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von Arnd Küppers

Das Gerede von einer illiberalen Demokratie

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Nach seiner Wiederwahl zum Ministerpräsidenten erklärte Viktor Orbán im Mai 2018 vor dem ungarischen Parlament, er wolle „die schiffbrüchige alte liberale Demokratie durch eine christliche Demokratie des 21. Jahrhunderts“ ersetzen. Das war nicht einfach so dahingesagt, sondern eine programmatische Aussage, auf die er seitdem immer wieder zurückkommt – so etwa Ende Juli letzten Jahres bei seiner Rede auf der 29. Bálványos-Sommeruniversität im rumänischen Siebenbürgen.

„Die christliche Demokratie“, so Orbán, „ist per definitionem nicht liberal: Sie ist, wenn man so will, illiberal.“ Diese gewagte These konkretisiert Orbán anhand dreier Themen, die ihm besonders am Herzen liegen: Die liberale Demokratie, sagt er erstens, setze sich für den Multikulturalismus ein, während die Christdemokratie die christliche Kultur bewahren wolle, und das sei ein illiberales Ziel. Zweitens: Die liberale Demokratie sei für Einwanderung, die Christdemokratie sei gegen Einwanderung – und das sei ein „wahrhaft illiberales Konzept“. Und drittens stehe die liberale Demokratie für eine Aufweichung des Familienbegriffs, während die Christdemokratie das traditionelle christliche Familienmodell bewahren wolle; auch das sei illiberal.

Wenn es nur um Orbán ginge, könnte man es dabei bewenden lassen, dass dieser mit seinen Thesen eine Art Kulturkampf heraufbeschwören möchte, um seine zunehmend autoritären Ambitionen zu kaschieren. Sein politisches Narrativ von der „illiberalen Christdemokratie“ steht aber in einem weiteren Kontext. Auch andere politische Machthaber versuchen, durch Berufung auf Nation, Tradition und Christentum ihre autoritären Herrschaftstendenzen zu rechtfertigen. Besonders erfolgreich in dieser Disziplin ist der russische Präsident Wladimir Putin. Bei seiner Amtseinführung als wiedergewählter Präsident im Mai 2018 hat er drei Männern exklusiv die Hand geschüttelt: Ministerpräsident Dmitri Medwedjew, Kyrill I., dem Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche, und Altkanzler Gerhard Schröder. Davon verlieh der eine dem Autokraten den kirchlichen Segen, der andere zum wiederholten Male den Anschein eines lupenreinen Demokraten.

„Is the Pope too liberal?“

Derlei Selbstinszenierungen fallen auch bei Menschen auf fruchtbaren Boden, die dafür nicht mit hochdotierten Aufsichtsratsposten in russischen Staatsunternehmen entlohnt werden. Ebenso wenig handelt es sich nur um Pegida-Demonstranten. Auch manche konservative Christen stilisieren Putin und Orbán zu Rettern des Abendlandes, während sie bisweilen Papst Franziskus im gleichen Atemzug linksliberale Beliebigkeit vorwerfen. So etwas mag in Deutschland – zumindest derzeit noch – als völlig abseitige Meinung wahrgenommen werden, für die es allenfalls in Schmuddelecken des Internets einen Platz gibt. In anderen Ländern hingegen bekennen sich mittlerweile selbst christliche Intellektuelle zu dezidiert antiliberalen Positionen. So befürwortet der zum Katholizismus konvertierte amerikanische Harvard-Professor Adrian Vermeule ausdrücklich Orbáns Idee von einer illiberalen Christdemokratie. Und damit steht er in der amerikanischen Debatte keineswegs allein.

