Asset-Herausgeber

Das Ticken der "Doomsday Clock"

von Michael Rühle

Nukleare Prophezeiungen und Prognosen gestern und heute

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Seit Anbruch des nuklearen Zeitalters stellt sich die Frage, wie mit der Existenz von Atomwaffen umzugehen ist. Durch die nuklearen Drohgebärden Nordkoreas ist diese Problematik jüngst wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangt.

Die enorme Zerstörungskraft macht Kernwaffen zu einer singulären politischen, militärischen und moralischen Herausforderung. Die orthodoxe Sicherheitspolitik nutzt das zerstörerische Potenzial der Kernwaffen zur Kriegsverhinderung. Abschreckung lautet der zentrale Gedanke, dem gemäß die latente Furcht vor dem nuklearen Feuer die internationale Politik zähme. Für die Kritiker ist dieses Argument ohne Belang. Für sie ist der Einsatz von Nuklearwaffen – bewusst initiiert oder versehentlich ausgelöst – nur eine Frage der Zeit, selbst wenn seit über siebzig Jahren keine Nuklearwaffen militärisch eingesetzt worden sind. Sie halten die Abschaffung aller Nuklearwaffen für den einzigen Ausweg, um der nuklearen Katastrophe zu entgehen.

Wahrscheinlichkeit des Weltuntergangs

Immer wieder haben diese Kritiker versucht, ihren Warnungen durch entsprechende Symbolik Nachdruck zu verleihen. 1947 erschien erstmals die „Doomsday Clock“ auf dem Titel des amerikanischen Magazins Bulletin of the Atomic Scientists, deren Zeiger auf sieben Minuten vor Mitternacht standen. Seit jener Zeit haben sie sich jedes Jahr um einige Minuten vor oder zurück bewegt – doch immer blieben sie nahe genug an der Zahl Zwölf, um vor der drohende Apokalypse zu warnen. Dass ausgerechnet der wissenschaftliche Beirat einer Zeitschrift zu wissen vorgibt, wie es um den Zustand der Welt bestellt ist, hat immer wieder Widerspruch hervorgerufen. Vor allem aber hat das durch die Uhr suggerierte Bild einer Menschheit, die sich ständig am Rand der Katastrophe befindet, die Frage aufgeworfen, ob es sich hier nicht eher um ein kontraproduktives – weil entmutigendes – Symbol handelt, das letztlich nur Resignation erzeugt.

Trotz allem wurde die „Doomsday Clock“ zu einer Ikone des Nuklearzeitalters. Sie reflektierte die diffuse Angst vor dem nuklearen Inferno, ohne jedoch präzise Prognosen über den Zeitpunkt des Eintritts der Katastrophe abzugeben. Alle Versuche, konkreter zu werden, sind – eigentlich nicht überraschend – gescheitert. Dies gilt beispielsweise für die Wissenschaftler, die in den 1950erund 1960erJahren glaubten, die Wahrscheinlichkeit des nuklearen Weltuntergangs mathematisch voraussagen zu können. Es gilt ebenso für die sogenannten Friedensforscher, die in den 1980er-Jahren mit der Aussage Panik auslösten, die Stationierung bestimmter Waffensysteme durch die NATO werde unweigerlich einen Nuklearkrieg provozieren, weil man die Sowjetunion zum nuklearen Präventivschlag zwinge. Sie alle scheiterten glücklicherweise an der Tatsache, dass die Kernwaffenstaaten sich als weitaus vorsichtiger im Umgang miteinander erwiesen, als es die Kritiker befürchtet hatten.

Nukleare „Game Changer“

Doch Zweifel an der Qualität mancher nuklearer Prophezeiungen ändern nichts an der Notwendigkeit des Versuchs, globale nukleare Entwicklungen wenigstens in ihren Grundzügen vorauszusehen, um die eigene Politik entsprechend justieren zu können. Dies ist weitaus weniger spekulativ, als es den Anschein haben mag. Betrachtet man die Entwicklung des nuklearen Dossiers der letzten beiden Jahrzehnte, so lassen sich mehrere Faktoren ausmachen, die die kommenden Jahre entscheidend prägen werden. Diese Entwicklungen werden zwar nicht zur Abschaffung von Nuklearwaffen führen, sie werden jedoch die Aufrechterhaltung des Prinzips der nuklearen Abschreckung als Grundlage westlicher Sicherheitspolitik wesentlich erschweren.

Spätestens seit der im Sommer 2017 ausgesprochenen Drohung Nordkoreas, eine Nuklearwaffe über dem Pazifik zur Explosion zu bringen, ist der Einsatz einer Nuklearwaffe jenseits eines unterirdischen Tests wahrscheinlicher geworden. Die Detonation einer einzigen Atombombe – selbst wenn sie, wie in der Drohung Nordkoreas angedeutet, nur als politisches Signal gedacht wäre und keine großen menschlichen Opfer verursachen würde – wäre ein „game changer“ von enormer Bedeutung. Nuklearkritiker würden einen solchen Vorfall als endgültigen Beweis dafür sehen, dass Atomwaffen als Mittel zur Friedenssicherung untauglich sind; für andere wäre nukleare Abschreckung jetzt erst recht unverzichtbar. Die Folge wäre eine internationale Debatte, in der viele sicherheitspolitische Grundsätze zur Disposition gestellt werden könnten.

