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Dreikampf um die Lufthoheit

von Stephan Georg Raabe

Brandenburg vor der Landtagswahl

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Rund um Berlin zwischen Irgendwo und Nirgendwo liegt Brandenburg. Das ist ganz und gar nicht despektierlich gemeint. Schon gar nicht im Jahr des 200. Geburtstages des großen Brandenburger Schriftstellers Theodor Fontane, der dem spröden Charme seiner Heimat mit ihren Orten und Bewohnern, Schlössern und Klöstern, Landschaften und Seen nicht nur in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg ein Denkmal gesetzt hat. Folgt man jedoch dem romantischen Realismus Fontanes, so führt kein Weg an der Feststellung vorbei, dass Brandenburg eben nicht durch große Städte oder Wirtschaftszentren glänzt, sieht man einmal von der preußischen Residenz- und Garnisonsstadt Potsdam vor den Toren Berlins und der Niederlausitzer Hauptstadt Cottbus mit ihrem Braunkohlerevier ab. Stattdessen wird der Charakter des Landes durch die Weite der märkischen Felder und Wälder mit ihren kleinen Ortschaften und Städtchen von der Prignitz bis zur Uckermark, vom Havelland bis zum Oderbruch, vom Fläming über den Spreewald bis ins Lausitzer Urstromtal geprägt.

Es mag auch an diesem Charakter des Landes liegen, dass „dem Märker“ große politische Aufwallungen und Proteste eher fremd sind, wie sie etwas weiter südlich in Sachsen vorkommen. Wer würde auch schon wahrnehmen, wenn sich in Perleberg oder Prenzlau, Rathenow oder Seelow, in Luckenwalde oder Herzberg – allesamt stolze Kreisstädte – die eine oder andere Demonstration formierte? Nur in Cottbus erreichten die vom Verein „Zukunft Heimat“ unter dem Motto „Grenzen ziehen“ organisierten Demonstrationen im vergangenen Jahr ein etwas größeres Ausmaß.

So ist das Land politisch nunmehr seit fast dreißig Jahren gleichbleibend stabil konservativ ausgerichtet, allerdings rotkonservativ: Die SPD stellt seit 1990 durchgehend die Ministerpräsidenten und erreichte bei den Landtagswahlen immer mehr als dreißig Prozent. Deshalb konnte sie sich ihren Koalitionspartner stets aussuchen. Einmal, von 1994 bis 1999, regierte sie sogar ganz allein, dank einer satten absoluten Mehrheit.

Steigende Flughöhe

Dann kam der kürzlich verstorbene, schwarz-konservative General Jörg Schönbohm (1937–2019) nach Brandenburg, und für zehn Jahre wurde rot-schwarz regiert. Nachdem die SPD ihre einstigen Schwüre, keinesfalls mit der SED-Nachfolgepartei PDS / Die Linke zu koalieren, ad acta gelegt hatte, folgte auf die rot-schwarze Dekade eine rot-dunkelrote.

Manch einer stimmt seitdem den Refrain der Brandenburg-Hymne Märkische Heide mit folgendem Text an: „Steige hoch, du roter Adler, hoch über rotes Land.“

Doch auch über die märkische Heide weht der politische Geist der Zeit und bringt Veränderungen mit sich. So hat jetzt erstmals seit demokratischem Angedenken in Brandenburg der „schwarze Adler“ gute Chancen, höher zu steigen als der „rote Adler“. Denn nach dem auch an Brandenburg nicht vorübergegangenen Absturz der SPD liegen Christ- und Sozialdemokraten bei knapp über zwanzig Prozent. Allein: Das politische Geschehen der letzten vier Jahre bringt es mit sich, dass aus diesem Zweikampf ein Dreikampf zu werden droht, da die sich „Alternative“ nennende Partei auch im beschaulichen Brandenburg einen Aufschwung genommen hat, will man den Sonntagsfragen Glauben schenken.

