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Axel Tschentscher / Wikimedia Commons / CC BY-SA 4.0

Reportajes internacionales

Grüne Welle, Überraschungen und Schlüsselrolle für Christdemokraten

Die Schweizer Parlamentswahlen vom 20. Oktober 2019

Stärker als erwartet wurde die Schweiz bei den Parlamentswahlen am 20. Oktober von einer "grünen Welle" erfasst: Sowohl Grüne als auch Grünliberale erzielten historisch gute Resultate – auf Kosten der vier traditionellen großen Parteien der Schweiz. Für die Christdemokraten (CVP) gingen die Wahlen erstaunlich glimpflich aus. Im neuen Parlament wird der Partei noch mehr als bisher eine Schlüs-selrolle zuteilwerden.

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Die Ergebnisse – das Parlament wird grüner und weiblicher

Schweizer Parlamentswahlen stehen im europäischen Vergleich selten im Ruf, besonders spektakulär zu sein. Gewinne und Verluste halten sich normalerweise in Grenzen.¹ Dieses Mal hielten die Wahlen zum National- und Ständerat jedoch einige unerwartete Ergebnisse bereit.

Erste Überraschung: Die drei größten Parteien verlieren allesamt - und meist deutlich. Stärkste Kraft bleibt die nationalkonservative SVP mit 25,6%. Sie muss damit die erwarteten, aber doch empfindlichen Einbußen verkraften. Sie holt ihr schlechtestes Ergebnis seit 1999, das für 53 Sitze (-12) im Nationalrat reicht. Unerwartet waren hingegen die spürbaren Verluste für die Sozialdemokraten (SP), die mit 16,8% (-2%) das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte und 39 Sitze (-4) holen. Die bürgerliche FDP kommt nur noch auf 15,1% (-1,3%) und 28 Sitze (-4).

Zweite Überraschung:  Die Grünen (GPS) können mit 13,1% (+6.1%) ihre Unterstützung fast verdoppeln. Das schlägt sich in 28 Sitzen nieder. Damit verzeichnen sie einen bisher einmaligen Sprung (+17) und landen noch vor den Christdemokraten auf dem vierten Platz. Dabei gelangen ihr einige spektakuläre Erfolge, unter anderem im Kanton Genf wurde sie erstmals stärkste Kraft. Zweiter großer Gewinner der Wahl sind die Grünliberalen die sich um 3,2% auf 7,8% steigern und ihre Sitzzahl von 7 auf 16 mehr als verdoppeln können.

Dritte Überraschung: Die CVP verliert zwar zwei Sitze (von 27 auf 25) und ist landesweit nur noch fünftgrößte Partei, kann aber wider Erwarten ihre Unterstützung weitestgehend halten (von 11,6 auf 11,4%). Damit hatte im Vorfeld fast kein Beobachter gerechnet. Vielmehr hatten einige Prognosen bis kurz vor den Wahlen sogar Werte knapp unter der psychologisch wichtigen 10%-Marke angezeigt.

Vierte Überraschung: Die Wahlbeteiligung sank entgegen den Prognosen auf 45,1%, bewegt sich damit aber für die Schweiz im üblichen Rahmen.

Erwartet war das schwache Abschneiden der bürgerlichen Kleinpartei BDP, die mehr als die Hälfte ihrer Sitze (von 7 auf 3) und damit Fraktionsstärke verliert.

Für den 46köpfigen Ständerat lässt sich das Ergebnis noch nicht sicher vorhersagen, da in mehr als der Hälfte der Kantone ein oder gar beide Plätze erst in der zweiten Wahlrunde am 17. November bestimmt werden können. Doch auch hier konn-ten die Grünen den Etablierten einige Sitze abjagen. Die Christdemokraten haben hingegen sehr gute Chancen hier die größte Kraft zu bleiben und sind bereits jetzt mit 8 Sitzen vor der FDP (7) in Führung. Bei besonders erfolgreichem Verlauf könnte die CVP gegenüber den letzten Wahlen sogar einen Sitz hinzugewinnen. Die SVP und die SP können sich auf Verluste einstellen.

