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Veranstaltungsberichte

Im Spannungsfeld von Pluralismus und Konsens

von Nils Lange, Stephan Raabe

Der Politikwissenschaftler Prof. Oberreuter über den gesellschaftlichen Grundkonsens 1949 und heute

Zur Zweiten Geschichtslecture 2019 luden Prof. Dominik Geppert vom Lehrstuhl für die Geschichte des 19./20. Jahrhunderts der Universität Potsdam und der Landesbeauftragte der Konrad-Adenauer-Stiftung für Brandenburg, Stephan Raabe, in die Räume der Universität Potsdam ein.

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Zu Gast war der renommierte Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter von der Universität Passau, der anlässlich des 70jährigen Jubiläums des Grundgesetzes zu dem Thema „Wieviel Konsens braucht unsere Demokratie? Das Grundgesetz gestern und heute“ referierte. Seinen Vortrag begann Prof. Oberreuter mit der Überlegung, der Ursprung des Grundgesetzes liege im christlichen Denken, das den Menschen ins Zentrum stellt. Diesem Gedanken entsprang letztendlich der Grundsatz, dass alle Menschen trotz ihrer Unterschiedlichkeiten, die selbe Würde haben. Das Grundgesetz sei in Deutschland vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Erfahrung mit dem Nationalsozialismus und Weltkrieg außerdem ein politisch-kultureller Bruch gewesen, fuhr Oberreuter fort. Es stehe für den Abschied vom Obrigkeits- bzw. Machtstaat. Der weitgehende Konsens bezog sich demnach zu aller erst auf das neue Staatsbild. Dies sei  von der wertgebundenen freiheitlich-demokratischen Grundordnung (FDGO) geprägt sowie von der Friedensstaatlichkeit und Internationalität, die eine Einbindung in supranationale Einheiten und Systeme kollektiver Sicherheit ermöglichte. Der Kern der Verfassung sei gleichsam ein Abschied von ideologischen Deutungsmustern und ein Bekenntnis zum Pluralismus. Die liberale Demokratie müsse daher laut Oberreuter immer als eine Mischung von Konflikt und Konsens verstanden werden: „Wer die Demokratie nicht so begreift, begreift sie nie.“ Für Oberreuter liegt der Ursprung des Pluralismus gerade im Individualismus. Er kommt daher zu der Schlussfolgerung, es gebe nichts Wertgebundeneres als das Pluralitätsprinzip.

Ein weiterer Grundpfeiler der Verfassung sei folgerichtig das Selbstentfaltungsrecht des Einzelnen, amerikanisch: „Pursuit of Happiness“. Auch dieses stehe im Gegensatz zu ideologischen oder rassistischen Deutungen der Gesellschaft. Man könne laut Oberreuter daher von einem osmotischen Verhältnis von Pluralismus und Individualismus sprechen. Das Zustandekommen eines Konsenses, wie er 1949 sowohl aus christlichen als auch humanistischen Gründen zustande kam, hält Oberreuter heute in Anschluss an den Staatsrechtler Ulrich Scheuner (1903-1981) für kaum noch möglich, da die historische Mahnung aus Diktatur und Krieg verblasst sei. Eine Schlussfolgerung aus dem Scheitern der Weimarer Reichsverfassung sei laut Oberreuter gewesen, dass der normative Konsens der Verfassung, vor allem die Grundrechte des Bürgers und die Grundstruktur des Staates, abgesichert werden müsse. Den Grund für die verhältnismäßige Stabilität der neuen Ordnung des Grundgesetzes bis in die Mitte der 1960er Jahre sieht der Politikwissenschaftler auch in dem ökonomischen Aufschwung dieser Zeit. Gegenwärtig könne man beobachten, dass der normative Wert, der den Grundkonsens der Verfassung bildet, schwindet. Oberreuter fordert daher, den ideellen Grundkonsens der FDGO stärker zu betonen. Dieser gehöre zur Identität der Bundesrepublik Deutschland.

Damit weist er Parallelen zu Dolf Sternbergers (1907-1989) Diktum eines „Verfassungspatriotismus“ auf, das aus einem Leitartikel in der FAZ anlässlich des 30jährigen Jubiläums des Grundgesetzes 1979 stammt. Sternberger gehörte zu den Gründungsvätern der Politischen Wissenschaft in der Bundesrepublik und galt von Anfang an als Verfechter eines normativen Demokratieverständnisses. Einen Verfassungspatriotismus verstand Sternberger nie als Gegenform eines nationalen Patriotismus – zu der ihn später Jürgen Habermas machte –, sondern eher als Ergänzung zu einer Vaterlandsliebe, die in einer freiheitlichen Grundordnung eingebettet sei. Wenn Heinrich Oberreuter ähnlich wie Sternberger auf den französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts  Jean de la Bruyère („Es gibt kein Vaterland in der Despotie!“) verweist, gibt er sich als Erbe Sternbergers zu erkennen. Laut Oberreuter könne es keinen Patriotismus geben, der den Grundkonsens der FDGO nicht anerkenne. Wenn man den Grundsatz der Menschenwürde einbeziehe, könne man kein „Extremist“ und kein „Autoritärer“ sein.

In seinen Anmerkungen betonte Prof. Geppert, das Spannungsfeld von Konflikt und Konsens müsse ausgehalten werden. Prof. Oberreuter wies in der anschließenden Diskussion darauf hin, dass die Interpretation der freien Grundrechte immer zeitgeschichtlichen Entwicklungen unterworfen sei, die sich zum Beispiel in Urteilen des Bundesverfassungsgerichts widerspiegeln. Dies ändere jedoch nichts daran, dass der Grundkonsens der FDGO für jeden verpflichtend sein muss, was nicht einer „political correctness“ von links oder einem Exklusivitätsanspruch gegenüber der Staatsmacht von rechter Seite zum Opfer fallen dürfe.

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Nils Lange

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