Asset-Herausgeber

von Holger Bonin

Warum normale Arbeit doch kein Auslaufmodell ist

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Wann ist Arbeit „normal“? Zumindest die Statistiker des Statistischen Bundesamtes haben davon offenbar eine klare Vorstellung: Für sie ist es Arbeit, die Sicherheit vermittelt. Sie zählen als Normalarbeitsverhältnis jede Beschäftigung, die für einen weisungsbefugten Arbeitgeber in unbefristeter Vollzeit ausgeübt wird und eine volle soziale Absicherung bietet, sofern es sich nicht um Zeitarbeit handelt. Dabei fokussiert die amtliche Statistik diejenigen, für die Erwerbsarbeit normalerweise in starkem Maß Schwerpunkt der Lebensgestaltung ist.


Die Konzentration auf die Gruppe der sogenannten Kernerwerbstätigen, bei der junge Menschen, die in Bildung oder Ausbildung sind, und Ältere, die das Rentenalter erreicht haben, nicht mitzählen, ist wichtig. Sonst könnte man die Entwicklung der atypischen abhängigen Beschäftigung – des Gegenstücks zum Normalarbeitsverhältnis – falsch einschätzen. Die demografische Entwicklung führt momentan zu einer rasant steigenden Zahl der Menschen im Ruhestand, von denen zudem ein wachsender Anteil weiterhin aktiv am Erwerbsleben teilnimmt; der Run auf die Hochschulen hebt die Zahl der Studierenden nach oben, die sich häufig etwas hinzuverdienen. Wer in diesen Gruppen erwerbstätig ist, möchte oder könnte aber meist gar kein Normalarbeitsverhältnis ausfüllen. Hieraus ergibt sich eine erhöhte Dynamik bei der atypischen Beschäftigung, etwa in Form von Teilzeitarbeit, die aber nicht als Indiz für die so oft behauptete schwindende Kraft normaler Arbeit genommen werden darf.


Blickt man auf die Kernerwerbstätigen, gewinnt das Normalarbeitsverhältnis seit gut einem Jahrzehnt wieder an Stärke. Die Kehrtwende liegt im Jahr 2006 – also in dem Jahr, in dem das bis heute anhaltende deutsche „Arbeitsmarktwunder“ begann. Bis 2016 stieg die Zahl der normal arbeitenden Kernerwerbstätigen in jedem Jahr – insgesamt um rund 3,5 Millionen auf 25,6 Millionen Personen.



Trendumkehr bei Normalarbeitsverhältnissen


Entsprechend ist auch der Anteil der Kernerwerbstätigen mit einem Normalarbeitsverhältnis von etwa 65 Prozent im Jahr 2006 auf heute etwa 70 Prozent gestiegen. Die rapide Erosion der Normalarbeitsverhältnisse, die von der Wiedervereinigung bis zur Mitte des letzten Jahrzehnts stattfand, scheint heute also gestoppt. Und die jüngste Trendentwicklung gibt wenig Anlass, zu vermuten, dass der Wiederaufstieg der Normalarbeit nicht noch weitergehen könnte.


Die zeitliche Koinzidenz mit dem Inkrafttreten der Hartz-Gesetze legt die Hypothese nahe, dass diese die Trendumkehr bewirkt haben, und das, obwohl mit den Arbeitsmarktreformen atypische Beschäftigungsformen wie Zeitarbeit oder Minijobs gestärkt wurden. Jedoch deuten volkswirtschaftliche Analysen darauf hin, dass auch andere Faktoren wichtige Beiträge zum Umschwung am deutschen Arbeitsmarkt geleistet haben. So haben eine beschäftigungsorientierte Tarifpolitik und die Einführung des Euro die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gestärkt, ein höheres Rentenzugangsalter und die stärkere Öffnung für Migration in den Arbeitsmarkt die Fachkräftebasis verbreitert.