Bemerkenswert war die Steigerung des Frauenanteils im Nationalrat auf insgesamt 42%, selbst im traditionell von Männern dominierten Ständerat wird der Frauenanteil wohl wachsen.
 

Gewinner und Verlierer

Klare Gewinner dieser Wahl sind Grüne und Grünliberale. Dies ist wohl vor allem einer im Vergleich zu einigen anderen Parteien (v.a. SVP) verstärkten Mobilisierung ihrer potentiellen Wählerschaft zu verdanken.

Verlierer sind die drei größten Parteien SVP, SP und FDP. Zwar waren die Einbußen von SVP und – in geringerem Masse – auch der FDP erwartet worden, allerdings gingen mehr Sitze verloren als eingeplant. Ein großer Verlierer sind zweifelsohne die Sozialdemokraten, die unerwartet weder landesweites Ergebnis noch Sitzzahl halten können. Damit haben sich weder ihr Linkskurs noch ihre zunehmend EU-skeptischere Haltung bezahlt gemacht. Von einem "Linksrutsch" zu sprechen ist daher nur teilweise richtig: Zwar stehen die Schweizer Grünen (im Unterschied zu den Grünliberalen) ganz klar auf der linken Seite des Parteienspektrums, aber gleichzeitig verlieren die Sozialisten ebenfalls empfindlich. Der Wähler scheint sich also vor allem grünere, aber nicht notwendigerweise linkere Politik zu wünschen. So wurden bei den Wahlen durchaus prominente Gewerkschaftsvertreter aus der SP abgestraft. Bemerkenswert: die beiden Polparteien des politischen Systems der Schweiz SVP und SP fahren die klarsten Verluste ein.

Schwerer einzuordnen ist das Resultat für die CVP, aber nicht wenige Stimmen bezeichnen sie als „heimliche Gewinnerin“² der Wahl, hat sie doch erheblich besser abgeschnitten, als diverse Untergangsszenarien es prophezeit hatten. Von den vier traditionellen Parteien der Schweiz ist die CVP die einzige, die nicht zu den Wahlverlierern zu zählen ist.
 

Jahrzehntelange Talfahrt der Christdemokraten (fast) abgebremst

Insgesamt bietet das Wahlergebnis für die CVP Süßes wie Saures: Erstmals muss sie die Grünen sowohl nach Stimmen wie nach Sitzen im Nationalrat passieren lassen. Schnell wurde am Wahlabend deutlich, dass die Grünen das im Vorfeld mit Spannung erwartete Kopf-an-Kopf Rennen mit der CVP für sich entscheiden würden. Auf der anderen Seite gelang es ihr trotz schwieriger Begleitumstände die seit vier Jahrzehnten fast ununterbrochen währende Talfahrt bei Nationalratswahlen mehr oder minder abzubremsen – auch wenn es letztlich nicht ganz zu den zwischenzeitlich von den Hochrechnungen prognostizierten 12% reichte. Dass sie ihre Position im Ständerat als stärkste Kraft wird halten können, ist ebenfalls als Erfolg zu werten, auch wenn er weniger überraschend kommt.

In der Summe kann die CVP mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Vor allem die wahltaktische Strategie des Parteipräsidenten Gerhard Pfister, etwa im Aargau mit mehreren Listen anzutreten, hat sich offenbar ausgezahlt.

Die Ergebnisse fallen für die Partei dabei regional sehr unterschiedlich aus: Während sie in einigen Kantonen der Deutschschweiz (Uri, Aargau, Sankt Gallen) sogar spürbar zulegen und neue Sitze gewinnen kann, muss sie in fast allen französisch- oder zweisprachigen Kantonen teils herbe Verluste (Genf, Waadt) hinnehmen.