Bereits im Sommer 2003 stellte der National Catholic Reporter die Frage: „Is the pope too liberal?“ Gemeint war dabei wohlgemerkt Papst Johannes Paul II., denn auch er war nicht wenigen erzkonservativen Katholiken und evangelikalen Protestanten zu liberal. Zu diesem illustren Kreis dezidiert antiliberaler Christen gehören neben Vermeule etwa der weltbekannte schottisch-amerikanische Philosoph Alasdair MacIntyre, die australische Theologin Tracey Rowland oder der amerikanische Politikwissenschaftler Robert P. Kraynak. Letzterer veröffentlichte 2001 ein Buch mit dem Titel Christian Faith and Modern Democracy, in dem er die These entfaltete, dass das Christentum letztlich unvereinbar mit dem liberalen Verständnis von Demokratie und Menschenrechten sei.

Diese Sicht der Dinge hat seitdem eine beträchtliche Zahl von Anhängern hinzugewonnen, und nicht nur Orbáns Programm der illiberalen Christdemokratie zeigt, dass sie zwischenzeitlich aus der Sphäre intellektueller Gedankenspiele in die Arena der politischen Auseinandersetzung gewandert ist. Gründe genug also, um noch einmal die Frage nach dem Verhältnis von Christentum und liberaler Demokratie zu stellen und sich zu vergewissern, welche Rolle die Christdemokratie in diesem Zusammenhang gespielt hat und in gewisser Weise immer noch spielt.

Christentum und liberale Moderne

Ganz am Anfang der Christdemokratie stand der im 19. Jahrhundert aufkeimende Politische Katholizismus. Dieser war eine Folgeerscheinung des Kirchenkampfs während der Französischen Revolution und einer Reihe ähnlicher Konflikte im 19. Jahrhundert. Und meist stand dabei eben der Katholizismus im Fokus, denn während sich der Mainstream im Protestantismus mit der bürgerlichen Moderne zumindest arrangierte, verfolgte die katholische Kirche seinerzeit den Kurs eines intransigenten Antimodernismus.

Bei einer ausschließlichen Betrachtung dieses historischen Abschnitts könnte man prima facie also tatsächlich den Eindruck gewinnen, am Beginn der Christdemokratie habe der Kampf gegen die liberale Moderne gestanden. Auf den zweiten Blick stellt sich die Angelegenheit jedoch differenzierter dar. Denn die angesprochenen Konflikte in Europa waren in erster Linie machtpolitischer und nicht kultureller Natur. Das ist daran zu erkennen, dass dort, wo die Umstände andere waren als in Europa, die Geschichte auch anders verlaufen ist, etwa in den USA. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts hielt der Liberale Alexis de Tocqueville (1805–1859) in seinen berühmten Beobachtungen Über die Demokratie in Amerika fest: „Bei uns [in Frankreich] sah ich den Geist des Glaubens und den Geist der Freiheit fast immer entgegengerichtet. Hier [in den USA] fand ich sie innig miteinander verbunden: sie herrschten zusammen auf dem gleichen Boden.“1

Fragt man nach dem Verhältnis von Christentum und liberaler Moderne, muss man immer unterscheiden zwischen der politischen Ereignisgeschichte, in der sich Machtkonflikte abbilden, und der Geschichte kultureller Genealogie. Zu letzterer hat Jürgen Habermas, ein gänzlich unverdächtiger Zeuge, einmal festgestellt: „Das Christentum ist für das normative Selbstverständnis der Moderne nicht nur eine Vorläufergestalt oder ein Katalysator gewesen. Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebensführung und Emanzipation, von individueller Gewissensmoral, Menschenrechten und Demokratie entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik. In der Substanz unverändert, ist dieses Erbe immer wieder kritisch angeeignet und neu interpretiert worden. Dazu gibt es bis heute keine Alternative. Auch angesichts der aktuellen Herausforderungen einer postnationalen Konstellation zehren wir nach wie vor von dieser Substanz. Alles andere ist postmodernes Gerede.“2

Bewegung des christlichen Personalismus

Auch wenn man nicht so weit in die Kultur- und die Ereignisgeschichte zurückgeht, sondern nur die moderne, sich nach dem Zweiten Weltkrieg formierende politische Bewegung der Christdemokratie in den Blick nimmt, erweist sich das Postulat einer „illiberalen Christdemokratie“ als Widerspruch in sich.

