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Interview: Europa nach den Bundestagswahlen

von Manfred Weber
von Ralf Thomas Baus

Der Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament: Wie wir unseren "European Way of Life" verteidigen

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Das Jahr 2017 gilt als Schicksalswahljahr für Europa. Bei den französischen Präsidentschaftswahlen Anfang Mai stand die Europäische Union auf dem Spiel. Auch die Wahlen in den Niederlanden, in Großbritannien und in Deutschland waren von besonderer Bedeutung. Können Sie aus der europäischen Perspektive eine Bilanz ziehen?

Manfred Weber: Europa hat im Jahr 2017 wieder Mut gefasst. Europa will wieder gemeinsam vorangehen und das Projekt der europäischen Integration weiterführen. Der wichtigste Erfolg ist die Schicksalswahl in Frankreich, der Kampf gegen den Rechtspopulismus und Nationalismus, den Emmanuel Macron in beeindruckender Art und Weise gewonnen hat. Frankreich und die Franzosen haben sich mit großer Mehrheit für die Partnerschaft und das Miteinander entschieden. Europa ist zurück!

Wie haben Sie dieses Schicksalswahljahr in der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) erlebt und welche Ziele verfolgen Sie in der Fraktion?

Manfred Weber: In der EVP-Fraktion ist es unser wichtigstes Ziel, konkrete Ergebnisse zu liefern. Wir werden die Menschen von Europa und von der europäischen Idee nur überzeugen, wenn wir in der Sache Fortschritte erreichen. Diese Sacharbeit steht bei uns im Mittelpunkt der Debatte und unserer Arbeit.

Die Auseinandersetzung mit den Populisten ist für uns in Brüssel nichts Neues. Ein Drittel der Abgeordneten im Europäischen Parlament sind als rechts-, linksradikal oder populistisch-antieuropäisch einzustufen. Die Verhältnisse, die wir jetzt in Deutschland haben, kennen wir auf europäischer Ebene schon seit Jahren. Unsere zentrale Aufgabe ist es, in der Sache Antworten zu geben.

Die Wahlen in diesem Jahr haben gezeigt, dass die Feinde Europas in vielen Ländern auf dem Vormarsch sind. Was halten Sie von der Aussage, dass der Einzug der Alternative für Deutschland (AfD) in den Deutschen Bundestag eine Art „Normalisierung“ in der deutschen Parteienlandschaft sei?

Manfred Weber: Im Vergleich zu unseren europäischen Partnern war das Fernbleiben einer rechtspopulistischen, in Teilen rechtsradikalen Partei der Ausnahmefall in der Europäischen Union. Aber klar ist, dass sich CDU und CSU in Deutschland und die Europäische Volkspartei in Europa mit dieser „Normalität“ nicht abfinden dürfen. Wir müssen deshalb jetzt Antworten darauf geben, das heißt, die Sorgen der Menschen aufgreifen.

Der Präsident des Jüdischen Weltkongresses bezeichnete den Einzug der AfD in den Bundestag als „verabscheuungswürdig“. Wird das Wahlergebnis der Af D dem Ansehen Deutschlands in Europa und der Welt schaden?

Manfred Weber: Das hängt auch davon ab, wie die AfD sich verhalten und auftreten wird. Teile der AfD haben einen deutlich rechtsradikalen Hintergrund. Diese Kräfte werden dem Ansehen Deutschlands schaden.

Unabhängig davon dürfen wir die Wähler nicht verunglimpfen und beschimpfen. Sie haben mit diesem Wahlergebnis ihre Sorgen geäußert, und diese Sorgen müssen in einer Demokratie ernst genommen werden. CDU und CSU haben jetzt die historische Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der Einzug der Af D in den Bundestag nur ein einmaliger Vorfall war. Wir müssen die Weichen stellen, um dies bei der nächsten Wahl wieder rückgängig zu machen.

Nach der Bundestagswahl scheint in der jetzigen Situation nur ein Regierungsbündnis möglich zu sein: das sogenannte Jamaikabündnis. Halten Sie eine solche Koalition für realistisch?