Das Wahlsystem führt dabei auch zu der paradoxen Situation, dass in Sankt Gallen und Zürich die Partei trotz Zugewinnen jeweils einen Sitz verliert.
 

Zukunft mit einigen Unbekannten

Angesichts der Ergebnisse ist es nicht übertrieben von einer historischen Wahl zu sprechen. Gleichzeitig sind nach dem Wahlsonntag viele spannende Fragen noch offen:

1. Das Umwelt- und Klimathema wird in der kommenden Legislaturperiode eine wichtige Rolle spielen. Bis auf die SVP haben alle Parteien dies auch noch einmal bekräftigt. Heftige Debatten sind aber über die richtigen Instrumente zu erwarten. Sowohl CVP als auch FDP werden darauf drängen, dass Maßnahmen zum Klimaschutz nicht nur über Verbote, sondern auch über Anreize erfolgen, und Belange von Wirtschaft und Umwelt miteinander in Einklang gebracht werden.

2. Wie werden die Grünen den Wahlerfolg kapitalisieren?

Nun werden sich die Grünen aber in der Bundespolitik beweisen müssen, wenn sie nicht mehr aus einer bequemen Außenseiterrolle agieren können, sondern ihre Vorstellungen auch in konkrete Politik umsetzen müssen. Noch am Wahlabend forderte die Vorsitzende der Grünen umgehend die Abhaltung eines nationalen Klimagipfels und eine Verschärfung des CO2-Gesetzes. Eine Versuchung für die Grünen könnte darin liegen, sich vor allem mit nicht mehrheitsfähigen Maximalforderungen zu profilieren. Wollen die Grünen ihre klimapolitischen Forderungen aber durchsetzen, werden sie auch die politische Mitte und das Stimmvolk mitnehmen müssen. Die SVP hatte schon angedroht, das aktuelle CO2-Gesetz den Schweizern zur Abstimmung vorlegen.

3. Die vielleicht spannendste Frage wird die Zukunft der „Zauberformel“ betreffen, nach der die sieben Sitze der Schweizer Regierung, des Bundesrats, aufgeteilt werden³. Schon am Wahlabend erhob die Vorsitzende der Grünen Regula Rytz – bei der nächsten Vakanz – einen Anspruch auf einen Sitz im Bundesrat, indirekte Unterstützung kam dafür auch von den Grünliberalen. Bliebe die Gesamtgröße des Bundesrats gleich, wäre das ein Sitz auf Kosten des zweiten Sitzes der FDP. Diese verwies nicht zu Unrecht darauf, dass immerhin noch die zweite Runde der Wahl zum Ständerat aussteht: Schließlich wird der Bundesrat von National- und Ständerat gemeinsam durch die Bundesversammlung gewählt. Ebenfalls nachvollziehbar ist das Argument, dass der Bundesrat längerfristige politische Entwicklungen abbilden sollte; die Grünen müssten nach dieser Logik ihr gutes Resultat erst einmal in einer weiteren Wahl bestätigen. Ohnehin wurden zwei der sieben Bundesräte erst kürzlich neu gewählt. Die Abwahl amtierender Bundesräte ist unüblich, mithin müsste die nächste Vakanz abgewartet werden. Zudem werden die Grünen auch die CVP benötigen, sollten sie die Attacke auf den zweiten Bundesratssitz der FDP versuchen. Andererseits ist aber nach dem sonntäglichen Wahlergebnis schwer vorstellbar, dass die Grünen und die Grünliberalen in den kommenden Jahren schlicht leer ausgehen. Es läge durchaus im Interesse der anderen Parteien, die Grünen nun auch in die Pflicht zu nehmen.

Eine im Nachgang der Wahl veröffentlichte Umfrage zeigte, dass 40% einen grünen Bundesratssitz befürworten, 51% diesen aber ablehnen.⁴

Ohnehin stellt sich eher die Frage nach der generellen Zukunft des Bundesrats und seiner Zusammensetzung: Nicht einmal 5 Prozentpunkte lagen SP, FDP, Grüne und CVP bei diesen Wahlen auseinander. Kundige Beobachter bringen daher auch die immer wieder (bislang erfolglos debattierte) Frage nach der Erweiterung des Bundesrats um einen oder zwei Sitze ins Spiel. Eine solche Erweiterung müsste auch vom Volk abgesegnet werden.

