Asset-Herausgeber

Veranstaltungsberichte

Wie schützen wir unsere Kinder?

Das saarländische Modell

Vortrag des saarländischen Ministers für Justiz, Arbeit, Gesundheit und Soziales, JOSEF HECKEN, im Rahmen der Veranstaltungsreihe "ZukunftsBlicke"

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Ganz herzlichen Dank, liebe Frau Schorpp.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

wir kennen es alle aus den Medien, aus unzähligen

Fernsehsondersendungen: Im monatlichen

oder zweimonatlichen Abstand

nehmen wir in der Öffentlichkeit wahr, dass

es in der Bundesrepublik Deutschland wieder

einmal einen Fall von Kindesvernachlässigung,

von Kindestötung, von unglaublichen

Missständen in einer Familie gegeben

hat. Ein Fall, auf den man vielleicht hätte

vorher aufmerksam werden können, ein

Fall, von dem in seiner Entwicklung vielleicht

sogar relativ viele Menschen gewusst

haben, ein Fall, der dann aber entweder in

den Mühlen der Administration hängen

geblieben ist oder für den sich niemand in

der Nachbarschaft zuständig gefühlt hat,

denn man nahm an, die Behörden würden

sich schon darum kümmern. Und was geht

mich das Kindergeschrei in einer Nachbarwohnung

an? Was interessiert mich, wenn

ich feststelle, dass ein Drogenabhängiger

oder ein drogenproblematisches Paar gemeinsam

mit einem Kind in einer Wohnung

lebt? Vielleicht mache ich mir zwar durchaus

Sorgen um das Wohl des Kindes, sage aber

dann schließlich doch: Jeder muss seine

Dinge selbst regeln! Und Behörden, Allgemeinheit,

irgendjemand wird sich schon

kümmern.

Wir kennen auch viele Fälle, in denen Jugendbehörden

rechtzeitig Hinweise auf bestimmte

Gefährdungslagen bekommen haben.

Sie haben dann jedoch nicht eingegriffen

– keineswegs aus Fahrlässigkeit, nicht,

weil sie zu faul waren oder keine Lust hatten.

Die geltende Rechtsprechung legt die

Hürden für die Jugendbehörden sehr hoch

für Interventionen, die wirklich in den Kernbereich

des Artikels 6 des Grundgesetzes eingreifen,

es dann zunächst mit ambulanter Hilfe versucht

und einen Sozialarbeiter hingeschickt.

Dieser hat sich vielleicht gekümmert,

aber 14 Tage oder drei Wochen später

stellt man fest, dass in der Zeit zwischen

Kümmern und Verbleib in seiner Familie, in

der es eigentlich wohl behütet sein sollte,

das Kind dann zu Tode gekommen ist.

Solche Fälle lösen jedes Mal die gleichen

Muster und Reflexe aus, Reflexe, die wir im

Saarland nicht länger mitmachen wollten,

wegen derer wir gehandelt haben.

Was geschieht nämlich dann? Alle sind betroffen,

alle sagen: Das darf nicht passieren!

Wir müssen eine neue Kultur des Hinschauens

konstruieren! Wir müssen aufpassen,

es muss eine Gesellschaft der Nachbarschaftskultur

entstehen! Der eine schreit:

„Das Kinder- und Jugendhilfegesetz muss

geändert werden!“ Der andere schreit: „Die

Kinderärzte müssen besser aufpassen!“

Und dann kommt nach drei oder vier Tagen

ein Erdbeben in Kasachstan oder ein Grubenunglück

irgendwo in der Welt – und das

Thema verschwindet aus der Öffentlichkeit,

bis der nächste Fall die Medien beschäftigt

und alles von vorn beginnt.

Wir haben gesagt: Wir müssen handeln,

wenn wir vernünftige Politik betreiben wollen

in diesem Bereich. Hier geht es darum,

Menschen zu schützen, die sich selbst noch

nicht artikulieren können. Diese kleinen

Kinder können noch kein Pappschild schreiben,

um eine Demonstration zu veranstalten,

sie können sich noch nicht an jemanden

wenden und sagen: Hilf mir.

Wir müssen den Schutz zuverlässiger gestalten.

Dazu müssen wir ein Modell konstruieren,

das auf zwei Säulen ruht, das

uns unabhängig macht von den Beliebigkeiten

und Zufälligkeiten des Alltages, von

Kommissar Zufall, der möglicherweise konstatiert,

dass irgendjemand etwas bemerkt

und vielleicht sogar etwas meldet, dass aber

eine geplante und gezielte Nachschau nicht

erfolgt. Diese geplante und gezielte Nachschau

ist die erste Säule.

Wir müssen aber zweitens den Familien

auch flächendeckend verlässliche und belastbare

Hilfsangebote machen. Denn, das

muss ich hier auch betonen, kaum ein Elternpaar,

das ich auch in meiner juristischen

Karriere kennen gelernt habe, hat

Kinder vernachlässigt, gequält oder gar getötet,

weil es bösartig auf die Welt gekommen

ist, oder weil es einen geheimen Plan

gab, der da lautete: Ich werde jetzt ein Kind

zur Welt bringen, um es dann am Ende in

fürchterlichster Weise zu misshandeln oder

zu töten.

Regelmäßig resultieren die Ereignisse, die

wir in der Öffentlichkeit wahrnehmen, aus

dem, was Sie eben genannt haben, Frau

Schorpp: aus Überforderung, Ohnmacht,

aus Suchtproblematik oder ähnlichem. Deshalb

muss eben Hilfe neben der Überwachung,

neben der Repression stehen. Anderenfalls

laufen wir Gefahr, einen Papiertiger

zu erzeugen, der allenfalls einige Obergerichtsvollzieher

ernährt, aber für das Kindeswohl

und dessen Beförderung überhaupt

nichts bringt.

