Asset-Herausgeber

von Vincent Kokert

Über den Wert kleiner Einheiten

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„Ländlicher Raum“ – eine Begrifflichkeit, die sich in der Politik, in den Medien, im gesamten öffentlichen Diskurs als Bezeichnung für etwas durchzusetzen scheint, was man früher schlicht „Dörfer und Kleinstädte“ nannte. Dabei handelt es sich bei dem sogenannten „Ländlichen Raum“ um eine Wortschöpfung der Verwaltung, in diesem Falle des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung (BBR), einer Behörde mit rund 1.250 Mitarbeitern und einem Etat von beinahe 100 Millionen Euro. Dieses Bundesamt hat über Deutschland ein Raster gelegt mit dem Ergebnis, dass es hierzulande Ballungsräume beziehungsweise Städte gibt und eben den Rest: einen mehr oder minder dicht besiedelten „Ländlichen Raum“.

 

Allein die Wortwahl deutet darauf hin, dass den Beamtinnen und Beamten weniger dicht besiedelte Regionen nicht ganz geheuer erscheinen. Die Begrifflichkeit „Ländlicher Raum“ klingt merkwürdig distanziert und drückt dabei recht schonungslos aus, was in den Köpfen derjenigen vorgeht, die an ein Dorf denken: Überalterung, keine Arbeitsplätze, schlechte Straßen. „Ländlicher Raum“ – eine Begrifflichkeit wie ein Seufzer. Dabei wohnen in Mecklenburg-Vorpommern, wenn man sich an dieser Definition orientiert, die allermeisten Menschen im Ländlichen Raum. Lediglich die Hansestadt Rostock wird als „städtisch“ angesehen, die Landeshauptstadt Schwerin und der Kreis Nordwestmecklenburg gelten zumindest als „ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen“. Im Nachbarland Schleswig-Holstein sieht es ähnlich aus, in Brandenburg sowieso. Dreißig Prozent aller Deutschen wohnen in mehr oder weniger dünn besiedelten Gegenden. Diese Gegenden machen aber über siebzig Prozent der Fläche Deutschlands aus.

 

 

Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse

 

Wählerstimmen spiegeln diese Gewichtung aus gutem Grund nicht wider. Wer Politik für Menschen in dünn besiedelten Regionen macht, muss sich daher die Frage gefallen lassen, ob er ignoriert, dass die Mehrzahl der Menschen gar nicht in dünn besiedelten Regionen lebt. Wer Politik für Menschen auf dem Dorf macht, der macht sich verdächtig, politische Prioritäten falsch zu setzen. Ist Politik, die besonders die ländlichen Regionen in den Blick nimmt, daher rational begründbar? Für Mecklenburg-Vorpommern mag man diese Frage aufgrund der spezifischen Situation möglicherweise noch bejahen, aber taugt sie als Ansatz für Deutschland insgesamt? Das Grundgesetz gibt darauf in Artikel 72 eine eindeutige Antwort, denn dort ist die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verankert.

 

Aber auch moralisch gibt es keine Begründung dafür, jemanden als Bürger zweiter Klasse zu behandeln, weil er sich – bewusst oder unbewusst – dafür entschieden hat, nicht in der Stadt oder in Ballungszentren zu leben. Und zu guter Letzt: Wenn siebzig Prozent der Fläche Deutschlands als mehr oder minder dünn besiedelt gelten, wirkt es geradezu aberwitzig, wenn beinahe drei Viertel des Bundesgebietes zu politisch kaum relevanten Regionen erklärt werden.

 

Soweit die Theorie. Aber wie gibt man diesen Regionen heute eine sinnvolle Perspektive? Wie behandelt man diese Regionen fair, wo doch der Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit auf Metropolen wie Berlin, Hamburg, München oder den Regionen Rhein-Ruhr und Rhein-Main zu liegen scheint? Wie schafft man es, dass auch die Menschen in den weniger dicht besiedelten Regionen die Überzeugung gewinnen, politisch nicht als zweitrangig wahrgenommen zu werden? Hierzu vier Thesen:

 

Wer das Organisieren staatlichen Handelns nur als Kostenfaktor betrachtet, übersieht, dass es Demokratie nicht gratis gibt.

Insbesondere die kommunale Ebene sieht sich heute oft mit dem Vorwurf konfrontiert, dass es ihr an Effizienz mangele und es daher sachgerecht sei, sie in größeren Einheiten zu organisieren. Betrachtet man das kommunale Ehrenamt lediglich unter dem Kostengesichtspunkt, so mag das sogar zutreffend sein. Rein rechnerisch wäre es möglicherweise günstig, Deutschland zu einem Zentralstaat umzubauen sowie die Bundesländer, die Kreise und die Gemeinden aufzulösen und nachgelagerte Einheiten einer Zentralregierung einzurichten.