Das statistische Normalarbeitsverhältnis ist auch der heute von einer großen Mehrheit der Kernerwerbstätigen auf dem Arbeitsmarkt erlebte Normalfall. Das gilt für Männer mehr als für Frauen. Bei männlichen Kernerwerbstätigen kamen 2016 auf 100 Normalerwerbstätige nur 16 atypisch Beschäftigte, also Fälle von befristeter, geringfügiger, in Teilzeit oder in Zeitarbeit ausgeübter Erwerbstätigkeit. Bei Frauen war diese Relation mit 100 zu 50 deutlich ungünstiger. Dabei speist sich dieser Geschlechterunterschied hauptsächlich aus der Teilzeitarbeit. In der Gruppe der Kernerwerbstätigen kamen fünf Teilzeitarbeiter auf 100 Normalarbeiter, aber 38 Teilzeitarbeiterinnen auf 100 Normalarbeiterinnen.


Da Teilzeitbeschäftigung für Frauen, die Sorgearbeit in der Familie leisten, in Deutschland weiterhin eine „alltägliche“ Option darstellt, sollte man ihre Einstufung als „atypisch“ hinterfragen, zumal Frauen in Teilzeit oft über einen Hauptverdiener abgesichert sind. Wenn sich Mütter zunehmend am Erwerbsleben beteiligen, dabei aber mit ihrem Partner eine gängigen Rollenmustern folgende Arbeitsteilung pflegen, kann das die amtliche Statistik in die Irre führen.


Andere Formen atypischer Beschäftigung als die Teilzeitarbeit sind für Kernerwerbstätige bei Weitem nicht der Normalfall. So gab es 2016 weniger als drei Zeitarbeitsverhältnisse je 100 Normalarbeitsverhältnisse. Die Relation von Zeitarbeit zu Normalarbeit schwankt erkennbar über den Konjunkturverlauf, sie ist jedoch über die Jahre nicht systematisch gestiegen. Minijobs verlieren sogar im Trend. Zuletzt gab es acht geringfügige Beschäftigungsverhältnisse je 100 Normalarbeitsverhältnisse – immerhin ein Drittel weniger als im Spitzenjahr 2006.


Bei Kernerwerbstätigen lag die Relation von befristeten Stellen zu Normalarbeitsverhältnissen 2016 bei etwa eins zu zehn. Sie war damit gut 16 Prozent günstiger als der 2010 erreichte Spitzenwert. Angesichts dieser konjunkturell und demografisch getriebenen Verbesserung ist der steigende Anteil von befristet beschäftigten Berufsanfängern, dem die Akademisierung Vorschub leistet, leicht zu übersehen. Es ist inzwischen normal, dass Hochschulabsolventen erst befristete Arbeitsverträge eingehen, bevor sie nach einer Orientierungsphase in ein Normalarbeitsverhältnis einmünden, häufig sogar ohne Arbeitgeberwechsel.


Dass die erste Phase des Erwerbslebens instabiler geworden ist, schlägt bisher aber kaum auf das Gesamtbild der Dauer der Betriebszugehörigkeiten in der Erwerbsbevölkerung durch. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren 2016 fast 46 Prozent der Erwerbstätigen mindestens zehn Jahre bei ihrem Arbeitgeber beschäftigt, gut 19 Prozent fünf bis zehn Jahre – und diese Anteile haben sich seit 2006 kaum verändert. Die Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland werden also entgegen manchen Befürchtungen nicht allgemein instabiler. Auf Dauer angelegte Bindungen an einen Arbeitgeber sind der Arbeitsproduktivität förderlich – und daher in den Erwerbsbiographien von heute immer noch der Regelfall.



Digitalisierung ist kein Jobkiller


Blickt man voraus, ist normale Arbeit wohl viel weniger gefährdet, als es diejenigen prognostizieren, die angesichts neuartiger Möglichkeiten im digitalen Zeitalter eine grundlegende Krise der Arbeit erwarten oder sogar ein baldiges Ende der Lohnarbeit herbeiphilosophieren. Erstens spricht die Evidenz eher dagegen, dass der digitale Wandel per saldo massiv Jobs kostet. Zwar lässt er manche Arbeitsplätze verschwinden, schafft aber zugleich an anderer Stelle neue, meist anspruchsvollere. Zudem ist es normal, dass Stellen nach digital basierten Innovationen erhalten bleiben, jedoch die Tätigkeitsprofile am Arbeitsplatz komplexer werden. Arbeitgeber brauchen demnach, um von der Digitalisierung umfassend zu profitieren, besser qualifiziertes Personal – das sich mit atypischer Beschäftigung aber schwer gewinnen lässt.


