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Interview: Menschen in Not helfen

von Gerhard Wittmann

Gerhard Wittmann, Fachbereichsleiter Flugbetrieb der ADAC Luftrettung, über die "gelben Engel" im Einsatz

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Welche Aufgaben nimmt die ADAC Luftrettung wahr?

Gerhard Wittmann: Die ADAC Luftrettung ist Bestandteil des öffentlich-rechtlichen Rettungsdienstsystems und betreibt die Durchführung von Luftrettungseinsätzen, die in der Regel um 07.00 Uhr beginnen und bis zum Sonnenuntergang andauern. Wir sind ein sogenannter integrierter Dienstleister. Wir stellen den Hubschrauber, den Piloten, den Windenbediener, wenn er benötigt wird, und natürlich die medizinische Crew, bestehend aus Notarzt und Notfallsanitäter (TC HEMS) [TC HEMS = Helicopter Emergency Medical Services Technical Crew Member, Anm. d. R.]. Wir stellen damit ein Komplettpaket für den Auftraggeber – das sind meistens die Zweckverbände für Rettungsdienst und Feuerwehralarmierung – zur Verfügung.

Wie viele Rettungseinsätze fliegt die ADAC Luftrettung pro Jahr?

Gerhard Wittmann: 2018 hat die ADAC Luftrettung gGmbH 54.356 Rettungseinsätze geflogen. Ende März war es übrigens ihr 1.000.000ster Einsatz seit 1970. Stationen gibt es in ganz Deutschland; eine Station betreiben wir gemeinsam mit dem Österreichischen Automobil-, Motorrad- und Touring Club (ÖAMTC) in Suben an der deutsch-österreichischen Grenze. Wir fliegen auf der Station im Winterhalbjahr, und der ÖAMTC betreibt sie im Sommerhalbjahr. Ärzte und Rettungsfachpersonal kommen jeweils zur Hälfte aus beiden Ländern.

Wir betreiben 36 ADAC Luftrettungsstationen, weitere Luftrettungsbetreiber sind die DRF Luftrettung [Deutsche Rettungsflugwacht e. V., Anm. d. R.] und das Bundesinnenministerium mit den Bundespolizeihubschraubern.

Für welche Einsätze wird die ADAC Luftrettung überwiegend eingesetzt?

Gerhard Wittmann: Zu achtzig Prozent werden wir zu sogenannten Primäreinsätzen gerufen, also zu Rettungseinsätzen an einem Notfallort. Dann haben wir ungefähr elf Prozent Fehleinsätze, der Rest sind Sekundär-, also Interhospitaltransfers.

Die Primäreinsätze setzen sich mittlerweile zu 48 Prozent aus internistischen Notfällen zusammen. Hinzu kommen Freizeitunfälle, Sport- und häusliche Unfälle und elf Prozent neurologische Unfälle. Die Verkehrsunfälle, mit denen wir in den 1970er-Jahren begonnen haben, machen nur noch elf Prozent aus. Tatsächlich war das früher anders. Ich bin seit 27 Jahren bei der ADAC Luftrettung, und 1992 betrug der Anteil der Rettungseinsätze bei Verkehrsunfällen noch etwa vierzig Prozent. Das hat sich deutlich gewandelt aufgrund der Fahrzeugsicherheit, für die der ADAC und natürlich auch die Autohersteller viel getan haben. Insofern ist der Bereich Autounfälle heute recht klein. Darüber hinaus haben wir noch Arbeits- und sonstige chirurgische Notfälle.

Wie ist eine Luftrettungsstation ausgerüstet?

Gerhard Wittmann: Das kommt ganz darauf an. Wir haben kleinere und größere Stationen. Einige Luftrettungsstationen sind mit zwei Hubschraubern ausgestattet. In jeder Station gibt es einen Einsatzwachraum. Dort befinden sich die Alarmierungsgeräte: Fax, Telefone, Pieper und Computer, wo wir die Einsätze dokumentieren. Von diesem Einsatzwachraum aus haben wir den Hubschrauber immer im Blick.

