Asset-Herausgeber

"Prophete rechts, Prophete links"?

von Michael Braun

Utopien in der Gegenwartsliteratur

Asset-Herausgeber

Emma Braslavsky: Leben ist keine Art, mit einem Tier umzugehen, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 462 Seiten, 24,00 Euro.

Dietmar Dath: Abschaffung der Arten, Suhrkamp Verlag, Berlin 2010 (EA: 2008), 552 Seiten, 12,00 Euro.

Thomas Glavinic: Die Arbeit der Nacht, dtv, München 2008 (EA: Carl Hanser Verlag 2008), 400 Seiten, 9,90 Euro.

Ders.: Das Leben der Wünsche, dtv, München 2011 (EA: Carl Hanser Verlag 2011), 320 Seiten, 9,90 Euro.

Michel Houellebecq: Unterwerfung, aus dem Französischen von Norma Cassau und Bernd Wilczek, DuMont Buchverlag, Köln 2015, 272 Seiten, 22,99 Euro.

Michael Kleeberg: Ein Garten im Norden, dtv, München 2001, 592 Seiten.

Thomas Lehr: Schlafende Sonne, Carl Hanser Verlag, München 2017, 640 Seiten, 28,00 Euro.

Leif Randt: Planet Magnon, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015, 304 Seiten, 19,99 Euro.

Eric-Emmanuel Schmitt: Adolf H. – Zwei Leben, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010 (EA: 2008), 512 Seiten, 9,95 Euro.

Thomas von Steinaecker: Die Verteidigung des Paradieses, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016, 416 Seiten, 24,99 Euro.

Anne Weber: Kirio, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017, 224 Seiten, 20,00 Euro.

Frank Witzel: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969, Matthes & Seitz, Berlin 2015, 817 Seiten, 29,90 Euro.

Im Sommer 1774 speiste Goethe auf einer Rheinfahrt bei Koblenz zu Abend, gemeinsam mit dem Popularphilosophen Johann Bernhard Basedow und dem evangelischen Theologen Johann Caspar Lavater. Doch den „Stürmer und Dränger“ interessierten nicht die tiefsinnigen Unterhaltungen der Tischgenossen. Er widmete sich den kulinarischen Genüssen, ein weltfrommer Realist in prophetischer Gesellschaft: „Prophete rechts, Prophete links, / Das Weltkind in der Mitten.“ Was ihn nicht daran hinderte, am Faust weiterzuarbeiten, der größten und wohl auch folgenreichsten Vision deutschen Meistertums.

Und was ist aus dieser literarischen Utopie geworden? Zum einen ein kolossales Missverständnis, so in der ehemaligen DDR. Ihr Staatsratsvorsitzender Walter Ulbricht berief sich einst auf das faustische Wort vom „freien Volk auf freiem Grund“. Dabei war ihm aber offenbar entgangen, dass Faust blind ist, als Goethe ihn das im zweiten Teil seines Menschheitsdramas sagen lässt, und dass er insofern nicht sehen kann, wie ihm die Lemuren bereits das Grab schaufeln.

Zum anderen gibt es eine Reihe prophetischer Romane, von Heinrich Manns Der Untertan, der vor 1914 den Ersten Weltkrieg satirisch vorwegnahm, bis zu Michel Houellebecqs Unterwerfung, einer verstörenden Utopie über die islamistische Beherrschung Frankreichs. Der Roman des französischen Autors erschien im Januar 2015 genau an dem Tag, an dem der Anschlag auf die Zeitschrift Charlie Hebdo verübt wurde, auf deren vorangegangenem Cover wiederum eine Karikatur des Autors zu sehen war. Ein „Antizipationsroman“, meinte Houellebecqs Kollege Emmanuel Carrère.

Trend zu neuen Utopien

In der Literatur der Gegenwart gibt es eine Tendenz zu neuen Utopien. „Wo die Dystopie zu zähneklapperndem Ernst verpflichtet ist, kann das Utopische sein schelmenhaftes Wesen treiben. Das führt zu erhellenden, aber auch nicht immer trittsicheren Experimenten“, schreibt Paul Jandl in der Neuen Zürcher Zeitung vom 24. Mai 2017. Ob es um Überbevölkerung geht, wie in Emma Braslavskys Leben ist keine Art, mit einem Tier umzugehen (2016), um ein meta-euphorisch glücksbefriedigtes Kollektiv wie in Leif Randts Planet Magnon (2015) oder um einen unbedarften Schelm, der nur Gutes will und das mit dem karnevalesken Charme eines Heiligen wider Willen auch vollbringt, wie in Anne Webers Kirio (2017): Stets ist die zukünftig mögliche Welt eine mit doppeltem Boden. Den Utopien der Gegenwart fehlen die Komfortzonen, die uns der Realismus des Bekannten in der Literatur bietet.

