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Garant internationaler Identität

von Bronislaw Maria Karol Komorowski

Parlamentarismus im Spannungsfeld zwischen Globalisierung und staatlicher Souveränität

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In Polen hat der Parlamentarismus eine jahrhundertelange Tradition. Am Ende des 15. Jahrhunderts trat zum ersten Mal der General-Sejm (comitia generalia) zusammen, der aus zwei Kammern bestand: dem Senat und der Abgeordnetenkammer. Der Senat entstand aus dem historischen Königsrat. Seine Mitglieder setzten sich aus den höchsten Beamten des Staates und den Vertretern der höchsten Kirchenhierarchie zusammen. Die Abgeordnetenkammer versammelte Vertreter der Szlachta – des polnischen Adels –, die von den Provinzparlamenten ernannt wurden. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung waren berechtigt, an den Wahlen teilzunehmen. Die Abgeordnetenkammer wurde im Jahr 1493 zu dem Organ, in dem Adlige aller Länder des Königreichs Polen vertreten waren. Eine der wesentlichsten Errungenschaften des polnischen Parlamentarismus war die 1791 verabschiedete erste moderne Verfassung Europas. Die Verfassung vom 3. Mai 1791 legte das Rechtssystem der Königlichen Republik Polen-Litauen fest.

Heutzutage ist das Parlament der Ort, an dem nicht mehr nur Gesetze verabschiedet werden und die Regierung gebildet und kontrolliert wird, sondern an dem die wichtigsten, oft ideologischen Grundsatzdebatten geführt werden. Es ist ein eigentümliches politisches Schlachtfeld, auf dem die Konfliktparteien am Rednerpult aufeinandertreffen. Es ist ein Ort, an dem man wie durch ein Brennglas die Sprache, die sozialen wie auch die politischen Begriffssysteme sowie die politische Kultur des betreffenden Landes studieren kann. Sofern es nicht nur Fassade ist, wie in autoritären Staaten, bleibt das Parlament das wichtigste Forum für den Austausch politischer Ideen. Sogar das heute allgegenwärtige Internet hat dies – noch? – nicht umstoßen können. In ihren Beiträgen kommentieren Internetnutzer das, was im Parlament geschieht, und diskutieren über die Effektivität der parlamentarischen Arbeit, und diejenigen, die die politische Ordnung infrage stellen, ziehen vor das Parlament, um dort zu demonstrieren. Zumindest ist das in Polen so.

Bedeutung der nationalen Souveränität

Das Parlament steht somit im Zentrum des „Spannungsfelds“ zwischen Globalisierung und nationaler Souveränität. Dieses drückt sich in der Struktur und Thematik der angenommenen Gesetzgebung, aber auch in der Stilistik und den Begriffen aus, die im Laufe der parlamentarischen Arbeit verwendet werden.

In Polen ist das Thema nationale Souveränität aufgrund der polnischen Nationalgeschichte von besonderer Bedeutung. Als sich im 19. Jahrhundert in Europa die modernen Gesellschaften formten, hatte Polen – einst Großmacht am Übergang des 16. zum 17. Jahrhundert – bereits seine Eigenstaatlichkeit verloren. Es wurde 1795 zerrissen und aufgeteilt zwischen seinen Nachbarn Russland, Preußen und Österreich. Bis zum Jahr 1918 war die polnische Geschichte geprägt von einer Abfolge von Aufständen und Verschwörungen, aber auch von friedlicher politischer Arbeit mit einem einzigen Ziel – der Wiedererlangung der nationalen Souveränität.

Manchmal machen wir uns in Polen selbst über uns lustig, wenn wir über diese nationale Besessenheit reden. Man erzählt sich, dass Ende des 19. Jahrhunderts ein Wettbewerb von der Pariser Akademie für Literatur ausgerufen worden sei, um das beste Werk über den Elefanten zu küren. Vertreter unterschiedlichster Nationen nahmen sich dieser Herausforderung an: Ein Engländer schrieb über seine Erinnerungen an eine Elefantenjagd auf dem indischen Subkontinent. Ein Franzose, zurück von einem sonntäglichen Ausflug in den Zoo, schrieb einen brillanten Bericht über die Verführungskünste der Elefanten. Der Deutsche in diesem Witz arbeitete drei Jahre in den Bibliotheken von Heidelberg und Göttingen und fertigte eine grundlegende wissenschaftliche Arbeit in zwei Bänden an: „Einführung in die Theorie des Elefanten“. Und der Pole? Dieser soll sofort um ein Blatt Papier gebeten und innerhalb einer halben Stunde das politische Pamphlet „Der Elefant und die polnische Frage“ verfasst haben. Das ist natürlich nur ein Witz. Er zeigt jedoch trefflich unsere politische Obsession, die uns von der Geschichte aufgezwungen worden ist. Im Übrigen feiern wir aktuell den 100. Jahrestag der Wiedergewinnung der Eigenstaatlichkeit im Jahre 1918 und erinnern uns zugleich daran, dass wir sie erneut nach dem Zweiten Weltkrieg und mehreren Jahrzehnten des Kommunismus in einem unfreien, völlig von Sowjetrussland abhängigen Staat wiedererlangen mussten.