Der wohl wichtigste geistige Vater der modernen Christdemokratie war der französische Philosoph Jacques Maritain (1882–1973). Maritain war anfangs, wie viele konservative französische Katholiken seiner Generation, antirepublikanisch und antiliberal eingestellt. Seinem ersten politischen Buch gab er im Jahr 1922 den programmatischen Titel Antimoderne. Er stand der von Charles Maurras gegründeten extrem rechten Action française nahe und war tief enttäuscht, als diese 1926 von Papst Pius XI. als mit dem Katholizismus unvereinbar verurteilt wurde.

Zum radikalen Umdenken brachte Maritain die Konfrontation mit Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus. Angesichts der Erfahrung, wie die totalitären Regime die Freiheit und Würde der Menschen mit Füßen traten, schloss er sich der Bewegung des christlichen Personalismus an. Dabei handelte es sich um keine einheitliche philosophische Denkschule, sondern um eine lose Gruppe von Philosophen und politischen Aktivisten, deren Gemeinsamkeit darin lag, dass sie in Auseinandersetzung mit den totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts entschieden für die unveräußerlichen Rechte der menschlichen Person einstanden. Mit seinem 1936 erschienenen Buch Humanisme Intégral wurde Maritain zum wichtigsten Kopf dieser Bewegung. Hier reformulierte er die Freiheitsphilosophie und den Humanismus der Moderne unter christlichen Vorzeichen.

Philosophische Puristen mögen einwenden, dass Maritain dabei hinter der reinen Autonomielehre der Aufklärungsphilosophie zurückblieb, indem er den von ihm vertretenen „theozentrischen oder wahrhaft christlichen Humanismus“ scharf von einem bloß „anthropozentrischen Humanismus“ abgrenzte. Was in theoretischer Perspektive eine Inkonsistenz sein mag, zeigte jedoch in praktischer Hinsicht geradezu fulminante Wirkung, weil Maritain auf diese Weise auch für konservative Christen, namentlich für die immer noch mit einem Fuß im Antimodernismus feststeckenden Katholiken, eine gangbare Brücke in die freiheitliche Moderne baute. Er wurde damit zu einem der wichtigsten Wegbereiter des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965). Ähnliches lässt sich über Maritains Buch Christianisme et Démocratie, erschienen 1943, sagen. Wie sein Landsmann Tocqueville hundert Jahre vor ihm nahm er Bezug auf die amerikanische Demokratie, die nach seiner Überzeugung trotz des großen Einflusses ökonomischer Interessen nie ihren christlichen Ursprung vergessen hatte. Diese amerikanische Demokratie grenzte er von den kontinentaleuropäischen Demokratien ab, die er von dem Geist eines aggressiven Rationalismus und Säkularismus geprägt sah, weswegen sie auch reihenweise den totalitären Ideologien erlegen seien. Auch das mag, zumal aus heutiger Sicht, keine wirklich überzeugende ideengeschichtliche Analyse sein. Abermals gilt hier jedoch, dass die Mängel in der Theorie durch die positiven Wirkungen in der Praxis mehr als aufgewogen wurden.

Programmatische Grundlage für die Christdemokratie

Das wird bereits deutlich, wenn man sich Maritains biographischen Hintergrund vor Augen führt: die Prägung durch die Erfahrung des extrem feindseligen Laizismus in Frankreich und der korrespondierenden antirepublikanischen und autoritären Tendenzen im französischen Katholizismus. Diesen Gordischen Knoten hat Maritain zerschlagen, indem er die Demokratie vom Evangelium und von Prinzipien der christlichen Ethik her rechtfertigte und begründete. Damit hat er zugleich die programmatische Grundlage für eine der erfolgreichsten politischen Bewegungen der Nachkriegsära in Europa gelegt: die Christdemokratie. Zu deren Markenzeichen wurde dabei gerade die feste Verankerung in der westlich-liberalen Wertegemeinschaft, ausgedrückt in dem unverrückbaren Bekenntnis zur transatlantischen Allianz und zum europäischen Friedensund Gemeinschaftsprojekt.

