Asset-Herausgeber

Exempel für den Weltmachtstatus

von Kristin Helberg

Russlands Rolle im Syrien-Konflikt

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Ohne Russland keine Lösung in Syrien. Die Regierung in Moskau ist international der entscheidende Akteur des Konflikts, weil sie diplomatisch, politisch und militärisch den Ton angibt. Und das nicht erst seit ihrer direkten Militärintervention ab Oktober 2015, mit der sie dem bedrängten Machthaber Baschar al-Assad das Überleben sicherte und die Wende im Krieg einleitete. Schon zuvor war Russland Syriens wichtigster Waffenlieferant, zuverlässige Schutzmacht im Weltsicherheitsrat und langjähriger Bündnispartner – schließlich stand das formal sozialistische Baath-Regime in Damaskus über Jahrzehnte der Sowjetunion nahe.


Nach deren Zerfall zerbröckelte Moskaus Macht zusehends. Die ehemaligen Sowjetrepubliken konnte es nicht dauerhaft an sich binden, im Nordkaukasus brachen regionale Konflikte aus, Zentralasien wandte sich wirtschaftlich China zu. Gleichzeitig rückte die NATO mit ihrer Osterweiterung nah an das russische Staatsgebiet heran. Nachdem auch die arabische Welt im Laufe der 2000er­Jahre fast komplett unter amerikanischen Einfluss gekommen war (mit Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, dem Irak und dem Libanon), galt Syrien als Russlands letzter Brückenkopf in Nahost – mit dem einzigen Marinestützpunkt außerhalb des postsowjetischen Raumes. Damaskus zu halten war entscheidend, um im Mittelmeerraum präsent zu bleiben. Der Tropfen, der das Fass aus russischer Sicht zum Überlaufen brachte, waren die Ereignisse in Libyen: Im März 2011 ermöglichte Moskau mit seiner Enthaltung im UN-Sicherheitsrat eine NATO-Intervention, die das Gaddafi-Regime kurz darauf „wegbombte“, obwohl sie laut Mandat nur Zivilisten hätte schützen sollen.


Das Maß war voll – und Wladimir Putin fest entschlossen. Nie wieder sollte der Weltsicherheitsrat über den Fortbestand unliebsamer Autokraten entscheiden können, nie mehr seinen Segen geben, wenn der Westen einen „Regimewechsel“ von außen herbeiführen wollte. In Syrien würde es anders laufen, dort würde Russland entscheiden und damit zu alter Größe zurückfinden.


Waffen für Assad


Putin wusste von Anfang an, was zu tun war. Er ließ Assad Krieg führen, wie er wollte, stattete ihn mit Waffen aus, schickte ihm Militärberater und verhinderte im Weltsicherheitsrat die Verabschiedung kritischer Resolutionen. Nach dem Giftgasangriff auf die Vororte von Damaskus im August 2013 gelang dem Kremlchef ein diplomatischer Coup: Er verpflichtete das Regime zur Abgabe und Vernichtung seiner Chemiewaffenbestände durch die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons, OPCW) und lieferte US-Präsident Barack Obama den willkommenen Vorwand, um Damaskus (trotz überschrittener roter Linie) nicht angreifen zu müssen. Statt international für die Vergasung von mehr als 1.400 Zivilisten bestraft zu werden, wurde das Assad-Regime zum Partner; die OPCW-Inspektoren erhielten kurz darauf den Friedensnobelpreis.


Doch diese Rückendeckung aus Moskau war nicht ausreichend. Das syrische Regime geriet militärisch immer mehr in die Defensive, im Sommer 2015 drohten die Aufständischen in Assads Kernland an der Küste vorzudringen. Ein Jahr zuvor hatte Obama Russland im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise zur „Regionalmacht“ degradiert – aus Sicht des Kremls eine Erniedrigung, die nach einer Antwort verlangte. Jetzt war für Putin der Moment gekommen, den Westen daran zu erinnern, mit wem er es zu tun hatte: mit einer Weltmacht. Er schickte Kampfjets, Jagdbomber und Kampfhubschrauber nach Syrien, außerdem Flugabwehrsysteme, Panzer, Marineinfanterie und Sondereinsatzkräfte. Insgesamt wurden mindestens 2.000 Soldaten nach Syrien verlegt, hinzu kam eine unbekannte Zahl von Söldnern der „Gruppe Wagner“, eines kremlnahen privaten Sicherheitsunternehmens, das als paramilitärische Organisation russische Militäreinsätze unterstützt und auch auf der Krim im Einsatz war.


Offiziell ging es um die Bekämpfung islamistischer Terroristen – in Wirklichkeit bombardierte die russische Luftwaffe sämtliche, von Rebellen kontrollierten Gebiete ohne Rücksicht auf deren Bewohner. Außerdem nahm sie zivile Einrichtungen ins Visier. Nach der Statistik des Syrischen Netzwerks für Menschenrechte (Syrian Network for Human Rights, SNHR) hat Russland bis Mai 2018 insgesamt 167 Krankenhäuser, 169 Schulen und 55 Marktplätze gezielt angegriffen. Immer wieder setzte Putin Streumunition, Brandbomben und bunkerbrechende Waffen ein, deren Einsatz in ziviler Umgebung international geächtet ist. Ziel war es, möglichst viele Gebiete für Assad zurückzuerobern, um dessen Macht zu stabilisieren. Das Regime hatte wieder die Oberhand.