Wir haben im Saarland gesagt: Wir versuchen

zunächst, eine bundeseinheitliche Regelung

zu schaffen, denn wir waren der Auffassung,

dass es verlässlicher ist, wenn die

Rahmenbedingungen in ganz Deutschland

einheitlich sind, was die Nachverfolgbarkeit

der Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen

angeht. Wir wollen eine solche Regelung,

auch um zu vermeiden, dass sich Leute

durch den Umzug von einem ins andere

Bundesland den Untersuchungspflichten

entziehen können.

Wir haben mehrere Versuche unternommen,

um das zu erreichen, und sind damit

bis heute kläglich gescheitert. Zwar fand am

19. Dezember der in den Medien stark beachtete

Kindergipfel im Bundeskanzleramt

statt, in dem man sich auf allgemeine Programmsätze

verständigt hat, seither ist in

konkreter Politik jedoch nichts geschehen.

Das ist aber wahrscheinlich der Weihnachtszeit

geschuldet und wir werden sicher in

den kommenden Wochen und Monaten

überall mit viel Kraft und Energie parteiübergreifend

handeln. Wenn nicht, werde

ich im Bundesrat erneut darauf dringen,

dass etwas geschieht.

Wir haben zwei Bundesratsinitiativen gestartet,

in denen wir zum einen die Einführung

der Verbindlichkeit der Kindervorsorgeuntersuchungen

und zum anderen eine

Verdichtung der Untersuchungsrhythmen

und eine Modifikation der Untersuchungsrichtlinien

gefordert haben. Denn es nutzt

überhaupt nichts, wenn es lange Lücken

zwischen einzelnen Untersuchungen gibt,

oder wenn zwar Untersuchungen stattfinden,

aber der Kinderarzt gemäß den Untersuchungsrichtlinien

eben nicht nach Anzeichen

der Vernachlässigung, des Missbrauchs,

der Misshandlung sucht, hierzu sogar

nicht einmal befugt ist.

Wir haben dann als weitere Komponente die

Abstimmung der vorhandenen Hilfsprogramme,

die es in jedem Land gibt, gefordert.

Jeder macht irgendetwas, von dem er

hofft, dass es gut sei, es wäre aber besser,

ein flächendeckendes Netz in der ganzen

Bundesrepublik Deutschland zu implementieren.

Beide Bundesratsinitiativen haben im Bundesrat

jeweils eine 16-zu-Null-Mehrheit gefunden.

Es scheint, als sei ich den Kollegen

aus den Ländern irgendwann so auf die

Nerven gegangen, dass sie gesagt haben:

Stimmen wir zu, dann ist er ruhig.

Beide Bundesratsinitiativen sind aber in den

Stellungnahmen der Bundesregierung – salopp

und unpolitisch formuliert - abgebügelt

worden. Die Bundesregierung verwarf

den Beschluss des Bundesrates aus grundsätzlichen

Erwägungen. Sie lehnt die Einführung

einer Verpflichtung zur Teilnahme

von Kindern an Vorsorgeuntersuchungen

ab, weil damit all diejenigen Eltern in der

Bundesrepublik Deutschland, die sich täglich

rührend um das Kindeswohl kümmern, unter

Generalverdacht gestellt würden. Das

heißt, bei diesen Eltern könnte dann der

Eindruck entstehen, dass Vater Staat mit

der Taschenlampe unter dem Bett nachsieht,

ob dort auch sauber gefegt ist. Und

dieser Generalverdacht, den es zweifellos zu

vermeiden gilt, war für die Bundesregierung

Anlass genug für die Ablehnung.

Daneben wurden von der Bundesregierung

verfassungsrechtliche Bedenken ins Feld

geführt, die lauteten: Man kann auf der Basis

des SGB 5, also des Rechtes der gesetzlichen

Krankenversicherung, keine verpflichtenden

Untersuchungen implementieren.

Hierzu bedürfe es landesgesetzlicher Grundlagen.

Das ist richtig.

Die Bundesregierung

hat also im Prinzip zwei Bundesratsinitiativen

ins Leere laufen lassen. Das hat mich

dazu bewogen, im vorletzten Jahr auf dem

Bundesparteitag meiner Partei gegen die

Bundesfamilienministerin, gegen die Bundesvorsitzende,

gegen die Antragskommission

in einer streitigen Diskussion einen Beschluss

herbeizuführen, der lautete: Wir

wollen die Einführung der bundesweiten

Verpflichtung zur Teilnahme an den Vorsorgeuntersuchungen.

Ich war ganz stolz, als wir diesen Beschluss

hatten. Er hat für einigen Ärger gesorgt,

wie das immer ist, wenn man gegen die Antragskommission

angeht und dann auch

noch die Mehrheit bekommt. Dieser Stolz ist

aber sehr schnell einem tiefen Gefühl der

Frustration gewichen, weil nach dem Beschluss

genauso wenig passiert ist wie nach

den Beschlüssen des Bundesrates, nämlich

nichts. Das war Realpolitik und konkrete Politik

zum Anfassen: Zwei Beschlüsse des

Bundesrates 16:0, ein Beschluss des Bundesparteitages

der CDU mit Zweidrittelmehrheit,

Ergebnis: Keine Reaktion.