Freilich könnte dennoch der ein oder andere auf die Idee kommen, Maritains Denken für das Modell einer illiberalen Christdemokratie in Anspruch zu nehmen. Schließlich hat Maritain – wie dargelegt – sein christlich reformuliertes Demokratiekonzept von einem liberalen abgesetzt. Zu diesem Argument wird aber nur der greifen, der die Dinge gänzlich unhistorisch betrachtet. Noch einmal: Maritains Überlegungen sind vor dem Hintergrund der Geschichte des Konfliktes zwischen Kirche und Staat in der europäischen Moderne zu sehen. Mit Blick darauf kritisierte er eine bestimmte Spielart des modernen Liberalismus, wie sie etwa in Frankreich von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) oder den Physiokraten vertreten wurde. Indem er aber seine eigenen Ideen in Anlehnung an die amerikanische Demokratie entwickelte, rezipierte er den angelsächsischen Liberalismus in der Tradition John Lockes (1632–1704) positiv. Diesen Unterschied haben auch andere gemacht, etwa Friedrich August von Hayek (1899–1992), einer der großen Liberalen des 20. Jahrhunderts.

Christliches Bekenntnis zur Demokratie

Darüber hinaus steht Maritain mit seinem Denken ganz am Anfang der Christdemokratie. Diese hat sich seitdem weiterentwickelt, und zwar in dem Modus, den Habermas für die ganze christlich imprägnierte Kultur der Moderne beschreibt: kritische Aneignung und Neuinterpretation des Erbes. In der Tat gibt es dazu keine Alternative. Das Konzept einer „illiberalen Christdemokratie“ fällt demgegenüber zweifellos unter die Kategorie des postmodernen Geredes. Es ist schon aus historischer Perspektive unhaltbar; aus heutiger Sicht steht es im diametralen Gegensatz zu dem, was sowohl evangelische als auch katholische Theologie und Kirche zu dem Themenkomplex Demokratie und Freiheitsrechte sagen.

Gleichwohl ist unübersehbar, dass Populismus, autoritäres und illiberales Denken derzeit Auftrieb haben. Als Folge erleben wir weltweit eine „Rezession der Demokratie“ (Larry Diamond), und auch die politischen Auseinandersetzungen in Europa und Deutschland sind zunehmend von diesem Wandel geprägt. Dieser Antiliberalismus wird manchmal christlich verbrämt, wie Orbán es tut. Ein anderes Mal tritt er im dezidiert antichristlichen Gewand auf, wie etwa bei Alain de Benoist, dem Vordenker der Nouvelle Droite. So oder so: Christinnen und Christen können in dieser Auseinandersetzung nicht abseits stehen. Es ist deshalb gut, dass die beiden Kirchen in Deutschland Anfang April dieses Jahres ein Gemeinsames Wort mit dem Titel „Vertrauen in die Demokratie stärken“ veröffentlicht haben.3 Es geht ihnen darum, so heißt es im letzten Abschnitt des Papiers, aus christlichem Antrieb die Demokratie als Ordnung der Freiheit zu erhalten.


1 Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika, München 1984, 2. Aufl., S. 341.
2 Jürgen Habermas: „Ein Gespräch über Gott und die Welt“, in: ders.: Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX, Frankfurt a. M. 2001, S. 173–196, hier S. 174 f.
3 Vertrauen in die Demokratie stärken. Ein Gemeinsames Wort der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz und dem Kirchenamt der EKD, Bonn/Hannover 2019, 51 Seiten (Gemeinsame Texte; 26).


Arnd Küppers, geboren 1973 in Rheydt (Mönchengladbach), Theologe und Sozialethiker, Stellvertretender Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle, Mönchengladbach.

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