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Länderberichte

Polen nach der Europawahl

von Dr. Angelika Klein, Michael Quaas
Nach einem Kopf-an-Kopf Rennen in den Umfragen, verzeichnet das endgültige Wahlergebnis für die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) einen unerwartet deutlichen Vorsprung und hat die Kräfteverhältnisse in Polen bestätigt: Mit 45,6% der Stimmen setzte sie sich mit mehr als 7 Prozentpunkten gegen die proeuropäische Koalition (KE) (38,3%) durch. Damit erreichte sie das beste Ergebnis, das eine Partei nach 1989 jemals bei einer nationalen Wahl (Präsidentschaftswahlen ausgenommen) für sich behaupten konnte. Als dritte Kraft konnte mit 6% die progressiv-liberale Partei „Frühling“ (Wiosna) ins Europaparlament einziehen, die überwiegend junge, städtische Wähler für sich gewann. Die ultrarechte „Konfederacja“, die in den Exit Polls noch 6% bekam, kann jedoch mit letztendlich 4,55% nicht die 5-Prozent-Hürde überwinden. Überraschend fiel die Wahlbeteiligung aus: Die Quote von 43,8% war die höchste, die bisher bei EP-Wahlen erzielt werden konnte. Das nutzte diesmal jedoch nicht, wie sonst üblich, der Opposition, sondern gab der PiS ein solides Mandat. Diese kann somit gestärkt in den Wahlkampf für die im Herbst in Polen anstehenden Parlamentswahlen übergehen und wird mit neuem Selbstbewusstsein ihre Fraktionszugehörigkeit im EP prüfen. Mit 27 Mandaten wäre sie stärkstes Mitglied der Europäischen Konservativen und Reformer – doch müsste sie weitere Abgeordnete oder Parteien für sich gewinnen, um nicht von Europaskeptikern und Rechtspopulisten im Parlament marginalisiert zu werden.

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Die Ergebnisse im Überblick (Tabelle siehe pdf)

 

Mobilisierung – ein Erfolg für die PiS

Die für polnische Verhältnisse hohe Wahlbeteiligung war überraschend und hat sich gegenüber 2014 verdoppelt. Waren es damals noch 23,8%, so sind es jetzt 43,8% (im europäischen Vergleich liegt Polen jedoch weiterhin unter dem Durchschnitt). Vermochte bisher vor allem die PO die Wähler zu mobilisieren, gibt die Wahlbeteiligung diesmal der PiS eine solide Basis. Dies ist als Zeichen dafür zu lesen, dass den Wahlen eine hohe Bedeutung vor allem im nationalen Kontext zugesprochen wurde, galten sie doch als Testlauf für die anstehenden Parlamentswahlen im Herbst. Trotz des bereits letzten Herbst gestarteten „Wahlmarathons“ – am 21. Oktober 2018 fanden Regional- und Kommunalwahlen statt[1] (herrschte keine Wahlmüdigkeit im Land, am wenigsten im Wahlkreis der Hauptstadt Warschau mit 60%. Generell war die Beteiligung in den Großstädten höher als im ländlichen Raum, aber auch dort ist sie gegenüber 2014 gestiegen. Die großen Parteien und Bewegungen haben erfolgreich mobilisiert, am meisten jedoch die PiS, die gegenüber 2014 mehr als 3 Millionen Stimmen hinzugewinnen konnte, während die Mitglieder der KE zusammengerechnet nur 1,8 Millionen Stimmen zusätzlich bekamen, und dies, obwohl sie insgesamt 5 Parteien umfasste (PO, PSL, SLD, Grüne und Nowoczesna).

Die meisten Neuwähler kann demnach die PiS für sich verbuchen. Dabei zeigt sich das Land – wie erwartet – sichtbar gespalten, die Trennlinie verläuft von Nord nach Süd: Während der Westen und Warschau eher dem Oppositionsbündnis zuneigt, steht der Osten und generell der ländliche Raum der PiS näher. Hier ist der große Verlierer die Bauernpartei (PSL), die zahlreiche ihrer Wähler an die PiS verlor. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass neben der Gruppe der älteren Wähler (ab 50), vor allem junge Wähler (18-29 Jahre) mehrheitlich für die PiS gestimmt haben. Die KE hingegen konnte sich vor allem in der Altersgruppe von 30-50 durchsetzen sowie bei Bürgern mit akademischen Abschlüssen.