Ausstieg der USA aus der Syrien-Diplomatie


Durch das russische Eingreifen kam diplomatisch Bewegung in den verfahrenen Konflikt. Als Assads Retter könnte Moskau ihn nun zu allerlei Zugeständnissen bewegen und den für eine politische Lösung notwendigen Druck aufbauen – so die Hoffnung. Erstmals seit Jahren setzten sich Unterstützer und Gegner des Regimes ernsthaft zusammen und einigten sich im Dezember 2015 auf die UN-Resolution 2254. Washington und Moskau leiteten gemeinsam zwei Einsatzgruppen, um die Gewalt einzudämmen und die Menschen humanitär zu versorgen.


Doch gestärkt durch Russlands moderne Waffentechnik, setzte das Assad-Regime weiterhin auf einen militärischen Sieg – und Moskau machte mit. Aus der Politik auf Augenhöhe wurde eine russische Dominanz. Mit dem Ende der Amtszeit von US-Präsident Obama und dessen Außenminister John Kerry verabschiedeten sich die USA aus der Syrien-Diplomatie. Anfang 2017 startete Moskau zusammen mit dem Iran und der Türkei den Astana-Prozess, bei dem Amerikaner und Europäer nur noch Zaungäste waren.


Putin hatte erreicht, was er wollte: Russland war als Weltmacht auf die internationale Bühne zurückgekehrt, hatte die USA als regionale Ordnungsmacht im Nahen Osten beerbt und sich eine militärische Dauerpräsenz im Mittelmeerraum gesichert. Nebenbei waren durch das Ausprobieren neuer Waffensysteme in Syrien auch noch deren Verkaufszahlen gestiegen. Der Weg zum Frieden in Syrien würde über Moskau führen, so viel stand fest.


Allerdings ist dieser erst zur Hälfte beschritten. Denn die besondere Rolle Putins besteht nicht darin, Baschar al­Assad an der Macht zu halten, sondern ganz im Gegenteil darin, ihn zum Rückzug zu bewegen. Russland ist unter den Unterstützern des Regimes der einzige, der auf Assad verzichten kann, und hätte sowohl die politische als auch die militärische Macht, einen Führungswechsel herbeizuführen. Die entscheidende Frage ist deshalb: Würden ein Abgang Assads und ein Machtwechsel à la Putin Syrien befrieden? Womöglich wird ein solcher Schritt bereits hinter den Kulissen vorbereitet. Russland weiß, dass Syrien ohne massive finanzielle Hilfe aus dem Westen und seitens der Golfstaaten nicht auf die Beine kommen wird und dass diese im Gegenzug auf einem politischen Übergang bestehen. Putin weiß auch, dass Präsident Assad für Millionen Syrer die Hauptschuld am jahrelangen Blutvergießen trägt, dass er symbolisch für Folter, Massenmord und Vertreibung steht und deshalb auf Dauer untragbar ist. Mit Assad an der Macht wird es keine gesellschaftliche Aussöhnung und keine nachhaltige Stabilität geben; er ist somit zum größten Hindernis für Frieden geworden. Und den will Russland auch – nach den eigenen Vorstellungen, versteht sich. Die kostenintensive Einmischung der vergangenen Jahre muss sich schließlich gelohnt haben.


„Der Tiger“ – ein Nachfolger Assads?


Russland ist deshalb damit beschäftigt, diplomatisch zu besiegeln, was es militärisch investiert hat. Moskau möchte in Syrien einen autoritären Staat mit zentral gelenkten Institutionen und einer Führung, die sich Russland verpflichtet fühlt. Das eigene militärische Engagement will der Kreml auf ein Minimum reduzieren, denn verunglückende Hubschrauber, abstürzende Kampfjets und getötete Soldaten erzeugen schlechte Stimmung im eigenen Land. Für viele Russen ist die Syrien-Intervention ohnehin weit weg und wenig nachvollziehbar. Im Gegensatz zur Krim, wo es aus russischer Sicht um die Wahrung einer historischen russischen Identität geht, stehen in Syrien Interessen im Vordergrund, die sich dem durchschnittlichen Bürger kaum erschließen. Mittelfristig will Putin Syrien aus der Ferne lenken. Dafür genügen ihm zwei Militärbasen – der Marinehafen in Tartus und der Luftwaffenstützpunkt in Hmeimin –, die Kontrolle über die syrische Erdöl- und Erdgasförderung und die erwähnte moskautreue Führung in Damaskus. Er könnte Assad zu einem gesichtswahrenden Abgang verhelfen und einen Nachfolger nach seinem Geschmack installieren, wahrscheinlich einen hochrangigen Militär oder einen einflussreichen Vertreter des Sicherheitsapparates.