Denn wer sich bloß am Wahren, Echten und Wirklichen orientiert, ermisst das Kapital, nicht aber die ganze Potenz des Erzählens, das auch alternative Vergangenheiten und mögliche Zukunftswelten aufbauen kann. Deshalb operieren prophetische Autoren gern als visionäre Piraten, als Erfinder dystopischer Zukunftsmilieus.

Einer von ihnen ist Dietmar Dath. Der Filmkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat mit Abschaffung der Arten (2008) einen Roman über das große Filmthema „Last Man on Earth“ geschrieben. Was macht der Einzelne, wenn die Menschheit fremd- oder selbstverschuldet zum Verschwinden gebracht worden ist? Dath hat das Problem „entzombifiziert“. Wenig erinnert noch an Francis Lawrence’ NewYork-Endzeitdrama I Am Legend (2007) oder die fünf Terminator-Filme (1984 bis 2015). Daths Roman führt in ein völlig menschenloses Zeitalter, in dem hochintelligente, sprechende Tiere das Zepter übernommen haben. Libellen, Affen, Wölfe und Füchse leben in einem komplizierten Stadtstaatensystem, empfänglich für Schönheit und gelenkt, wie sollte es anders sein, von einem Löwen. Sie debattieren darüber, wie es zu dem Untergang der Menschheit kommen konnte. Sind die ökologischen Sünden schuld oder ist es die selbstherrliche Genforschung? Aber der biotechnisch herbeigeführte Frieden zwischen Natur und Vernunft trügt. Der Löwe fällt einem Attentat des Wolfs zum Opfer. Ein menschenähnlicher Erlöser namens „Feuer“ wächst heran und findet den letzten Menschen, vielleicht eine Hoffnung. Doch was kommt, schillert zwischen Ökoparadies und Waste Land. „Die Zweifel der Zukunft richteten sich auf Interessanteres als das nackte Überleben“, heißt es rätselhaft am Schluss.

Endzeit ohne Untergang

Wirklich? Dietmar Dath gehört zu der verschwindend kleinen Fraktion derer, die in postdarwinistischer Maske die Evolutionstheorie entzaubern und surreale Endzeitparabeln entwerfen. Thomas Glavinic lässt den Helden seines Romans Die Arbeit der Nacht (2006) durch ein menschenleeres Europa irren. In seinem Roman Das Leben der Wünsche (2009) lässt er die Zukunft zum Panikraum schrumpfen, in dem es nur ein wunschloses Unglück gibt. Es ist eine Endzeit ohne Untergang, die in diesen epischen Prophetien um sich greift.

Thomas von Steinaeckers Roman Die Verteidigung des Paradieses (2016) gewinnt dem Thema eine neue Note ab. Es ist die Sprache, die einen durch das Buch trägt: ein Mix aus Jugendjargon, digitalem Begriffszauber und dem Mash-up-Stil von Abenteuer-, Zombie- und Zukunftsromanen. Ein fünfzehnjähriger Junge, Heinz, zeichnet das Schicksal einer kleinen Gruppe auf, die nach einem apokalyptischen Ereignis eine faule Idylle in der Schweiz behaust. Eine Klimakatastrophe zwingt sie zur Flucht durch Europa, die mit aktuellen Bezügen zur Flüchtlingssituation beschrieben wird. Ziel ist ein „Großes Lager“ in Frankreich. Der Roman erzählt von dem Überleben einer exemplarischen Gemeinschaft und führt zu ebenso existenziellen wie religiösen Fragen: Was ist der Mensch, und was lässt ihn Mensch sein und bleiben in einer menschenfeindlichen Umgebung? Es ist der Bezug auf etwas Höheres, einen „Lord“, die Erinnerung an die biblischen, mythologischen und literarischen Quellen des Menschengeschlechts. Mit bizarren Einfällen, religiös-musikalischen Verweisen und großer Spannung erzählt Thomas von Steinaecker von der erschreckenden Zukunft, von Verteidigung und Vertreibung aus dem Paradies.

Prophetie aus der Gegenwart

Es gibt aber auch Romane, die ihre Prophetien in die Gegenwart und in die jüngere Zeitgeschichte ausstrahlen. Es geht dabei nicht um das Erzählexperiment „Was wäre, wenn?“, sondern um die Fragen „Was könnte sein?“ und „Was hätte gewesen sein können?“, also um Diagnose durch Prognose. Ein Bereich sind die alternativfaktischen Romane, die von einer Zeitgeschichte erzählen, wie sie hätte gewesen sein können, wenn bestimmte Prozesse anders verlaufen wären. Ein beliebtes Sujet ist ein Europa ohne Krieg im 20. Jahrhundert. Michael Kleeberg lässt in seinem Roman Ein Garten im Norden (1998) Martin Heidegger zum Tango tanzenden Salonphilosophen und Richard Wagner zum heiteren Aufklärer werden, um das faschistische Unheil zu verhindern; Eric-Emmanuel Schmitt setzt Hitler in seinem kontrafaktischen Roman Adolf H. – Zwei Leben (2008) auf Freuds Couch, lässt ihn das Kunstexamen bestehen und eine ungefährliche Karriere machen. Fake News als kühne Phantasien: Hier zeigen sich Größe, vielleicht aber auch Grenzen der dichterischen Freiheit.