Die Mandatsverteilung im Einzelnen – Ausblick auf die Zusammensetzung im EP

Die PiS gewinnt 8 Mandate hinzu und wird stärkste polnische Kraft im EP. Damit verfügt in Polen eine (gemäßigt) euroskeptische Partei über die meisten Abgeordneten im Europaparlament. Die Zukunft ihrer Fraktionszugehörigkeit ist jedoch offen. Hierfür sind mehrere Faktoren ausschlaggebend: Bisher gehörte die PiS der EKR an, die von 77 auf schätzungsweise 59 Sitze schrumpfen wird. Nach dem schwachen Ergebnis der Tories entsendet die PiS nun mit Abstand die meisten Abgeordneten (27). Zudem gilt abzuwarten, was Viktor Orban und Fidesz entscheiden werden. Auch machten Spekulationen über einen möglichen Beitritt der PiS zur EVP die Runde. Dies wurde aber im Frühjahr vom Fraktionsvorsitzenden Manfred Weber ausgeschlossen und wäre angesichts der Mitgliedschaft der ebenfalls der EVP angehörenden, sich gegenseitig als „verfeindet“ betrachtenden PO eher unwahrscheinlich. Ein Schulterschluss mit Rechtspopulisten, wie u.a. von Matteo Salvini ersucht, scheint fraglich, da nur wenige konstruktive Schnittmengen bestehen. Als größte Hindernisse gelten die unterschiedliche Einschätzung der Rolle Russlands sowie die Haltung zur EU allgemein: polnische Wähler – auch der PiS – sind nicht anti-europäisch und wollen in der, wenngleich in Teilen als unvollkommen betrachteten, EU verbleiben.

Die KE entsendet 22 Vertreter nach Brüssel, wovon die PO am meisten verliert – gemeinsam mit der PSL erhält sie 17 Mandate für die EVP (davon 14 PO und 3 PSL), die Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (S&D) 5 von der SLD. Mit 3 Mandaten wird Wiosna den Beitritt zu den S&D vollziehen, muss aber für den Herbst ums Überleben kämpfen. Die Europawahlen haben erneut gezeigt, dass progressive oder linke Bewegungen sich in Polen nur schwer behaupten können, und es scheint fraglich, ob Wiosna weiter wachsen könnte. Die ultrarechte Konfederacja, die am Wahlabend noch über der 5-Prozent-Hürde verortet wurde, ist nach den endgültigen Auszählungen nicht in Brüssel vertreten, womit keine einzige Gruppierung rechts von der PiS ins Europaparlament einziehen wird. Diese Ergebnisse zeigen auch, dass sich neue Kräfte im Land nicht langfristig behaupten können. Die politische und gesellschaftliche Polarisierung bestätigt vielmehr den bestehenden „Lagerdualismus“ und fällt zu Ungunsten der kleineren Parteien aus.

