Europas und des ­IWFs, aber auch der Weltbank, sind von Fortschritten im Reformprozess des Landes abhängig. Insbesondere der Kampf gegen Korruption war hier immer wieder die Bedingung für weitere Finanzhilfen. Als die Reformen in diesem Bereich am Ende der Präsidentschaft von Petro Poroschenko zum Stillstand kamen und das Gesetz zur illegalen Bereicherung von Beamten vom Verfassungsgericht kassiert wurde, wurden die Tranchen zurückgehalten und eine Beendigung der Zusammen­arbeit angekündigt. Auch in Zukunft sollten diese Allianzen und Anreize genutzt werden, um die anstehenden Reformen voranzutreiben.

Die Umfrage des Razumkow-Zentrums untersuchte auch den Wählerwillen bezüglich Aussagen aus politischen Parteiprogrammen. Demnach unterstützten die meisten Befragten eine Einführung der verpflichtenden Einziehung von Eigentum korrupter Beamter (90,9 Prozent) sowie eine Beschränkung der Oligarchen, Wirtschaftssektoren zu monopolisieren, ihre Leute in öffentliche Ämter zu berufen und die Medien zu kontrollieren (91,8 Prozent). Außerdem sprachen sich 64,5 Prozent für die Einführung eines Systems zur finanziellen Entschädigung der Bürger für die Aufdeckung von Korruption aus. Ein Gesetzesentwurf „Zum Schutz und zur finanziellen Entschädigung von Whistleblowern“ wurde im September 2019 ins Parlament eingebracht. 87,3 Prozent hielten den personellen Neustart aller Gerichte und den Abschluss der Reform des Justizwesens für wichtig. Vita Dumanska von der ­NGO Chesno erklärt, Selenskyj habe in seinem Wahlkampf auf soziologische Umfragen gehört und die populären Forderungen der Gesellschaft in sein Wahlprogramm aufgenommen. Nach den Wahlen wurde jedoch klar, dass manche Versprechen nicht eingehalten werden können, wie beispielsweise die Senkung der Gaspreise. Darüber hinaus warteten die Wähler immer noch auf die Verwirklichung des Slogans „Der Frühling wird kommen, da werden wir die korrupten Beamten hinter Gitter bringen“.

Das größte Risiko für die neue Regierung in der Ukraine ist die Enttäuschung der Bevölkerung. Die Versprechen Selenskyjs, den Krieg in der Ostukraine zu beenden und eine Ukraine ohne Korruption zu schaffen, werden nicht in fünf Jahren umzusetzen sein. Korruption kann nie vollständig ausgelöscht werden und ein Ende des Konflikts hängt auch vom russischen Präsidenten Wladimir Putin ab.

Was kann Europa leisten? Anders als nach dem Maidan hat die ukrainische Zivilgesellschaft momentan keine gemeinsame Reformagenda, da sie sich diversifiziert hat und in verschiedenen Sektoren arbeitet. Daher müssen sich die zivilgesellschaftlichen Akteure untereinander und mit internationalen Partnern in Kiew neu abstimmen und tangeable goals festlegen, um die neue ukrai­nische Regierung bei der vollständigen Implementierung des Assoziierungsabkommens konstruktiv zu unterstützen. Nur wenn die internationalen Partner gemeinsam mit der ukrainischen Zivilgesellschaft den Druck auf die ukrainische Regierung aufrechterhalten, wird man weiterhin Reformen umsetzen. Aktuelle Reformgesetze, welche in den letzten Monaten so schnell von der neuen Regierung verabschiedet wurden, dass Experten auch vom „Turboregime“ sprechen, müssen im Einklang mit den Verpflichtungen im Rahmen des Assoziierungsabkommens sein. Die internationalen Partner sollten hier klar und deutlich kommunizieren, was bereits erreicht wurde, welche Schritte noch erfolgen müssen und welche Vorteile das Land dadurch erhält. Außerdem muss die EU ihre Werte der territorialen Integrität und Freiheit souveräner Staaten weiterhin hochhalten. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim muss kontinuierlich verurteilt werden, genauso wie die russische Unterstützung der sogenannten Volksrepubliken in der Ostukraine. Solange es von russischer Seite keine konstruktiven Schritte gibt, muss die EU ihre Position durch die Verlängerung der Sanktionen glaubhaft untermauern.

Europa kann und wird seinen Beitrag leisten und die Unterstützung gewähren, jedoch müssen die Ukrainer selbst ihr Land reformieren. Dieses Fenster der Möglichkeiten bietet sich nun auch im Kampf gegen Korruption. Nur so kann die Ukraine den Zwängen der (post-)sowjetischen Vetternwirtschaft langfristig entkommen, ein Leuchtturm für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und europäische Werte werden und diese Werte auf die ganze Region, inklusive dem Nachbarn Russland, ausstrahlen.

 


 

Isabel Weininger ist Trainee im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Ukraine.

 


 

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