Ein Name, der in diesem Zusammenhang oft auftaucht, ist Suhail al­Hassan. Der alawitische Oberst mit dem Kampfnamen „Nimr“ („der Tiger“) machte Karriere bei der Luftwaffe und befehligt seit 2013 die Tiger Forces, die bekannteste halbstaatliche Spezialeinheit des Regimes. Hassan gilt als brutal und kompetent und arbeitet eng mit der russischen Luftwaffe zusammen, die den Tiger Forces schon mehrfach den Weg freibombte. Er erhielt diverse russische Auszeichnungen und wurde in Hmeimin von Putin persönlich empfangen. Sollte Hassan zu mächtig und eine Gefahr für Assad werden, könnte dieser ihn jedoch ausschalten, fürchten Anhänger. Bislang scheint Russland eine schützende Hand über den General zu halten.


Für die Syrer wäre mit diesem Personalwechsel wenig gewonnen, denn an der staatlichen Willkür, der Macht der Geheimdienste und den klientelistischen Strukturen des Regimes würde sich unter Hassan nichts ändern. Der Westen sollte sich auf einen solchen schmutzigen, weil oberflächlichen Deal – Abgang Assads für Milliardenhilfe beim Wiederaufbau – deshalb nicht einlassen, sondern auf einem glaubwürdigen Neubeginn inklusive einer Umstrukturierung des Sicherheitsapparates bestehen.


Putins Drei-Stufen-Plan


Noch ist die Zeit für einen gesteuerten Machtwechsel aus russischer Sicht nicht reif. Das Land soll zunächst unter vollständige Kontrolle des Regimes gebracht werden, um dann die Bedingungen für einen Frieden diktieren zu können. Dabei bemüht sich Putin inzwischen auch um die Interessen anderer ausländischer Akteure. Indem er sich mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan auf eine entmilitarisierte Zone in der Provinz Idlib einigte, respektiert er dessen Wunsch, den Norden Syriens unter türkischen Einfluss zu bringen, um eine kurdische Autonomie zu verhindern. Russland könnte einen entsprechenden Deal zwischen Ankara und Damaskus vermitteln. Denn sollte Assad die Macht der Kurden dauerhaft beschränken, hätte Erdoğan mit seinem Verbleib an der Macht kein Problem mehr: besser das syrische Regime an der Grenze als die Waffenbrüder der Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK).


Gleichzeitig versucht Moskau im Süden, iranische Milizen vom Golan fernzuhalten, um Israel und die USA zufriedenzustellen. Putins Kalkül: Indem er die Prioritäten der internationalen Assad-Gegner berücksichtigt, zwingt er diese, sich mit dem Status quo in Syrien zu arrangieren. Und vielleicht finanzieren der Westen und die Golfstaaten dann doch irgendwann den Wiederaufbau?


Allerdings gestaltet sich eine politische Lösung, wie Putin sie anstrebt, umso schwieriger, je offensichtlicher die iranische Dominanz in Syrien wird. Denn die USA unter Donald Trump haben den Iran als neuen alten Feind auserkoren und sind fest entschlossen, dessen Expansionsbestrebungen im Nahen Osten zurückzudrängen. Die Europäer halten zwar formal am Atomabkommen mit Teheran fest, können die Eskalation zwischen dem Iran einerseits und den USA sowie Israel andererseits allerdings kaum aufhalten. Für eine internationale Lösung des Syrien-Konflikts, bei der der Westen mitzieht, müsste Russland folglich nicht nur Assad zum Rücktritt, sondern auch Teheran zum Rückzug bewegen. Nichts deutet darauf hin, dass sich die iranische Führung darauf einlassen würde.


Putins Drei-Stufen-Plan – erstens Assad zu stabilisieren und abhängig zu machen, ihn zweitens als Angebot an den Westen zu opfern, um drittens über eine Nachkriegsordnung zu bestimmen, die von allen finanziert wird, aber vor allem Russland nützt – droht am Iran zu scheitern. Dann hätte Moskau in Syrien seinen globalen Rivalen, den Westen, besiegt, um am Ende den Zweikampf mit einer verbündeten Regionalmacht zu verlieren.


Der Beitrag stammt aus der jüngsten Veröffentlichung von Kristin Helberg „Der Syrien-Krieg. Lösung eines Weltkonflikts“ (Herder Verlag, Freiburg i. Br. 2018) und wurde für „Die Politische Meinung“ ergänzt und aktualisiert.


Weitere Publikationen der Autorin

Brennpunkt Syrien. Einblick in ein verschlossenes Land, Herder Verlag, Freiburg i. Br. 2012, überarbeitet 2014.

Verzerrte Sichtweisen – Syrer bei uns. Von Ängsten, Missverständnissen und einem veränderten Land, Herder Verlag, Freiburg i. Br. 2016.


Kristin Helberg, geboren 1973 in Heilbronn, Politikwissenschaftlerin, Nahost-Expertin und freie Journalistin. 2001 bis 2008 berichtete sie von Syrien aus über die arabische und islamische Welt, unter anderem für die Hörfunkprogramme der ARD, den ORF und das Schweizer Radio.

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