Manfred Weber: Ja! Bei allen Bedenken sehe ich viele Chancen, die ein solches Bündnis verkörpert. In der Frage der Zukunftstechnologien, wie zum Beispiel in der Automobilindustrie, könnte eine solche Koalition einen Kompromiss zwischen den Bestandstechnologien wie den Dieselmotoren und einem mutigen Übergang zur Elektromobilität aushandeln.

Wir sollten uns von dem Gegensatz – der eine will das, der andere jenes – befreien. Die große Industrienation Deutschland kann beides zusammenbringen. In einer Jamaikakoalition kann es uns gelingen, Gräben in unserer Gesellschaft zu überwinden. Deshalb gehe ich an diese Aufgabe, die sicher eine fordernde ist, mit Optimismus heran und wünsche mir, dass sich alle konstruktiv darauf einlassen. Eine Wunschkonstellation ist Jamaika aber bestimmt nicht.

Sie haben kürzlich in einem Interview gesagt, es gehe heute nicht mehr um eine deutsche, sondern um eine europäische Leitkultur. Was ist damit gemeint?

Manfred Weber: Die Frage der Identität formulieren wir durch diese Leitkulturdebatte, aber sie ist ein europaweites Thema. Die Frage nach der Identität bewegt und beunruhigt die Menschen, weil sie Angst haben, dass wir unsere Identität, unsere Art, in der Gesellschaft zusammenzuleben, verlieren könnten.

Wenn man sich die Frage stellt, was diese Identität heute ausmacht, dann sprechen wir beispielsweise über Gleichberechtigung von Mann und Frau, über den Rechtsstaat, über das Gewaltmonopol des Staates. Das sind Prinzipien, die nicht einer spezifisch deutschen Leitkultur entsprechen, sondern in Österreich, in Frankreich und in Ungarn genauso gelten.

Deswegen werbe ich um das Verständnis, dass es um die Verteidigung des „European Way of Life“ geht, der europäischen Art zu leben. Wir müssen uns bewusst machen, dass wir diese Werte in einer globalisierten Welt nur verteidigen können, wenn wir mit einer Stimme sprechen und gemeinsam auftreten.

Ich mache das an einem Beispiel fest: Wir haben in Europa das Verständnis, dass Wirtschaft und Soziales zusammengehören – wir sprechen von der Sozialen Marktwirtschaft. Dieses Denken gibt es beispielsweise in Amerika, in China und in Südamerika nicht. Dies bedeutet, es handelt sich um eine europäische Idee, eine europäische Erfindung, die wir auf dem ganzen Kontinent, sicherlich mit unterschiedlichen Niveaus, durchgesetzt haben. Wir werden feststellen, dass wir in einer globalisierten Welt unsere Soziale Marktwirtschaft nur verteidigen können, wenn wir gemeinsam auftreten, als ein Wirtschaftsblock, der dazu in der Lage ist, globale Standards zu setzen.

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat sich in einer viel beachteten Rede im September 2017 für eine Vertiefung der Europäischen Union im kommenden Jahrzehnt ausgesprochen. Die Union sei „zu langsam, zu schwach und zu ineffizient“. Wie stehen Sie zu den Vorschlägen Macrons?

Manfred Weber: Ein französischer Präsident, der seinen Wahlsieg im Hof des Louvre zu den Klängen der europäischen Hymne von Beethoven feiert und der nun eine solche Rede hält, ist positiv für unseren Kontinent. Die Wahl Macrons und seine Rede signalisieren einen Aufbruch, deswegen freue ich mich über diese Rede. Nichtsdestotrotz muss sie in der Sache analysiert werden.

Es gibt verschiedenste Ideen für die Weiterentwicklung der Europäischen Union, aber die Grundbotschaft ist: Mut haben und Europa als Möglichkeit sehen, starke Nationen zu erhalten. Die Europäische Volkspartei und die CDU und CSU verstehen Europa nicht als Konkurrenz zum Nationalstaat, sondern ein starkes Deutschland, eine starke Nation kann in der globalisierten Welt nur in einem starken Europa Bestand haben. Beides gehört zusammen.