Dass auch bürgerliche Stimmen ein Überdenken der Zusammensetzung des Bundesrats ins Spiel bringen, zeigt, dass das Thema wohl nicht so schnell von der Agenda verschwinden wird.

4. Abzuwarten ist auch, welche Mehrheiten künftig dominieren werden. Das rechtsbürgerliche Lager aus SVP und FDP hat in dieser Wahl verloren, auch wenn die SVP-FDP-Allianz entgegen den von der SP aufgemalten Horrorszenarien praktisch eher selten Relevanz hatte: Trotz der Verluste sowohl im Nationalrat als auch im Ständerat halten Parteien der politischen Rechten und der politischen Mitte weiterhin eine Mehrheit.

Eine Schlüsselrolle wird sehr wahrscheinlich der CVP zufallen: Denn ohne sie wird es weder für eine "bürgerliche" noch für eine "Mitte-Links"-Mehrheit im Nationalrat reichen – von ihrer nach wie vor dominanten Stellung ganz zu schweigen. Damit wird die CVP die Möglichkeit erhalten, der Schweizer Politik mehr als bisher ihren Stempel aufzudrücken und Forderungen beider Pole zu moderieren. Gerade bei Umwelt- und Wirtschaftsthemen wird ohne sie kein Staat zu machen sein. Bei gesellschaftlichen Fragen dürfte hingegen immer wieder eine linksliberale Allianz zum Tragen kommen.
 

Folgen für die Beziehungen zur EU

Nachdem das Thema im Wahlkampf eher eine nachgeordnete Rolle gespielt hat, dürften die Beziehungen zur EU nun wieder verstärkt auf die Tagesordnung rücken.

Gemäßigte pro-europäische Kräfte gehen aus den Wahlen insgesamt gestärkt hervor, die einzige klare „anti-EU-Partei“, die SVP, verliert. Vielleicht setzen aber bei den Sozialdemokraten nach der unerwarteten Wahlniederlage ein Umdenken und eine Abkehr vom ablehnenden Kurs gegen das Rahmenabkommen ein. Inzwischen befürwortet ohnehin eine Mehrheit der Parteien das Rahmenabkommen nur mit Vorbehalten. Mithin ist zunächst wohl keine massive Veränderung der Position zu erwarten. Wirklich Bewegung dürfte in das Dossier vor allem nach der Abstimmung über die Initiative zur Personenfreizügigkeit kommen. Einige Beobachter erwarten aber immerhin, dass sich infolge neuer Mehrheitsverhältnisse das Parlament bei der Zahlung der so genannten „Kohäsionsmilliarde“, die ausgewählten EU-Staaten zugutekommt, bewegen könnte.
 


 

¹ Eine ausführliche Analyse des Wahl- und Parteiensystems finden Sie hier: KAS-Länderbericht: Die Schweiz vor der Wahl – Status quo oder grüne Welle:  https://www.kas.de/web/multilateraler-dialog-genf/laenderberichte/detail/-/content/die-schweiz-vor-der-wahl

² Neue Züricher Zeitung, 21. Oktober 2019: «Die CVP ist die heimliche Gewinnerin der Wahl» https://www.nzz.ch/schweiz/eidgenoessische-wahlen-2019/wahlen-2019-die-cvp-ist-die-heimliche-gewinnerin-der-wahl-ld.1516704

³ Je zwei Sitze gegen an SVP, FDP, SP; einer an die CVP.

⁴ Tagesanzeiger: Volk will keinen grünen Bundesrat, 21. Oktober 2019: https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/wahlen/volk-will-keinen-gruenen-bundesrat/story/10231483

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