Hierauf hat die Landesregierung des Saarlandes

entschieden, dass genug kostbare

Zeit vergeudet worden ist, möglicherweise

auch schon zu Lasten von Kindern. Wir beschlossen,

nicht mehr über bundesweite Lösungen

zu diskutieren, sondern im Rahmen

unserer Möglichkeiten unser eigenes Modell

zu schaffen, ein Modell, das eben nur Wirkung

im Saarland hat, ein Modell, von dem

wir aber glauben, dass es ins Große übertragen

auch Vorbildcharakter für die Bundesrepublik

Deutschland haben kann.

Wir haben daraufhin im Februar des vergangenen

Jahres, also vier Monate nach

dem Bundesparteitag und dem Beschluss,

auf den ich so stolz war, die entsprechenden

gesetzlichen Vorkehrungen bei uns im

Lande getroffen. Ich will sie im Folgenden

kurz beschreiben, weil sie Ihnen zeigen sollen,

dass es eigentlich absolut simpel ist.

Ich nehme vorweg: Jede einzelne Überwachung,

jede einzelne Nachverfolgung der

Teilnahme an einer Vorsorgeuntersuchung

kostet pro Kind und Untersuchung – einschließlich

der Kosten der Hardware, mit

Personalkosten und mit den Kosten einer

möglichen Einladung - 2,70 Euro. Ein Kind

hat im frühen Kindesalter zwei bis drei Untersuchungen

pro Jahr, danach haben wir

etwa einen Abstand von einem halben Jahr.

Wir kommen damit auf eine Kostenbelastung

pro Kind und Jahr von etwa im Mittel

5,40 Euro. Hinzu kommen die Untersuchungskosten,

die von der gesetzlichen

Krankenversicherung bezahlt werden. Diese

Kosten sind meiner Sicht nicht nur angemessen,

sondern so marginal, dass allein

ihretwegen niemand sagen kann: Wir können

diese Untersuchung nicht implementieren,

weil sie zu teuer ist, weil sie den Staat

in den finanziellen Ruin treibt, weil sie möglicherweise

eben nicht implementierbar ist.

Der Landtag hat als Kernbestandteil ein Gesetz

zum Schutz von Kindern vor Vernachlässigung

und Missbrauch beschlossen. Die

Gesetzgebungskompetenz haben wir aus

dem öffentlichen Gesundheitsdienstgesetz

hergeleitet. In diesem Gesetz haben wir eine

Verpflichtung zur Teilnahme von Kindern

an den von der gesetzlichen Krankenversicherung

angebotenen Vorsorgeuntersuchungen

eingeführt. Wir haben das aus

meiner Sicht verfassungsrechtlich tragfähig

begründet mit den ansonsten drohenden

Gefahren für das Kindeswohl, mit der Argumentation,

dass Eltern, die ja in der Regel

keine Mediziner sind, dass Eltern also,

die mit ihrem Kind nicht an den Vorsorgeuntersuchungen

teilnehmen, dieses Kind in

seiner körperlichen und seelischen Entwicklung

gefährden. Dies gilt auch jenseits der

Frage, ob das Kind geschlagen und gequält

wird oder verhungern muss. Eltern können

Entwicklungsdefizite, gesundheitliche Beeinträchtigungen,

sonstige Anomalitäten in der

Regel nicht erkennen. Wenn man über Jahre

solche angebotenen Untersuchungen

nicht wahrnimmt, kann man manifeste Störungen

des Kindeswohles und der Gesundheit

des Kindes in Kauf nehmen. Dies ist

unserer Ansicht nach eine verfassungsrechtlich

tragbare Rechtfertigung für die Einführung

dieser Verpflichtung, die auch bisher

bei den rechtlichen Überprüfungen Bestand

hatte, die in der ersten Instanz bei uns im

Lande schon stattgefunden haben.

Diese Gesetzesänderung wurde kombiniert

mit der Änderung der Meldedatenübermittlungsverordnung,

die eine Verpflichtung der

Kommunen, der Einwohnermeldeämter statuiert,

jede neue Geburt und jeden Umzug

sofort an eine eingerichtete zentrale Screeningstelle

zu melden. Seit dem 01. April

2007 sind Meldesysteme und Meldedatenübermittlungsverordnung

in Kraft, seit diesem

Tag arbeitet die Screeningstelle. Es gab

einige Anlaufschwierigkeiten, aber seither

funktioniert das System absolut problemlos.

Es gibt keinerlei technische Schwierigkeiten,

deshalb ist es so billig. In dem Augenblick,

in dem ein Datensatz für ein Neugeborenes

beim Einwohnermeldeamt erhoben worden

ist, kann er, wenn die entsprechende

Rechtsgrundlage vorliegt, automatisch an

die zentrale Screeningstelle übermittelt

werden.

Wir haben darüber hinaus automatische

Möglichkeiten der Wiedervorlage, so dass

ganz klar ist, dass ein Kind, das vor 6 Monaten

geboren ist, in einem bestimmten Zeitfenster

an einer bestimmten Vorsorgeuntersuchung

teilnehmen muss. Wir haben die

technischen Möglichkeiten, wenn keine entsprechende

Vollzugsmeldung durch einen

Kinderarzt erfolgt, bis zu einer Mahnung ein

vollautomatisiertes Verfahren durchzuführen.

Im Prinzip muss kein Mensch eingreifen,

es wird nur sicher gestellt, dass bestimmte

Dinge erfolgt sind, damit kein Kind

durch den Rost fällt. Und damit sich am Ende

niemand sagen muss: Das hätten wir

doch merken müssen - und wieso haben wir

es nicht gemerkt?