Zweitens werden die Potenziale überschätzt, die Arbeit mit den neuen digitalen Mitteln vom betrieblichen Kontext zu lösen. So bilden die medial stark beachteten Netzarbeiter beziehungsweise Gig-Worker, die eine sozial- und arbeitsrechtlich schlecht abgesicherte neue Mischform von Arbeitnehmer-Selbstständigen darstellen, in Deutschland bislang eine verschwindend kleine Minderheit. Das hat Gründe, die absehbar weiter bestehen, wie das hohe Gewicht der kaum als Gig-Work organisierbaren Industrieproduktion, die geringe Neigung der Deutschen zur Selbstständigkeit und ein stabiles soziales Netz, durch das keiner aus Not prekäre Netzarbeit verrichten muss. Auf längere Sicht dürfte Gig-Work deshalb ein Randphänomen in globalen Nischenarbeitsmärkten für Spezialisten bleiben.


Drittens wollen die Menschen weiterhin für sich normale Arbeit. Die Angehörigen der jungen Generation streben offenbar sogar verstärkt Normalarbeitsverhältnisse an, die ihnen aber zeitliche Flexibilität und Autonomie lassen sollen. Zugleich haben sie auch bessere Chancen, ihre Vorstellungen von normaler Arbeit durchzusetzen. Eine hohe Qualifikation, bisweilen finanzielle Sicherheit durch ererbtes Vermögen und eine demografisch bedingte Verknappung von Arbeitskräften tragen dazu bei, dass ein Arbeitnehmerarbeitsmarkt entsteht, in dem Arbeitgeber mit attraktiven Bedingungen um Beschäftigte werben müssen.



Zu wenig Aufmerksamkeit für normal Arbeitende


Angesichts des Gewichts derer, die normal arbeiten, würde man erwarten, dass die Politik dieser Zielgruppe besondere Aufmerksamkeit schenkt. Die deutsche Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der letzten Jahre hatte normal Arbeitende aber wenig im Fokus. Es gab viele Nischenlösungen, etwa zur Entgeltgleichheit, von denen nur ganz wenige profitieren. Oft drehte sich die Politik um die Eindämmung atypischer Beschäftigung, etwa durch stärkere Regulierung von Zeitarbeit und Befristungen, statt um direkte Stärkung der Normalarbeit. Teils wurden Konzepte diskutiert wie die Familienarbeitszeit, die das geltende Bild von normaler Arbeit verändern sollen und damit schon vom Ansatz her an den Interessen der meisten heute normal Arbeitenden vorbeigehen.


Für eine an den Problemen von normal Arbeitenden orientierte Politik gäbe es mindestens drei wichtige Handlungsfelder. Erstens: Um dem von Globalisierung und Digitalisierung erzeugten Druck zur Mäßigung der Bruttolöhne entgegenzuwirken, käme es darauf an, die Steuer- und Beitragslast auf Erwerbseinkommen, vor allem im mittleren Einkommensbereich, zu senken.


Zweitens: Um die Vereinbarkeit von Erwerbsund Sorgearbeit auch für Paare, die das normale Hauptverdiener-Zuverdiener-Modell leben möchten, besser zu lösen, müsste es mehr hochwertige und bedarfsgerechte Betreuungsangebote geben, aber auch mehr soziale Absicherung von notwendiger und gesellschaftlich gewünschter Sorgearbeit.


Drittens: Der digitale Wandel konfrontiert viele Beschäftigte mit neuartigen beruflichen Anforderungen, die zudem einen Teil überfordern. Darum bräuchte es Arbeitnehmerschutzrechte auf der Höhe der Zeit, vor allem aber aktive arbeitsmarktpolitische Instrumente für Erwerbstätige, die sich zur Sicherung ihres Arbeitsplatzes weiterqualifizieren müssen.


Vielleicht kann es die Politik mit einer konzentrierten Hinwendung zu den normal Arbeitenden schaffen, Zufriedenheit und Vertrauen bei Menschen zu stärken, die momentan durch die anhaltenden Diskussionen um ein Ende der Erwerbsarbeit, wie wir sie bisher kennen, oft tief verunsichert sind.


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Holger Bonin, geboren 1968 in Wermelskirchen, seit 2016 Forschungsdirektor am Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn, Professor für Volkswirtschaftslehre mit den Schwerpunkten Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik an der Universität Kassel.

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