 

Selbst wenn man an dieser Stelle die verbindlichen Vorgaben des Grundgesetzes zur föderalen Ordnung und kommunalen Selbstverwaltung einmal beiseite ließe, weist eine solche Betrachtungsweise erhebliche Schwächen auf. Es stellt sich vor allem die Frage, ob ein solcher Schritt das demokratische Bewusstsein in der Gesellschaft stärken oder schwächen würde. Wo man einem Menschen Verantwortung überträgt, nimmt er diese in der Regel wahr, und er nimmt sie auch ernst. Das Gegenbeispiel war die DDR, in der man – suchte man einen Verantwortlichen – praktisch auf allen Ebenen stets mit dem Finger auf eine übergeordnete Behörde zeigen konnte. Und dies sogar zu Recht: Die Menschen wurden systematisch der Verantwortung entledigt.

 

Es ist daher in erheblichem Maße kurzsichtig, das demokratische Gefüge nur unter Kostengesichtspunkten zu betrachten: Wer kommunale Funktions- und Mandatsträger aus der Verantwortung entlässt, indem politische Spielräume beschnitten werden oder weil die Unmittelbarkeit der Verantwortung entfällt, der riskiert, dass das demokratische Verantwortungsbewusstsein und damit die Demokratie als solche Schaden nimmt. „Demokratiekosten“ lassen sich in öffentlichen Haushalten nicht abbilden, Fingerspitzengefühl von Politikern ist an dieser Stelle deshalb gefragt.

 

Digitale Infrastruktur ist heute so wichtig wie fließendes Wasser und befahrbare Straßen.

Viel zu lange wurde das Breitbandinternet als eine Spezialinfrastruktur für wissensbasierte Berufe betrachtet. Tatsächlich ist der Zugang zu schnellem Internet heute für fast jeden Deutschen so wichtig und selbstverständlich wie ein Wasserhahn oder eine asphaltierte Straße. Das Bedürfnis nach Kommunikation und Information, kurz: nach Nutzung des Internets, ist erfreulicherweise so verbreitet, dass politisch kein Weg daran vorbeiführt, das gesamte Bundesgebiet schnellstmöglich mit Breitbandinternet zu versorgen, auch, aber eben nicht nur, um unternehmerische Ansiedlungen überhaupt erst sinnvoll erscheinen zu lassen.

 

Erst stirbt die Schule, dann das Dorf – der Erhalt kleiner Grundschulen ist existenziell, um das Leben auf dem Dorf attraktiv zu erhalten.

Eine Familie wird sich nur dann für das Leben auf dem Dorf entscheiden, wenn eine Grundschule in erreichbarer Nähe liegt. Dies gilt auch für weiterführende Schulen: „Kurze Beine“ fordern kurze Wege. Schulschließungen führen zur Abwicklung von Dörfern durch die Hintertür. Wo eine Schule erst einmal geschlossen ist, wird im Normalfall nie wieder eine neue eröffnet. Der politische Fokus muss daher auf den Erhalt kleiner Grundschulstandorte gerichtet sein.

 

Zwar gilt auch für diese Standorte das Kostenargument. An dieser Stelle ist mehr Innovationsfreude in der Kultusbürokratie gefragt: Ist es politisch erklärter Wille, kleine Schulstandorte zu erhalten, ist die Kultusbürokratie aufgefordert, innovative Konzepte zu erarbeiten, abseits des abgegriffenen Konzepts vom jahrgangsübergreifenden Unterricht. Die Digitalisierung birgt auch in diesem Bereich noch nicht ausgeschöpfte Effizienzreserven.

 

Eine Behörde ist nicht nur eine Verwaltungseinheit, sondern auch Arbeitgeber.

Die Tatsache, dass sich beispielsweise das Kraftfahrt-Bundesamt, eine Behörde mit beinahe 700 zum Teil hoch bezahlten Mitarbeitern, in Flensburg befindet, lässt sich kaum damit begründen, dass Flensburg in Deutschland besonders zentral gelegen ist. Hier wurde bewusst und politisch gewünscht, Kaufkraft in einer strukturschwachen Region zu verankern.

 

Dieser Mut, den die Mütter und Väter der jungen Bundesrepublik Anfang der 1950er-Jahre hatten, fehlt heutzutage vielfach. Wird heute eine Behörde eingerichtet, verlagert oder neu zugeschnitten, wird der Fokus darauf gelegt, wie man dies den Beschäftigten möglichst schonend beibringt. Dies mag verständlich erscheinen, aber hier wird bewusst auf ein politisches Instrument verzichtet, mit dem sich Regionen, die weniger stark sind, aktiv stützen lassen. Zumal es heute weniger denn je gute Argumente dafür gibt, Verwaltungen zu konzentrieren: Zumindest Telefonanschlüsse gibt es selbst in den entlegensten Gegenden, das Straßen- und Schienennetz war nie besser ausgebaut.

 

Politik kann Antworten auf den Unmut in ländlichen Regionen geben. Der erste Schritt dazu ist, sich die richtigen Fragen zu stellen.

 

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Vincent Kokert, geboren 1978 in Neustrelitz, seit Oktober 2011 Fraktionsvorsitzender der CDU-Landtagsfraktion Mecklenburg-Vorpommern, seit April 2017 Landesvorsitzender der CDU Mecklenburg-Vorpommern.

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