Mit diesem Verfahren haben wir sicher gestellt,

dass solche Nachlässigkeiten nicht

geschehen können.

Ich sage an der Stelle ausdrücklich: Ich

kann auch mit unserem System nicht ausschließen,

dass morgen oder vielleicht

schon heute Abend Eltern ihre Kinder töten.

Ich kann Affekthandlungen nicht ausschließen,

das kann niemand auf dieser Welt. Ich

kann aber ausschließen, dass sich über teilweise

Monate und Jahre entwickelnde Notstände

unerkannt bleiben. Ich kann ausschließen,

dass ein Kind wirklich im Nirwana

verschwindet zwischen seiner Geburt und

dem gesetzlichen Einschultermin, wo es

zum ersten Mal wieder in das Visier öffentlicher

Stellen kommt.

Und hier ist ein Argument, das ich stets

verwende, wenn ich mit geneigten Teilen

der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit

die Frage diskutiere, ob es verhältnismäßig

und angemessen ist, dass der Staat sich in

die Privatsphäre von Familien einmischt, um

nachzuschauen, ob Mütter und Väter mit

ihren Kindern sorgsam umgehen, wo das

doch erkennbar von 60, 70, 80, vielleicht 85

oder 90 % der Eltern getan wird.

Ich sage ja! Ich sage ja, weil es kein Recht

der Eltern auf Vernachlässigung der Kinder

gibt. Und weil, auch wenn es nur fünf Prozent

Fälle sind, die bei einem solchen

Screening zutage treten, die Überwachung

und die Kontrolle der sonstigen Eltern ein

Preis ist, den ich zu zahlen bereit bin. Ich

halte ihn auch für verfassungsmäßig verhältnismäßig,

um das Wohl dieser fünf,

sechs oder sieben Prozent der akut gefährdeten

Kinder möglichst weitgehend zu sichern.

Und ein weiteres Argument muss ich an dieser

Stelle aufführen: Wer regt sich in der

Bundesrepublik Deutschland darüber auf,

dass in jedem Haushalt, in dem eine öloder

gasbetriebene Heizung im Keller steht,

mindestens einmal im Jahr ein Bezirksschornsteinfeger

kommt, um sich vor Ort

über das ordnungsgemäße emissionsrechtliche

Funktionieren dieser Heizungsanlage zu

informieren?

Keiner regt sich darüber auf. Jeder bezahlt

noch 34,87 Euro nach Tarif, damit diese

Kontrolle erfolgt, obwohl die Masse der Leute

ihre Heizung zuverlässig und regelmäßig

warten. Nach geltendem Recht kann in der

Bundesrepublik Deutschland im Kartoffelkeller

neben dem Heizungskeller im schlimmsten

Falle ein Kind gefangen gehalten werden,

was zwischen seiner Geburt und der

Einschulung keiner merkt, und wofür sich

auch niemand interessiert. Dafür ist auch

niemand in irgendeiner Form haftbar zu

machen, wenn es keine Anhaltungspunkte

gibt, die Jugendhilfe oder Jugendbehörden

zur Intervention bringen. Wenn die Nachbarschaft

gar nicht weiß, dass da ein Kind

im Keller ist, wird das niemand bemerken.

In dieser Lage muss ich die Frage stellen,

ob hier noch die Verhältnismäßigkeit in der

Gewichtung der Rechtsgüter gegeben ist,

oder ob es nicht vielmehr in der Tat richtig

war zu sagen, unser Modell ist verfassungsmäßig

zumutbar. Es ist auch verfassungsmäßig

verhältnismäßig im engeren

Sinne, eine solche zwangsweise Teilnahme

an den Untersuchungen im Gesetz zu implementieren.

Mit Rücksicht auf die Masse der Eltern, die

ihren Elternpflichten ordnungsgemäß nachkommt,

haben wir eine Screeningstelle mit

der Überwachung betraut, die bewusst nicht

bei einer staatlichen Behörde - nicht beim

Ministerium, nicht bei der Staatsanwaltschaft,

nicht bei der Justiz, nicht bei den

Jugendämtern - angesiedelt ist, sondern bei

der Universitätskinderklinik.

Wir wollen Eltern nicht kriminalisieren, die

ihre Kinder, aus welchen Gründen auch immer,

nicht zur Vorsorgeuntersuchung bringen.

Es kann ja mal passieren, dass man es

vergisst. Wir verhängen deshalb auch bewusst

keine Sanktionen, wenn Untersuchungstermine

nicht wahrgenommen werden.

Bei uns gibt es keine Bußgeldbescheide.

Wir kürzen auch kein Erziehungsgeld,

weil wir keines haben. Wir kürzen auch keine

sonstigen Leistungen, sondern wir wollen

nur ein Netz knüpfen, ein Netz, in dem eben

niemand durch den Rost fällt. Wir wollen

verlässlich sicher stellen, dass wir die Kinder

sehen, aber nicht die Eltern bestrafen.

Die Screeningstelle bekommt von den Kinderärzten

in einer internetbasierten und datengeschützten

Leitung in einem sehr einfachen

Verfahren die Teilnahme der Kinder

gemeldet, das ist wirklich ganz simpel. Am

Abend eines jeden Tages können wir genau

sagen, welche Kinder an welchem Tag bei

welchem Kinderarzt zur Untersuchung waren.

Wenn dann bestimmte Fristen überschritten

sind, erfolgen zwei Erinnerungsschreiben

in sehr kurzem Abstand, denn es

kann ja viel passieren in drei oder vier Wochen.