Seit November 2016 sind Sie Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK). Sie bringen damit auch ein Grundverständnis Ihrer politischen Haltung zum Ausdruck. Ist Europa aus Ihrer Sicht ein christlicher Kontinent?

Manfred Weber: Absolut! Wenn Sie heute, wenn ich es in einem Bild formulieren darf, über Europa fliegen, dann werden Sie eine enorme Vielfalt der Kulturen, der Sprachen, der Verhaltensweisen feststellen. Aber Sie werden auch eine Gemeinsamkeit feststellen: Mit wenigen Ausnahmen steht in der Mitte jedes Dorfes, jeder Stadt eine christliche Kirche.

Die DNA dieses Kontinents ist die christliche Grundprägung. Unser gesamtes Zusammenleben, so, wie wir heute unsere Gesellschaft verstehen, wäre ohne Christentum unmöglich; Solidarität, Subsidiarität, die Frage der Glaubenstoleranz wären ohne das Christentum nicht denkbar. Dieser Kontinent sollte sich dessen bewusst sein, und er sollte auch stolz darauf sein. Das ist keine Ausgrenzung, weil die Glaubensfreiheit und die Trennung von Staat und Religion zu den Grundprinzipien Europas gehören. Aber das Bewusstsein, wo wir herkommen, ist wichtig, um in die Zukunft zu gehen.

Welche Aufgaben nehmen Sie im ZdK wahr? Gibt es Ideen, wie Christen sich in Europa zusammenschließen und nach außen sichtbarer werden könnten?

Manfred Weber: In Europa sind über fünfzig Prozent der Bürger Katholiken. Wenn man die weiteren christlichen Glaubensrichtungen dazu nimmt, sind fast zwei Drittel der Europäer Christen. Ich würde mir wünschen, dass wir als Christen – und vor allem als Katholiken – Europa als Gestaltungsebene sehen und nicht als Projektionsfläche für Negatives.

Ich nenne Ihnen ein konkretes Beispiel: Wir haben in Europa das Recht, die Arbeitszeitgestaltung zu regulieren. Ich würde mir wünschen, dass die Christen in Europa eine Initiative zum Sonntagsschutz starten. Wenn die europäischen Christen sich für ihre Themen engagieren, dann sind wir in Brüssel eine Macht und können das, was uns wichtig ist, mitgestalten. Die demokratische Ebene Europas als Gestaltungsebene zu sehen, ist mein wichtigstes Anliegen.

Wie beurteilen Sie die Lage in der Türkei, und sollte man die Beitrittsgespräche beenden?

Manfred Weber: Die Türkei entfernt sich mit großen Schritten von Europa und den europäischen Grundwerten. Dies ist tragisch, weil nach dem Putschversuch der Militärs Demokratie und Freiheit von den Menschen auf der Straße und den Abgeordneten im Parlament mutig verteidigt wurden. Nun passiert das Gegenteil von dem, was man verteidigt hat.

Europa muss einen Neustart in den Beziehungen zur Türkei vollziehen. Jeder weiß, dass eine Vollmitgliedschaft der Türkei nicht möglich und auch für beide Seiten keine Lösung ist. Ich würde sogar so weit gehen, dass die bisherigen Beitrittsgespräche, die Gerhard Schröder unter einer rotgrünen Regierung begonnen hat, mehr Schaden verursacht als Nutzen gebracht haben. In der Türkei existiert das Gefühl, die Europäer nähmen die Beitrittsverhandlungen nicht ernst. In Europa herrscht umgekehrt das Gefühl, man werde mit einem Beitritt der Türkei überfordert. Dies bedeutet: Auf beiden Seiten sind durch die Beitrittsverhandlungen die negativen Kräfte gestärkt worden.

Der richtige Weg ist es, mit der Türkei in einzelnen Themenfeldern zusammenzuarbeiten, und zwar dort, wo es für beide Seiten einen Vorteil gibt – so, wie wir es beim Flüchtlingsabkommen praktizieren; dadurch entsteht dauerhaftes Vertrauen. Die Beitrittsgespräche müssen jetzt beendet werden. Wir müssen der Türkei aber zugleich ein Angebot der verstärkten Zusammenarbeit in einer privilegierten Partnerschaft machen.