Die Stärke der Regierung…

Aller Mobilisierung und Steigerung der Wahlbeteiligung zum Trotz – eine Entscheidung über die Ausrichtung Europas oder gar ein Referendum über Polens Mitgliedschaft in der EU, wie von der Opposition im Wahlkampf heraufbeschworen, waren diese Wahlen nicht: Der Fokus der Kampagne lag eindeutig auf nationalen Themen (vgl. KAS-Vorwahlbericht), wobei die PiS auf umfangreiche Sozialprogramme setzte (Erweiterung des Kindergeldes, Steuererleichterungen für Geringverdiener, Steuerbefreiung junger Arbeitnehmer, Ausbau des ÖPNV, eine einmalige Auszahlung einer Pauschalrente u.a.). Doch allein dies für den Wahlerfolg der PiS verantwortlich zu machen, würde zu kurz greifen: Beigetragen haben auch die propagierten Werte und eine gesellschaftliche Stimmung, welche die PiS erneut erkannt hat und derer sie sich zu bedienen weiß – und dies so geschickt, dass ihr sämtliche Krisen (u.a. die Affäre um Finanzierung der Srebra Towers, vermeintliche Verwicklung von Premierminister Morawiecki in Landspekulationen sowie ein für Aufregung sorgender Dokumentarfilm um pädophile Straftäter in der katholischen Kirche) nichts anhaben konnten. Sollten bis zum Herbst keine unerwarteten Turbulenzen auftreten, wird die PiS die Lage stabil und ihre breite Basis halten – und letztendlich als Volkspartei gelten können. Neben den bekannten Appellen an ein neues Nationalbewusstsein hat sie es erneut geschafft, die Unzufriedenen und „Verlierer der Transformation“ abzuholen. Sie ist die erste Partei, die Sparmaßnahmen durch Sozialprogramme ersetzt, mit dem Versprechen, die Früchte der Transformation nun ernten und bei den Ärmsten ankommen zu lassen. Und die Aussicht, mit dem Wohlstand im Westen aufzuholen, kommt an: Zwar boomt die Wirtschaft und Polen ist makroökonomisch stark, doch mit Blick auf die Einzelhaushalte ist die Distanz noch beachtlich. Ob die Umverteilung finanziell jedoch durchzuhalten ist, wird sich zeigen (und von Experten bezweifelt): Schon jetzt kosten die Wahlversprechen umgerechnet ca. 10 Milliarden Euro, weitere Anreize würden den Betrag noch steigern. Und die Ansprüche wachsen: Schon gibt es neue Forderungen weiterer marginalisierter Gruppen, der polnischen Wirtschaft fehlen Fachkräfte und das Lohnniveau steigt. Bei einem Abschwung droht großflächige Unzufriedenheit und die Stimmung könnte sich gegen die PiS wenden, doch bis zum Herbst könnte das Pulver noch reichen. Und die PiS gilt als tätig und zuverlässig – eine Partei, die auch handelt, die ihr Wort hält und es umsetzt. Alle Versuche der Opposition, sich auf ein Wettrennen bei Wahlgeschenken einzulassen, waren ebenso zum Scheitern verurteilt, wie das unglaubwürdig und hilflos wirkende Bestreben, sie auf das Thema „des Polexit“ zu reduzieren. Hinzu kommt, dass liberale oder progressive Werte in Polen nicht mehrheitsfähig zu sein scheinen – auch die Jugend ist überwiegend konservativ-patriotisch und steht mit der PiS für Tradition und Zusammenhalt ein.

…ist die Schwäche der Opposition

Es sind nationale Werte und soziale Versprechen, welche die PiS im Aufwind halten, aber auch, wie sich erneut gezeigt hat, die Schwäche der Opposition, auf der die Stärke der Regierung beruht: Neben einem inhaltsleeren, uninspirierten und in jeder Hinsicht wenig überzeugenden Wahlkampf der KE, der sich zudem auf deren „Bastionen“ und Städte konzentriert und weite Teile der Bevölkerung schlichtweg ignoriert hat, hatte sie kaum etwas anzubieten: Ihre Strategie erschöpfte sich darin, für Europa und gegen die PiS zu sein sowie auf einzelne Lokomotiven zu setzen (wodurch keine landesweite Kampagne zustande kam). Der Versuch, die Europawahl als indirektes Referendum und die PiS als Polexit-Partei darzustellen, hat jedoch nicht überzeugen können – die PiS hat die Zeichen der Zeit und die Europafreundlichkeit der überwältigenden Mehrheit der Polen erkannt und rechtzeitig auf gemäßigtere Töne und eine versöhnliche Rhetorik gesetzt (s.o., KAS-Vorwahlbericht), so dass dieses Narrativ bei den Wählern nicht verfangen konnte. Als größten Erfolg hatte sie lediglich das (zugegebenermaßen schwierige) Unterfangen vorzuweisen, sich überhaupt zusammengeschlossen zu haben, was letztendlich aber auch geschadet haben könnte: Denn neben der Anti-Positionierung, gepaart mit dem genannten Mangel an Inhalten und Perspektiven, ist bei den Wählern wohl auch das breite ideologische Spektrum der in der KE versammelten Parteien durchgefallen. Wie sicherlich auch die Tatsache, dass die Koalition im eher konservativen Spektrum als zu „linkslastig“ empfunden wurde, insbesondere bei den traditionellen und wertorientierten, überwiegend ländlichen Wählern der Bauernpartei PSL.