Wenn dann binnen dieser Frist keine

Reaktion der Eltern erfolgt, werden wir aktiv:

Dann rückt das Gesundheitsamt aus.

Ich habe mit Mitteln aus dem Landeshaushalt

bei allen Gesundheitsämtern im Land

eine halbe Kinderarztstelle und eine Sozialarbeiterstelle

geschaffen. Kinderarzt und

Gesundheitsamt deshalb, weil ich eben bewusst

noch einen Schritt zwischen dem

Screening und der Jugendhilfe und den Jugendbehörden

einbauen will und weil sehr

viele problemsensible Familien in prekären

Lebenssituationen panische Angst vor Jugendämtern

haben. Wenn das Jugendamt

kommt, glaubt man sofort, jetzt werden die

Kinder weggeholt und beginnt mit einer

Abwehrreaktion.

Wir wollen aber eben nicht sanktionierend

tätig werden, sondern wir wollen als

Dienstleister auftreten. Deshalb habe ich

die Überwachung bei den Gesundheitsämtern

angesiedelt.

Dies hat zur Folge, dass, wenn nach der

zweiten Erinnerung eine entsprechende Reaktion

nicht erfolgt ist, die Familie vom Gesundheitsamt

aufgesucht wird. Das Gesundheitsamt

vergewissert sich dann über

den Gesundheitszustand des Kindes. Es leistet

auch in vielen Fällen tatsächlich praktische

Hilfe mit Dienstleistungscharakter. Wir

haben Fälle erlebt, von denen wir gar nicht

geglaubt hätten, dass sie real existieren:

Wir haben eine ganze Reihe von Kindern,

die nicht zur Untersuchung gebracht wurden,

wo die Eltern sagen: Wir hätten das ja

gern getan, wir waren früher mal Selbstständige.

Wir haben uns in guten Tagen in

der privaten Krankenversicherung versichert.

Heute sind wir bettelarm, weil wir

Pleite gegangen sind. Wir kommen nicht

mehr in die gesetzliche Krankenversicherung

zurück. Unsere private Krankenversicherung

bezahlt die Vorsorgeuntersuchung

nicht, und die 87 Euro, die ich als PKVPatient

mit 2,7fachem Gebührensatz bezahlen

muss, die haben wir nicht. In diesen Fällen

haben meine Ärzte und die Ärzte der

Gesundheitsämter die Untersuchung vorgenommen,

damit war der Fall erledigt.

Neben einer ganzen Reihe von Fällen, in denen

wir Personen ohne Krankenversicherungsschutz

hatten, gab es auch sehr viele

Menschen mit Migrationshintergrund. Sie

hatten überhaupt nicht verstanden, wie unser

System funktioniert. Auch bei ihnen

mussten wir nicht mit großem Aufwand irgendwelche

Untersuchungstermine bei Kinderärzten

vereinbaren, sondern wir haben

vor Ort die entsprechende Vorsorgeuntersuchung

gemacht. Dies hat zur Folge, dass

das, was Gesundheitsämter tun, von den

Menschen nicht nur als nicht feindlich verstanden

wird, sondern mittlerweile hohe Akzeptanz

findet. Es heißt jetzt: Da kommt

das Gesundheitsamt, das hilft uns.

Wir setzen keinen Verwaltungsakt in Gang

und schicken auch keinen Bußgeldbescheid.

Niemand kommt mit Uniform und Mütze

und schlägt zu.

Vielmehr kommen unsere Mitarbeiter, und

wenn es eine Familienproblemlage gibt,

dann versuchen sie zunächst zu helfen.

Und wenn der Mitarbeiter nicht selbst helfen

kann, organisiert er Hilfe. Deshalb ist der

Sozialarbeiter beim Gesundheitsamt angesiedelt.

Erst wenn Anhaltspunkte für eine

tatsächliche Gefährdung des Kindeswohles

bestehen, wird das Jugendamt eingeschaltet.

Dann wird es natürlich kritisch, weil es

nach dem Instrumentarium des Kinder- und

Jugendhilfegesetzes abläuft. Da wird aus

dem Dienstleister dann eine Behörde, die

wirklich primär um das Kindeswohl besorgt

ist.

Bis auf eine Musterklage, die wir aber auch

bewusst provoziert haben, weil ich gerne

wissen will, ob mein Gesetz verfassungsgemäß

ist, haben wir bis heute keine einzige

negative Reaktion auf die Erinnerungsschreiben

bekommen. Kein Vater, keine

Mutter hat geschrieben und gesagt: Ich fühle

mich in irgendeiner Form herabgewürdigt

dadurch, dass Staat mich erinnert an eine

Untersuchung, die ich mit meinem Kind

nicht wahrgenommen habe. Ich fühle mich

unter Generalverdacht gestellt.

Im Gegenteil: Alle Reaktionen, die eingegangen

sind - und Saarländer sind sehr

schreibfreudig, die schreiben ganz böse Leserbriefe

und schreiben auch ganz böse

Mails - alle Reaktionen, die eingegangen

sind, betonen: Wir empfinden das als hilfreichen

Service. Wir waren im Urlaub. Wir

haben es vergessen. Wir sind umgezogen.

Dann kam der Brief, und das war in Ordnung.

Das bedeutet, dass das, was als zentrales

Argument der Bundesregierung gegen diese

Untersuchung ins Feld geführt wurde, von

den Menschen so nicht empfunden wird.