Nun kämpfen also die drei Parteien um die Oberhoheit bei den Landtagswahlen am 1. September. Etwas niedriger schwingt der dunkelrote Adler seine Flügel, der in Oppositionszeiten auf stolzen Höhen von 28 Prozent schwebte, aber in der Regierung Federn lassen musste: Die Linke rangiert aktuell nur noch bei 17 bis 18 Prozent. Bleibt dies so, wird wohl nach der Wahl ein dritter (oder sogar vierter) Partner zur Regierungsbildung gesucht. Grüne und Liberale haben traditionell nur geringen Zuspruch im Land der „dunklen Kiefernwälder“, der „blauenden Seen, Wiesen und Moore“. So manches Mal reichte es nicht einmal zum Einzug in den Landtag, wie zuletzt bei der FDP.

Doch siehe da: Jetzt stehen nicht mehr allein die „grünenden Birken am Wiesenrain“ in Brandenburg, sondern auch die Grünen vor einem möglichen Regierungseinzug, wenn sie das vorweihnachtliche Umfrageergebnis von zwölf Prozent halbwegs stabilisieren können. Die FDP muss dagegen weiter froh sein, wenn sie die Fünf-Prozent-Hürde überspringt.

Die Spitzenkandidaten

Wie die Städte im Land, so sind auch die politischen Protagonisten, die Spitzenkandidaten, über die Grenzen Brandenburgs hinaus und bei etlichen selbst im eigenen Land eher wenig bekannt: Dietmar Woidke (57), promovierter Agraringenieur aus Forst in der Lausitz, gehört seit 1994 dem Landtag an, war bereits Landwirtschaftsminister, Fraktionsvorsitzender der SPD sowie Innenminister und ist seit August 2013 Ministerpräsident und Vorsitzender der SPD.

Sein Herausforderer von der CDU, Ingo Senftleben (44), stammt aus der Schraden-Landschaft an der brandenburgisch-sächsischen Grenze, ist Hochbautechniker und seit 1999 im Landtag. Seit 2009 Parlamentarischer Geschäftsführer, übernahm er nach der Landtagswahl 2014, bei der die CDU 23 Prozent erreichte, zunächst die Fraktionsführung und im April 2015 auch die Parteiführung der CDU.

Andreas Kalbitz (46), der Landeschef der Alternative für Deutschland (AfD), wurde in einem Mitgliederentscheid im Januar nur knapp vor dem Zweitplatzierten Hans-Christoph Berndt (61), dem Vorsitzenden von „Zukunft Heimat“, zum Spitzenkandidaten gewählt. Kalbitz, geboren in München, war in jungen Jahren Mitglied der Jungen Union und der CSU, danach Mitglied der Partei Die Republikaner (REP). 2013 trat er der AfD bei, 2014 wurde er in den Landtag gewählt und trat 2017 die Nachfolge Alexander Gaulands zunächst als Landes-, dann auch als Fraktionsvorsitzender der AfD an, zu deren rechtem Rand er zählt.

Für Die Linke gehen – nach dem durch einen Pharmaskandal bedingten Verzicht von Diana Golze (43), Parteivorsitzende und zurückgetretene Arbeits- und Sozialministerin – Kathrin Dannenberg (52) und Sebastian Walter (29) in den Wahlkampf. Dannenberg aus Calau in der Lausitz ist Lehrerin für Sport, Geschichte und LER (Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde), seit 2014 im Landtag und dort stellvertretende Fraktionsvorsitzende; Walter, früherer Vizeparteichef, ist Geschäftsführer des Deutschen Gewerkschaftsbundes in der Region Barnim im Nordosten von Berlin.

Unzufriedenheit im Land

Bemerkenswert ist, dass trotz der bei den Brandenburgern – laut Umfragen – überwiegenden persönlichen Zufriedenheit und Zuversicht eine verbreitete politische Unzufriedenheit im Land herrscht, die sich auch in den Sonntagsfragen zur Wahl niederschlägt. Es gibt offenbar in Teilen der Bevölkerung in den „Tiefenschichten der kollektiven Gemütsverfassung“ (Peter Graf Kielmansegg) einen latenten Vertrauensverlust und Verdruss an den bislang führenden und regierenden Parteien bei gleichzeitig hohen Erwartungen an den Staat und die ihn Regierenden.