Ist die Türkei nach Ihrer Einschätzung noch eine Demokratie?

Manfred Weber: Die Türkei entfernt sich von der Demokratie und entwickelt sich zu einem autoritären System, das auf Erdoğan ausgerichtet ist. Die Unabhängigkeit der Justiz und damit die Grundprinzipien eines Rechtsstaats wurden ausgehöhlt, vor allem durch die Säuberungsaktionen auf der Beamtenebene. Die Unabhängigkeit der Medien, auf die wir massive Angriffe erlebt haben, ist ebenfalls fester Bestandteil einer Demokratie. All diese Punkte zusammengenommen sind besorgniserregend. Europa kann jetzt nicht „Weiter so“ sagen, sondern muss ein klares Signal setzen!

Die vierte Brexit-Verhandlungsrunde hat nur wenige Fortschritte gebracht. Ein Abkommen über den Brexit ist ohne das Europäische Parlament nicht möglich. Welche Rolle kann das Europäische Parlament in dem Verhandlungsprozess spielen?

Manfred Weber: Das Europäische Parlament ist der Wächter der Interessen der EU-Bürger. Ich sage klar, dass seit dem Brexit nicht mehr die britischen Interessen unsere Maßgabe sind, sondern die Interessen von 440 Millionen Europäern. Das bedeutet, dass ein Brexit-Austrittsvertrag nur unsere Zustimmung finden wird, wenn die Interessen der EU-Bürger berücksichtigt sind.

Dabei geht es um drei Punkte: Wir müssen verhindern, dass Irland mehr gespalten wird mit Nordirland an der neuen EU-Außengrenze. Wir müssen als Zweites sicherstellen, dass alle EU-Bürger, die in Großbritannien leben, dies ohne Einschränkung ihrer Rechte auch weiter und dauerhaft tun können. Wir müssen klarstellen: Wenn jemand den Club verlässt, muss er seine Austrittsrechnungen bezahlen. Das sind die drei Grundprinzipien, die wir diskutieren.

Im Hinblick auf 2019 ist dann wichtig: Wir werden achtgeben, dass ein Land, das die EU verlässt, nicht gleiche oder vielleicht sogar bessere Bedingungen und Standards hat als ein Land, das Mitglied der Union ist. Es darf keine Rosinenpickerei der Briten geben, und darauf wird das Europäische Parlament achten.

Im Jahr 2019 findet die neunte Direktwahl zum Europäischen Parlament statt. Welche Signale möchten Sie mit dieser Europawahl aussenden?

Manfred Weber: Wir brauchen nach der ersten erfolgreichen Wahl eines Kommissionspräsidenten durch die Bürger, also nach Umsetzung des Spitzenkandidatenkonzeptes, die Ergänzung um eine europaweite Kampagne. Das heißt, wir brauchen 2019 eine echte europäische Demokratie. Bisher haben wir nur 28 nationale Kampagnen bei der Europawahl. Es muss uns gelingen, beim nächsten Mal den Europäern Themen als Europäische Volkspartei vorzulegen, die ganz Europa bewegen, die für ganz Europa wichtig sind.

Mit der Europawahl 2019 wollen wir als Europäische Volkspartei ein Reformmandat erreichen. Die Menschen sollen darüber entscheiden, wie dieses Reformpaket aussieht. Das wäre mein Wunsch. Dahinter steht die Hoffnung, bis 2019 in Sachfragen wie etwa beim Kampf gegen den Terror, bei der Migration und bei der Wirtschaftssituation so erfolgreich zu sein, dass die Menschen vom Projekt Europa überzeugt sind. Das Zweite ist, dass wir Bilder für morgen aufbauen, dass wir Orientierung für morgen geben, wo die Menschen sagen, das ist unsere Zukunft, denn nur ein starkes Europa kann auch starke Nationen ermöglichen.

Das Interview führte Ralf Thomas Baus am 29. September 2017.

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Manfred Weber, geboren 1972 in Niederhatzkofen (Landkreis Landshut), seit 2004 Mitglied des Europäischen Parlaments, seit 2014 Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, seit 2015 Stellvertretender Parteivorsitzender der CSU.

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