Ein Problem, das mit der Implementierung

verbunden war, hat uns vor sehr große

Schwierigkeiten gestellt: die Mitwirkung der

Ärzte. Die Kinderärzte waren zunächst Feuer

und Flamme. Das ist ja klar, denn man

kann die Teilnahme von 80 auf 100 Prozent

steigern. 20 Prozent mehr Fälle sind gut für

den Umsatz. Aber die Mitwirkung der Ärzte

bringt natürlich nur dann etwas, wenn sie

auch verlässlich über Auffälligkeiten bei den

Untersuchungen berichten. Auch hier hat

die gesamtgesellschaftliche Vogel-Strauss-

Politik ein Stück weit Platz gegriffen und

sehr viele Pädiater haben gesagt: Wir untersuchen

gerne alle, aber wir möchten nur

im alleräußersten Notfall über Auffälligkeiten

berichten, denn das könnte ja Scherereien

geben.

Dieses Problem haben wir gelöst: Die ohnehin

bestehenden Mitteilungsverpflichtungen

im Rahmen des Anwendungsbereiches der

ärztlichen Schweigepflicht, die es bei den

Staatsanwaltschaften gibt, werden von den

Ärztekammern als Handreichungen an die

Ärzte gegeben. Wir haben sie entsprechend

präzisiert und ganz klare Fallkonstellation

definiert, in denen Ärzte gehalten sind, Meldung

zu machen, ohne sich ihrerseits wegen

Verletzung ärztlicher Schweigepflicht, falscher

Verdächtigungen oder Verleumdung in

die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung zu

begeben.

Ich betone es noch ein Mal, meine sehr verehrten

Damen und Herrn, wegen der hohen

EDV-Dichte in diesem Verfahren kostet es

insgesamt - Hardware, Software, Personal -

ausschließlich der Untersuchung, die von

der gesetzlichen Krankenversicherung ja

ohnehin bezahlt wird, pro Kind und pro Untersuchung

2,70 Euro. Es läuft reibungslos

und hat Ergebnisse zutage gefördert, die ich

für das eher ländlich geprägte Saarland so

nicht für möglich gehalten hätte.

Wir haben nämlich jetzt verlässlich die Daten

der relativ wichtigen Untersuchung U 5

seit 01. April des vergangenen Jahres vorliegen.

Sie belegen, dass die Einführung einer

Untersuchungspflicht absolut richtig

war.

Ich habe vorher über dieses Thema mit dem

Wissen diskutiert, das man als Politiker hat,

wenn man sich damit befasst. Man hat an

einem Symposium teilgenommen, hat etwas

gehört, hat Aufsätze gelesen - alles wunderbar.

Und da habe ich gelernt, bei den

ersten Untersuchungen, also etwa bis zur U

7, U 8 haben wir Teilnahmequoten von

deutlich über 90 Prozent, je nach sozialem

Umfeld: In prekären gesellschaftlichen Bereichen

haben wir ein bisschen weniger, dafür

in der „Bourgeoisie“ faktisch 100 Prozent,

so dass man im arithmetischen Mittel

auf einen Wert von 92 oder 93 Prozent

kommt.

Mit diesem Wissen sind wir fröhlich pfeifend

in die U 5 gegangen und haben gesagt: Ja,

da werden wir ja auf weit über 90 Prozent

kommen.

Wir mussten dann aber feststellen, dass ohne

Intervention am Ende nur 78,8 Prozent

der Eltern mit ihren Kindern zu dieser so

wichtigen Untersuchungen gegangen sind.

78,8 Prozent, das heißt, mehr als 21 Prozent

haben nichts gemacht. Und wir haben

dann weiter festgestellt, dass man dann mit

sehr freundlich formulierter erster und zweiter

Mahnung weitere 17 Prozent dazu bewegen

kann, irgendetwas zu unternehmen.

In gut 3,5 % der Fälle musste das Gesundheitsamt

ausrücken und vor Ort aktiv werden.

Und in knapp einem Prozent der Fälle

hat das Gesundheitsamt am Ende die Akte

an das Jugendamt abgegeben, weil die Mitarbeiter

bei der Untersuchung beim Hausbesuch

festgestellt haben, dass sich hier

irgendwas anbahnt, was möglicherweise

problematisch ist.

Das sind Zahlen, die hätte ich so nicht erwartet,

Zahlen, die sich auf die U 5 beziehen,

die für die Entwicklung des Kindes, für

seine Gesundheit von erheblicher Bedeutung

ist. Das sind Zahlen, die mir sagen, die

2,70 Euro sind gut angelegtes Geld, und die

mich darin bestätigen, dass es richtig war,

dieses Screening einzuführen. Das ist der

eine Schritt. Er reicht aber nicht aus.

Parallel dazu haben wir die ohnehin schon

vorhandenen 44 unterschiedlichen Förderprogramme

für Problemfamilien um einen

weiteren Baustein ergänzt, „Keiner fällt

durchs Netz“. Wir haben flächendeckend ein

bereits partiell vorhandenes System von

Familienhebammen eingeführt, wie es sie

vor 20 oder 25 Jahren in der gesetzlichen

Krankenversicherung in wesentlich größerem

Umgang gegeben hat, als es heute Status

quo ist. Wir finanzieren für jeweils

40.000 Einwohner, das passt dann von den

Geburtenzahlen, jeweils eine Familienhebamme,

die nichts anderes tut, als sich um

Neugeborene und deren Familie zu kümmern.

Sie sucht ausnahmslos alle Familien

mit Neugeborenen auf. In den Fällen, in

denen nach ein, zwei Besuchen in freundschaftlicher

Atmosphäre klar ist, dass das

Kind wohl behütet und umsorgt ist, ziehen

sich die Familienhebammen zurück. In den

Fällen, wo man merkt, die Familie hat Probleme,

es fehlt an Geld, es gibt Suchtproblematik,

es gibt Unterbringungsprobleme,

die Eltern sind mit der Situation überfordert,

in diesen Fällen bleibt Familienhebamme

eben länger und intensiver in der Familie.