Profitieren können davon in letzter Zeit vor allem AfD und Grüne. Zugleich haben die Parteien, die nach radikaleren rechten oder linken Alternativen streben, ein Wählerpotenzial von rund vierzig Prozent und liegen damit momentan nahezu gleichauf mit den Volksparteien SPD und CDU, die allerdings nur eine geringe Mitgliederbasis im Land haben.

Sicher, Brandenburg ist laut Statistischem Jahrbuch 2018 zweigeteilt: Es gibt die boomenden Gebiete rings um Berlin, die seit 1990 einen Bevölkerungszuwachs von bis zu 25 oder 30 Prozent vorweisen können. Und es gibt die „Jottwede“-Gebiete, „janz weit draußen“, wo es viel „Jejend“ gibt, die in den letzten drei Jahrzehnten bis zu einem Drittel an Bevölkerung verloren haben, vor allem junge, tatkräftige Menschen. Mehr als drei Viertel (77 Prozent) der Haushalte bestehen nur noch aus einer Person oder zwei Personen; vier- und mehrköpfige Familien machen lediglich zehn Prozent der Haushalte aus. Auf einen Berufstätigen kommt ungefähr ein Nichtberufstätiger über sechzig oder unter zwanzig Jahren. Obwohl der Ausländeranteil insgesamt nur rund 2,5 Prozent ausmacht, hat jeder achte bis neunte Einwohner unter 35 Jahren bereits einen Migrationshintergrund.

Keineswegs abgewirtschaftet

Gleichzeitig steht Brandenburg mit Blick auf seine ökonomischen Eckwerte gar nicht so schlecht da: Die Arbeitslosigkeit liegt mit 5,8 Prozent (April 2019) nicht allzu hoch über dem Bundesdurchschnitt von 4,9 Prozent; beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 2017 steht man im Osten genau zwischen dem etwas produktiveren Sachsen und Thüringen einerseits und dem etwas weniger produktiven Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern andererseits, auch wenn man nur 72 Prozent des Bundesdurchschnitts erreichte; die Armutsgefährdungsquote ist geringer als im deutschen Durchschnitt; beim Schuldenstand pro Einwohner belegt man sogar einen guten fünften Platz hinter Ländern wie Sachsen, Bayern und Baden-Württemberg, und der Finanzierungssaldo des Haushalts ist seit mehreren Jahren positiv, was für eine solide Finanzpolitik spricht.

Abgewirtschaftet ist Brandenburg also keineswegs, wiewohl es vieles zu verbessern gilt: vor allem in der Bildungspolitik, in Forschung und Entwicklung, bei Verkehr und Infrastruktur, bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung und der inneren Sicherheit. Und natürlich steht in den nächsten zwanzig Jahren mit dem Ausstieg aus der Braunkohle die Umstrukturierung der Lausitz an. Wer das künftig an führender Stelle in die Hand nehmen soll, entscheiden die Brandenburger am 1. September. Zuvor werden die Kommunalwahlen und die Europawahlen am 26. Mai einen weiteren Anhaltspunkt für die politische Stimmung im Land geben.

Bei der letzten Europawahl lag die CDU mit 25 Prozent knapp hinter der SPD (26,9 Prozent); bei den Kommunalwahlen wurde die CDU dagegen auf Kreisebene mit 24,8 Prozent hauchdünn stärkste Kraft vor der SPD (24,5 Prozent). In den Städten und Gemeinden stehen jedoch unabhängige Wählergruppen mit 35,5 Prozent an der Spitze.

Womit wir zum Schluss wieder zu Theodor Fontane kommen, der über sein Brandenburg sagte: „Das Haus, die Heimat, die Beschränkung, die sind das Glück und sind die Welt.“

Stephan Raabe, geboren 1962 in Düsseldorf, Leiter des Politischen Bildungsforums Brandenburg der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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