Gefahr des Nuklearterrorismus

Ein schwerer Unfall in der nuklearen militärischen Infrastruktur eines Staates, gleichgültig, ob durch Sabotage oder unzureichend geschultes Personal, wäre ein weiterer „game changer“ mit unübersehbaren politischen Folgen. Überwog bislang die Auffassung, dass der sicherheitspolitische Nutzen nuklearer Abschreckung ihre Risiken aufwiege, könnte ein Unfall große Teile der Öffentlichkeit zu der Überzeugung führen, dass der Besitz von Nuklearwaffen in erster Linie ein Sicherheitsrisiko darstelle. Dasselbe Ergebnis wäre bei einem massiven Cyberangriff gegen die nukleare Infrastruktur eines Staates zu erwarten. Die Erkenntnis, dass ein Nuklearwaffenstaat nicht immer die volle Kontrolle über sein Atomarsenal besitzen könnte, würde das öffentliche Vertrauen in die etablierte Sicherheitspolitik massiv beschädigen.

Der Nuklearterrorismus ist ein weiterer Faktor, der die Rolle von Kernwaffen in der internationalen Politik nachhaltig verändern könnte. Zwar erfordert der Bau einer Atomwaffe nach wie vor eine aufwendige (staatliche) Infrastruktur; sollte es Terroristen dennoch gelingen, glaubwürdig mit dem Einsatz einer nuklearen Waffe zu drohen, oder sollte in einem Nuklearwaffenstaat ein fundamentalistisches Regime an die Macht kommen, so würde eine völlig neue Bedrohungslage entstehen. Die nukleare Abschreckung bliebe zwar ein wichtiges Instrument für die Zähmung der zwischenstaatlichen Beziehungen, doch mit der religiösen oder ideologischen Rechtfertigung für Massenmord und Märtyrertum würden die Regeln des nuklearen Abschreckungssystems teilweise aufgehoben.

Ein nuklearer Domino-Effekt in einer geopolitischen Schlüsselregion wäre ein weiterer Faktor, der die Bedeutung nuklearer Abschreckung verändern könnte. Zwar ist die Zahl der Länder, die sich für eine nukleare Bewaffnung entschieden haben, bislang gering geblieben; das Auftauchen eines neuen nuklearen Hegemons in einer spannungsgeladenen Region wie dem Nahen Osten könnte jedoch Nachbarstaaten zur Reaktion zwingen. Würden sie von der „Plutonium-Option“ Gebrauch machen, also ihre zivilen Leichtwasserreaktoren zweckentfremden, um waffenfähiges Plutonium herzustellen, könnte die daraus resultierende „Proliferationskaskade“ die Nichtverbreitungsbemühungen der vergangenen fünfzig Jahre weitgehend zunichtemachen.

„Erweiterte Abschreckung“ und Kernwaffenverbot

Die Ausdehnung der nuklearen Schutzverpflichtungen der Vereinigten Staaten auf ihre nicht-nuklear gerüsteten Verbündeten gehört zu den wichtigsten ordnungspolitischen Konstanten des nuklearen Zeitalters. Über dreißig Staaten in Europa und Asien vertrauen auf den „nuklearen Schirm“ der USA, der ihre Sicherheit garantiert und zugleich eine nationale nukleare Option entbehrlich macht. Sollten die USA jedoch diese Politik aus ideologischen oder finanziellen Gründen aufgeben, so würden einige Verbündete zu dem Schluss gelangen, dass man selbst für seine nukleare Sicherheit sorgen müsse. Dies wäre nicht nur ein schwerer Schlag für das globale Nichtverbreitungsregime, sondern auch für die Glaubwürdigkeit der gesamten globalen Ordnungspolitik der USA.

Auch eine dramatische Veränderung des rechtlichen Rahmens für die globale nukleare Ordnung könnte eine auf nukleare Abschreckung aufbauende Sicherheitspolitik untergraben. Der gegenwärtig in den Vereinten Nationen erarbeitete Nuklearwaffen-Verbotsvertrag, der Atomwaffen als „illegal“ stigmatisieren soll, wird zwar nicht zur globalen Abrüstung führen, aber die Kluft zwischen Nuklearwaffen- und vielen Nicht-Nuklearwaffenstaaten vertiefen. Damit wird zugleich der Atomwaffensperrvertrag, der einzige nahezu universelle Rahmen für die Regulierung des nuklearen Besitzes beziehungsweise Nichtbesitzes, einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt. Am Ende könnte eine neue Ära ohne jede Art von vereinbarter nuklearer „governance“ stehen, die weitaus weniger berechenbar wäre als das gegenwärtige Regelwerk.

Ein neues Nuklearzeitalter?

Alle alarmistischen Prophezeiungen über die unmittelbar bevorstehende nukleare Apokalypse haben sich bislang als falsch entpuppt. Seit 1945 wurde keine Nuklearwaffe mehr militärisch eingesetzt. Die Nuklear-Pessimisten übertrieben die kriegsauslösenden technologischen Zwänge und unterschätzten den politischen Willen der Kernwaffenstaaten zur Kriegsverhinderung. Dennoch wird die grundsätzliche Kritik an der nuklearen Abschreckung als eine Art permanentes Misstrauensvotum gegenüber der etablierten Sicherheitspolitik weitergehen. Verantwortungsbewusste Sicherheitspolitik heißt deshalb, die Bedeutung nuklearer Abschreckung überzeugend zu erklären, ohne dabei ihre Risiken zu bagatellisieren. Angesichts der hier beschriebenen Entwicklungen, die in ihrer Gesamtheit nichts weniger als ein neues Nuklearzeitalter begründen könnten, wird dies der politischen Führung des Westens in den kommenden Jahren viel abverlangen. Die „Doomsday Clock“ tickt wie schon seit Beginn des nuklearen Zeitalters. Eine Zwangsläufigkeit, dass die Zeiger die Zwölf erreichen, gibt es auch bei einer veränderten Weltlage nicht.

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Michael Rühle, geboren 1959 in Stuttgart, leitet das Referat Energiesicherheit in der NATO-Abteilung für neue Sicherheitsherausforderungen. Er gibt hier unabhängig von seiner Funktion ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.

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