Sie bleibt maximal ein Jahr für maximal

zwei Stunden täglich in jeder Familie.

Das ist aus meiner Sicht die notwendige Ergänzung,

die Prävention zur Repression.

Sie bietet Hilfe, um andere Hilfen zu organisieren,

zum Beispiel eine Schuldnerberatung,

eine Drogenberatung oder ähnliches.

Und selbstverständlich wird täglich nach

dem Kind gesehen, ob es seine Mahlzeiten

bekommen hat, gewickelt ist, ob es ihm gut

geht.

Das haben wir parallel zu diesem „Überwachungs“-

Instrumentarium eingeführt. Das

System ist noch nicht flächendeckend vorhanden,

es befindet sich im Aufbau und soll

bis zum 01. Mai des laufenden Jahres flächendeckend

implementiert sein. Dann werden

wir, aus meiner Sicht, mit beiden Säulen

vernünftig aufgestellt sein.

Wir sind auch noch zusätzlich relativ gut

aufgestellt: Wir haben in allen Geburtskliniken

über Modellprojekte - das ist noch nicht

endgültig entschieden - bestimmte Frühwarnsensorien

errichtet. In Forschungsprojekten

wird der Versuch unternommen, in

der Phase der Geburtsvorbereitung und des

Aufenthaltes der Frau in der Klinik durch

Soziologen und Sozialarbeiter suchen zu

lassen nach bestimmten Alarmsignalen in

der Familie. So bekommt man schon in der

Geburtsklinik gezielt Meldung vo n behandelnden

Ärzten, Krankenschwestern oder im

Klinikum tätigen Hebammen, ob in einer

Familie spezieller Hilfsbedarf besteht, damit

man eben nicht am Ende – und damit bin

ich wieder am Anfang meiner Ausführungen

– sagen muss: Hätte man das doch gewusst,

jeder hat etwas gewusst, und keiner

hat das Wissen zusammengeführt. Dann

endet es mit einer Katastrophe, an deren

Ende ein totes Kind oder, was in manchen

Fällen noch viel, viel schlimmer ist, ein lebenslang

krankes behindertes Kind steht,

nur weil eben jeder ein bisschen wusste,

und keiner das Wissen zusammengeführt

hat.

Unser System funktioniert. Es ist relativ einfach

finanzierbar, weil wir die ohnehin von

der gesetzlichen Krankenversicherung finanzierten

Hebammenleistungen kombiniert

haben mit Landesmitteln und z.B. mit Mitteln

aus Lotterieerträgen. So kann man hier

für relativ wenig Geld und ohne mit anderen

Trägern der Jugendhilfe in Konkurrenz zu

treten, ein aus meiner Sicht relativ dichtes

Netz der Unterstützung knüpfen.

Und wir haben dieses Netz geknüpft.

Es läuft! Es ist lange nichts geschehen.

Dann haben wir einen Problemfall gehabt.

Am 19. Dezember auf dem Kindergipfel

wurde beschlossen, das Modell, was ich Ihnen

jetzt vorgetragen habe, im Wesentlichen

unmittelbar und unverzüglich in ganz

Deutschland einzuführen. In der Wiesbadener

Erklärung vor etwa einer Woche klang

das alles schon wieder ein bisschen weicher.

Dafür hat man dann irgendwelche Boot-

Camps errichten wollen oder was auch immer.

Ob die dann so hilfreich sind, das sei an anderer

Stelle diskutiert. Aber ich bin ja heute

als Gesundheits- und nicht als Justizminister

hier.

Faktum ist, ich bemerke immer noch flächendeckend

eine gewisse Verhaltenheit in

der Implementierung dieses Systems. Diese

Verhaltenheit muss aber durch die politische

Diskussion beseitigt werden. Ich möchte

nicht warten, bis die Schlagzeilen der Bildzeitung

auf Seite 1 den nächsten Fall beklagen.

Aber dann wird das politische Interesse

am Thema ganz sicher wieder hoch sein.

Was auf alle Fälle aber gesellschaftspolitisch

diskutiert werden muss - und das soll der

Abschluss sein -, damit wir aus dem Klein,

Klein, der hat dann die Meldedatenübermittlungsverordnung

geändert und so weiter

und so fort, herauskommen, ist die rechtspolitische

Frage, die auch eine familien- und

jugendpolitische Frage ist: Ob wir nämlich in

der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen

Jahren das jugendrechtliche, das

vormundschaftsrechtliche Eingriffsinstrumentarium

immer in der richtigen Art und

Weise ausgelegt und benutzt haben. Das

kann aber das Saarland nicht allein, dafür

brauchen wir den Bundesgesetzgeber.

Wie ich eingangs schon erwähnte, haben wir

inzwischen eine familiengerichtliche Rechtsprechung

– und sie hat gar nichts mit den

Jugendämtern zu tun -, die sagt, die Herausnahme

eines Kindes aus einer Familie,

um es in einer Pflegefamilie unterzubringen,

ist die absolute ultima Ratio. Sie kommt eigentlich

nur in Betracht, wenn wirklich Leib

und Leben des Kindes gefährdet und mehrere

Versuche der ambulanten Hilfe gescheitert

sind.

Das ist Ausdruck der hohen Bedeutung, die

die Gerichte dem Artikel 6 und dem natürlichen

Recht der Eltern auf Pflege und Erziehung

der Kinder beigemessen haben.