Änderungen des Justizsystems

Die erste Sejm-Sitzung des wiedergeborenen Polens fand – keine drei Monate nach der Ausrufung des polnischen Staates – am 10. Februar 1919 statt. Leider konnte sich nur eine Generation an dem Wunder der Souveränität erfreuen. Im Jahr 1939 waren es wieder die Nachbarstaaten: Das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion bereiteten mit dem Hitler-Stalin-Pakt eine Verschwörung gegen Polen vor und teilten es untereinander auf. Die Konsequenz war nicht nur der Zweite Weltkrieg, der sechs Millionen polnischen Staatsbürgern das Leben kostete und das Land in einem gigantischen Ausmaß zerstörte, sondern auch der abermalige Verlust der vollständigen Souveränität bis zum Jahr 1989.

Man kann verstehen, warum das Thema der nationalen Souveränität in Polen eine nur schwer mit anderen Ländern zu vergleichende Bedeutung hat. In diesem Sinne möchte ich mit Sorge an einen Vorfall der vergangenen Jahre aus der langen Geschichte des polnischen Parlamentarismus erinnern. Ich beziehe mich hier auf den Beschluss des Sejm vom 20. Mai 2016 über die Verteidigung der Souveränität der Republik Polen und der Rechte der Polen. Der Beschluss wurde im Kontext hitziger Debatten um die Form und Besetzung des Verfassungstribunals gefasst. Es war die erste der von der regierenden Koalition unter Führung der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) vorgenommenen Änderungen des Justizsystems. Der berichterstattende Abgeordnete der Antragssteller begründete einen solchen Beschluss mit der Notwendigkeit, die polnische Souveränität vor der Europäischen Union (EU) schützen zu müssen. Vermutlich würde selbst der erwähnte sprichwörtliche Elefant ein solches Denken als gefährlich anachronistische Auffassung des Problems betrachten.

Schließlich stehen die staatliche Souveränität und die Gesetzgebung der EU in keinem Widerspruch zueinander. Die EU, das sind wir. Davon haben wir Jahrzehnte geträumt, und der EU-Beitritt war der größte Erfolg meiner Generation. Das Heraufbeschwören solcher Antagonismen verstärkt lediglich die Fliehkräfte innerhalb der Union und riskiert die Erosion des europäischen Projekts. Deshalb haben die EU-Institutionen das Recht, ja sogar die Pflicht, über die Unabhängigkeit des polnischen Justizsystems zu wachen und ihr Instrumentarium zur Durchsetzung der EU-Vorschriften anzuwenden. Dies wird der zentrale Streitpunkt vor dem Europäischen Gerichtshof sein: unsere Version des Widerstreits zwischen Souveränität und Globalisierung.

Mitgliedstaaten bestimmen eigenen Identität

Uns ist bewusst, dass viele Staaten der EU von Nationalismus und Populismus bedroht sind, die von ihren Verfechtern als Lösung jeglicher Probleme, als Souveränitätsgarant und Schutz vor der Globalisierung dargestellt werden. Und so tauchen aus den Untiefen der 1930er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts die uns bekannten Geister wieder auf. Das dürfen wir nicht auf die leichte Schulter nehmen, haben sie unseren Kontinent doch schon einmal in eine apokalyptische Tragödie gestürzt.

Diese bedrohlichen Entwicklungen sind meines Erachtens die logische Folge der bestehenden Spannungen zwischen dem Phänomen der Globalisierung und der Idee der nationalen Souveränität, auf die die europäischen Nationen auf absehbare Zeit nicht verzichten werden.

Lösen lassen sich diese Spannungen durch eine entsprechende Gewichtung der nationalen Parlamente. Ihre Kompetenzen und Handlungsräume sollten den europäischen Staaten Garant ihrer doch so geschätzten und notwendigen eigenen Identität sein. Die Union sollte sich um all diejenigen Aspekte der unvermeidbar fortschreitenden Globalisierung kümmern, die von keiner grundlegenden Bedeutung für die nationale Identität der Mitgliedstaaten sind. Diese wiederum sollte die Union jedem einzelnen Mitgliedstaat und seinen Bürgern überlassen. Der geeignetste Akteur ist hier das nationale Parlament, das dank demokratischer Wahlen den Willen der jeweiligen Gesellschaft am besten widerspiegelt. Nur dadurch lässt sich ein Mechanismus finden, der die Spannungen zwischen Globalisierung und nationaler Souveränität erfolgreich auflöst.

Dieser Beitrag wurde für das Symposium „Parlamentarismus im Spannungsverhältnis von Globalisierung und nationaler Souveränität“ am 21. November 2018 in Berlin verfasst. In dessen Rahmen wurde Norbert Lammert anlässlich seines 70. Geburtstag am 16. November 2018 gewürdigt.

Bronisław Komorowski, geboren 1952 in Oborniki Śląskie (Polen), 2007 bis 2010 Präsident des Sejm, 2010 bis 2015 Präsident der Republik Polen.

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