Ausblick und Auswirkungen – welche Signale sendet das Wahlergebnis für die Politik in Polen?

Eine direkte Folge der Wahlergebnisse sind mögliche Neubesetzungen in der polnischen Regierung: 4 Minister und eine Vizepremierministerin haben Mandate für das Europaparlament erhalten, was die Notwendigkeit einer Kabinettsumbildung ergibt, deren genauer Zuschnitt alsbald bekanntgegeben werden dürfte. Die PiS wird dadurch bekannte Persönlichkeiten verlieren (u.a. die Regierungssprecherin) bekommt aber auch die Gelegenheit, frische und unverbrauchte Gesichter zu präsentieren, die im Herbst Verantwortungsträger der Wahlkampagne sein könnten.

Darüber hinaus werden die jüngsten Ereignisse auf die Innenpolitik kaum Auswirkungen haben. Diese wird weiterhin vom strippenziehenden PiS-Parteivorsitzenden Jarosław Kaczyński bestimmt. Auf europäischer Ebene könnten sich für die PiS aber neue Möglichkeiten ergeben, mit einem gestärkten Mandat eigene Ideen für die Entwicklung der EU voranzubringen. Bereits vor den Wahlen reichte die polnische Regierung konkrete Reformvorschläge für die strategische Agenda der EU 2019-2024 ein,[2] wie etwa die Ablehnung obligatorischer Verteilungsmechanismen von Flüchtlingen sowie die Stärkung von Frontex, die Einführung einer „roten Karte“ als Instrument der Mitbestimmung in der EU, wodurch ggf. Vorhaben der Kommission durch eine gewisse Anzahl von Ländern gestoppt werden können, eine gemeinsame Strategie für den Ausbau des 5G-Netzes, die Besteuerung großer Digitalkonzerne auf EU-Ebene, das Bestreben nach Klimaneutralität der EU, ohne die Wettbewerbsfähigkeit zu beeinträchtigen u.v.m.

Für die KE bedeutet dies keine günstige Ausgangsposition für die Wahlen im Herbst. Für die Europawahlen hat sich der Zusammenschluss zwar insofern bewährt, als eine breite Sammlungsbewegung zustande gekommen ist und die Opposition unter Führung des PO-Vorsitzenden Grzegorsz Schetyna Geschlossenheit zeigen konnte. Das Ergebnis hat aber enttäuscht und ihn selbst unter Beschuss gebracht: eine öffentliche Debatte über seine künftige Rolle als Vorsitzender ist zwar noch nicht entbrannt, wohl aber Spekulationen hierüber sowie über das mögliche Verhalten von Ratspräsident Donald Tusk. Ob die KE für den Herbst beibehalten werden und erfolgreich sein könnte, erscheint derzeit fraglich: Die im Wahlkampf zum Europaparlament bemühte Schnittmenge der proeuropäischen Haltung reicht auf nationaler Ebene und für Parlamentswahlen nicht aus. Sorge macht auch die Zukunft der PSL, die einen Austritt aus der KE bereits angekündigt und eine konservativ-nationale Koalition, die „Koalicja Polska“ ins Leben gerufen hat. Der Verlust traditioneller Wähler könnte die Partei teuer zu stehen kommen und um das Erreichen der entscheidenden 5% bangen lassen. Letztendlich wird ausschlaggebend sein, attraktive Alternativen und Angebote zu machen, welche die Wähler überzeugen – ob als gemeinsame Liste oder als einzelne Partei. Die Signale für den Herbst sind jedenfalls deutlich: die Aufgabe wäre nun, aus den Fehlern zu lernen.

[1] Vgl. KAS-Länderbericht Kommunalwahlen in Polen – Startschuss mit Signalwirkung (https://www.kas.de/web/polen/laenderberichte/detail/-/content/kommunalwahlen-in-polen-startschuss-mit-signalwirkung).

[2] Ministry of Foreign Affairs Republic of Poland: Poland active in the discussion on the future EU Strategic Agenda 2019-2024 (https://www.gov.pl/web/diplomacy/poland-active-in-the-discussion-on-the-future-eu-strategic-agenda-2019-2024).

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Kontakt

Dr. Angelika Klein

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Leiterin der Abteilung Stabsstelle Evaluierung

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