2015 wurde ein merkwürdiger Roman mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet: Frank Witzels Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969. Die 98 Kapitel des Romans stecken voller barocker Fabulierlust und surrealer Erzählkraft. Erzählt wird von einer Kindheit im Schlagschatten des Terrorismus im Deutschland der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre. Witzel steckt seinen Erzähler in ein Sanatorium und macht ihn dadurch zu einem unzuverlässigen Zeugen der Zeit. Diese wird zwar üppig mit symbolischen Insignien der vom Terrorismus angegriffenen Wohlstandsgesellschaft ausgestattet, aber seitenlange Exkurse über Ideen und Ideologien, über die womöglich missbrauchte religiöse Musikalität der zeitgenössischen Jugend führen zu einer zweischneidigen Generationsvision. Die Erfindung des Teenagers, so der Autor im Deutschlandfunk, „ist im Grunde sein Zugang zur Realität, der über die Fantasie funktioniert. Und teilweise gibt es dann erstaunliche Übereinstimmungen und Überschneidungen mit der Realität, und teilweise driftet er natürlich immer wieder ins Mythische ab.“

Thomas Lehrs Roman Schlafende Sonne (2017) geht den Weg von der Struktur zu den Phänomenen. Das ist ein geschickt gesetztes Lesezeichen. Der Roman ist in Teile und diese wiederum sind in Kapitel gegliedert, die sich wie geschlossene Episoden lesen lassen. Die Struktur hilft bei der Lektüre dieses dickleibigen Buches, das Teil einer Trilogie werden soll.

„Wird fortgesetzt“: Damit endet der Roman. Denn der Leser ist gut beraten, innezuhalten und mit den Augen zu blinzeln angesichts des vielfach verschachtelten Verlaufs der Handlung, der wiedererkennbaren Figuren (Edmund Husserl und Edith Stein vor allem) und angesichts der auf ihn einstürmenden Phänomene. Es sind die großen und kleinen Geschichten des 20. Jahrhunderts, vom Ersten Weltkrieg über den Holocaust, den RAF-Terror, die Wiedervereinigung bis hin zur Erzählgegenwart, dem Jahr 2014, die aus dem Blickwinkel der erfolgreichen Künstlerin Milena Sonntag erzählt werden. Sie ist, wie bei Uwe Johnson, eine Art Gesine Cresspahl, nur dass es nicht die New York Times ist, die durch die „Jahrestage“ leitet, sondern eine Ausstellung von ihr mit dem Titel „Schlafende Sonne“, deren Exponate historische und persönliche Schlüsselbilder aufnehmen, deuten und weitererzählen. So entsteht ein im wahrsten Sinne kunstvolles, ambitioniertes Erzählgemälde deutscher Kultur, Politik und Wissenschaft (der Autor ist studierter Biochemiker); ein Roman, der „ans Universum genagelt“ ist (Paul Jandl) und uns mit der Sonne im Titel erhellt, blendet und spiegelt.

Die Vision von der „Schinkensemmel“

Die prophetischen Romane fragen nicht, was bleibt, sondern was kommen oder was gewesen sein könnte. Ihre Autoren sind Prognostiker, wagemutig nach vorn oder rückwärts gerichtet. Ihre Orientierungsmarke ist und bleibt aber die schuldhaft leidende Gegenwart, nicht anders übrigens als bei ihren unnachahmlichen Ahnherren aus der jüdischen Bibel.

Gegen Jeremiaden hilft nicht zuletzt die Ironie. Thomas Mann hat sie in seiner Novelle Beim Propheten (1904) in Szene gesetzt. Am Rande der Großstadt, wo es an Laternen fehlt, in einer Dachkammer, liest im Kerzenschein ein „Prophet“ aus dem ganzen Katalog prophetischer Schriften: „Predigten, Gleichnisse, Gesetze, Visionen, Prophezeiungen und tagesbefehlartige Aufrufe“. Daniel heißt er, sein Gesicht ist roh und bleich, seine Stimme wild und überlaut, seine Hand zittrig. Und der Erzähler, ein neugieriger Novellist, sucht während der Lesung vergebens nach einer Schonhaltung für seinen schmerzenden Rücken und verscheucht „mannhaft“, wie es heißt, die „Vision einer Schinkensemmel“.

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Michael Braun, geboren 1964 in Simmerath, Leiter des Referates Literatur der Konrad-Adenauer-Stiftung Sankt Augustin und außerplanmäßiger Professor für Neuere deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln.

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