Ich habe jahrelang selbst als christlich demokratischer

Politiker immer das hohe Lied

der Familie, ja fast der heiligen Familie gesungen,

und gesagt: Familie ist der beste

Ort für Kinder.

Wenn ich Realität in manchen Bereichen unserer

Gesellschaft betrachte, dann wage ich

zumindest zur Nachtzeit gelegentlich darüber

nachzudenken, ob dieser Programmsatz

immer und in jeder Situation der richtige

ist.

Wir müssen überlegen, ob wir nicht auch

fähig sind oder zumindest den Mut haben,

die Frage zu diskutieren, ob in der Rechtsprechung

der vergangenen Jahre und den

daraus folgenden Gesetzen immer die richtige

Gewichtung für die Entscheidung, Herausnahme

aus einer Familie oder Belassen

eines Kindes in der Familie, erfolgt ist.

Ich sage nein!

Wenn ich viele Fälle sehe - und ich sehe

sehr viele Fälle von Jugendämtern und Jugendbehörden

-, in denen sich Mitarbeiter

der Jugendämter über Jahre verzweifelt

bemüht haben, mit ambulanten Interventionen

entsprechende Veränderungen herbeizuführen,

immer gescheitert sind, in denen

alle Versuche, das Kind aus der Familie zu

holen, an Gerichtsentscheidungen gescheitert

sind - und am Ende war keiner Schuld.

Ein Richter, der entschieden hat, das Kind

bleibt in der Familie, ist durch die richterliche

Unabhängigkeit geschützt. Dann haben

wir eine Situation, wo dann jeder sagt: Ja

hätte man das gewusst, dann hätten wir

uns vielleicht anders entschieden.

Diese Diskussion müssen wir gesellschaftspolitisch

führen. Wenn meine Familienhebammen

zu mir kommen und sagen: Chef,

wir haben ein Problem: Das Kind hat wieder

Schläge bekommen, die Frau ist auch wieder

geprügelt worden, und der Alte säuft

und zieht irgendwelche Drogen rein, es

sieht aus wie im Schweinestall! Dann nützt

es mir überhaupt nichts, wenn wir einmal

die Woche oder zweimal oder dreimal die

Woche irgendjemanden hin schicken, der

stundenweise versucht, der Familie Struktur

zu geben.

Die Woche besteht aus 7 Tage à 24 Stunden.

Und wenn jemand, der sich selber

nicht wehren kann, 7 Tage, 24 Stunden irgendwelchen

Menschen bis auf wenige

Stunden ambulanter Intervention schutzlos

preisgegeben ist, dann ist das aus meiner

Sicht unverantwortlich. Mit Blick auf veränderte

Lebenswirklichkeiten, in denen soziale

Kontrolle an vielen Stellen nicht mehr funktioniert,

ist eine politische Entscheidung

notwendig. Auch der Bund muss sich seiner

Verantwortung stellen, weil diese Dinge

eben nur vom Bund bewegt werden können.

Alles, was auf unserer Ebene machbar war,

das habe ich gemacht im jugendlichen

Überschwang. Das haben wir gemacht, weil

wir gesagt haben: Hier können wir eben

nicht mittel- und langfristig warten, sondern

hier geht es darum, sofort Schäden von den

Kindern abzuwenden. Aber die notwendige

rechtspolitische Diskussion können wir nur

gemeinsam in der Bundesrepublik Deutschland

und mit der Bundesregierung führen.

Deshalb appelliere ich heute, jenseits der

verwaltungsmäßigen Abwicklung, jenseits

der Verfahren der Überwachung, jenseits

der Hilfsangebote und der bundesweiten

Vernetzung von Hilfsangeboten, diese Diskussion

zu führen.

Wir im Saarland sind zufrieden. Wir kontrollieren

jetzt flächendeckend alle Vorsorgeuntersuchungen.

Wir haben alle Kinder „auf

dem Radar“. Kritiker mögen sagen, das sei

ein weiterer Baustein im Überwachungsstaat.

Aber ich bin stolz auf das Erreichte,

denn wir tun etwas Vernünftiges. Dass es

vernünftig ist, lehrt mich nicht zuletzt der

Umstand, dass die mir nicht unbedingt parteipolitisch

zugetane, von Kurt Beck geführte

Landesregierung von Rheinland-Pfalz beschlossen

hat, ab dem zweiten Quartal dieses

Jahres sich unserem Verfahren anzuschließen.

Das heißt, sie übernehmen unser

Gesetz und unsere Meldedatenübermittlungsverordnung.

Die entsprechenden Lesungen

im Landtag in Mainz haben schon

stattgefunden. Das Screeningverfahren, also

dieses ganze Einbestellungswesen, wird

über die Screeningstelle unserer Universitätsklinik

laufen, das heißt, zwei Länder

werden von einer administrativen Stelle betreut

mit dem gleichen rechtlichen Hintergrund.

Ich verhandle im Augenblick mit

Baden-Württemberg, ob die auch mitmachen

wollen.

Dann würde man im Bedarfsfall

die Bundesrepublik Deutschland peu à

peu von Land zu Land aufrollen. Das ist zugegebenermaßen

aus dem Saarland etwas

schwer. Wir sind viel kleiner Berlin und sehr

weit weg. Deshalb haben wir halt sehr viel

aufzurollen. Aber wir sind unternehmenslustig

und munter!

Und in diesem Sinne hoffe ich jetzt auch auf

eine spannende Diskussion. Danke für Ihre

Aufmerksamkeit.

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