Es gibt auch einen Aufenthaltsraum, eine Küche und Ruheräume. Damit wir die langen Tage im Sommer von 07.00 bis 21.40 Uhr ohne zeit- und kostenintensiven Schichtdienst durchführen können, brauchen wir Ruheräume für Pilot, TC HEMS (oder Notfallsanitäter), aber auch für den Arzt. Daneben brauchen wir auf der Station einen Desinfektionsraum, einen Trockenraum, medizinische Lager, Lager für technische Geräte, einen Putzraum, ein Sauerstoff- und ein Gefahrstofflager. Außerdem haben wir noch einen Tank. Wir müssen nach den Einsätzen den Hubschrauber auftanken; dafür gibt es eine Tankanlage mit einem Fassungsvermögen von 20.000 bis 50.000 Litern.

Wie läuft ein Rettungseinsatz ab? Wie muss man sich das vorstellen? Sie werden alarmiert, und dann?

Gerhard Wittmann: In der Regel tragen alle Besatzungsmitglieder einen Pieper. Die Rettungsleitstelle alarmiert uns hierüber. Gleichzeitig bekommen wir auf den meisten Stationen per Funk bereits erste Informationen zum Einsatz. Der Pilot läuft, sobald der Pieper Alarm gibt, zum Hubschrauber und lässt die Triebwerke an, damit wir in rund zwei Minuten starten können. Der Notfallsanitäter wartet eventuell noch auf ein Fax, der Arzt geht, wenn er gleich da ist, mit zum Hubschrauber und überwacht den Anlassvorgang, sonst macht das der TC HEMS.

Nach etwa anderthalb Minuten hat der Pilot die Triebwerke gestartet, der Arzt steigt ein, der Notfallsanitäter geht noch einmal um den Hubschrauber, schaut, ob alle Türen, Klappen, Kabel wirklich frei sind, und steigt ein. Danach gehen wir eine kurze Checkliste durch. Meistens weiß der TC HEMS dann schon, in welche Richtung es geht, oder aber uns wurden – manche Leitstellen sind sehr modern – die Daten des Einsatzortes bereits auf unser Navigationsgerät übermittelt. Wenn das der Fall ist, sehe ich bereits auf dem Navigationsgerät den Notfallort und kann mich daran orientieren. Dann geht es in die Luft. Wir fliegen in etwa 500 bis 1.000 Fuß Höhe, das sind 150 bis 300 Meter.

An Notfallstellen müssen wir immer wieder nach einer geeigneten Landestelle suchen. Manchmal haben wir schnell Erfolg, manchmal auch nicht. Wir müssen schauen, dass wir die medizinische Besatzung, den Arzt und den Notfallsanitäter, so nahe wie möglich an die Unfallstelle bringen, damit wenig Zeit verlorengeht, aber es darf auch sonst nichts passieren.

Wir landen bei 54.000 Einsätzen sehr häufig auf engsten Raum, an Landestellen, wo wir vorher noch nie waren. Der Hubschrauber hat, je nach Umgebungsbedingung, einen starken „Downwash“ (Abwind). Dort, wo wir landen, befinden sich sehr häufig auch Personen, es fahren Autos auf den Straßen, auf denen wir landen müssen. Da muss man genau aufpassen und mit höchster Achtsamkeit und Konzentration fliegen. Wenn wir einen entsprechend geeigneten Landeplatz finden, landen wir.

Bis der Pilot den Hubschrauber abgestellt hat, das dauert knapp eine Minute, muss der Notfallsanitäter noch vor Ort bleiben, um den Hubschrauber abzusichern. In solchen Fällen läuft der Arzt schon zum Notfallort, der Notfallsanitäter kommt nach. Häufig gelingt es den Piloten, den Hubschrauber so zu landen, dass der Notfallsanitäter gleichzeitig mit dem Arzt zum Patienten gehen kann, weil der Hubschrauber in einem abgesicherten Bereich (durch Polizei, Feuerwehr, THW) steht.

Was passiert, wenn Sie an der Unfallstelle gelandet sind?

Gerhard Wittmann: Als Erstes behandelt der Notarzt, die Notärztin den Patienten. Meist wird parallel zum Hubschrauber ein Rettungswagen ohne Notarzt alarmiert. Der Hubschraubernotarzt entscheidet nach der Behandlung, ob der Patient geflogen wird oder ob er mit dem Rettungswagen transportiert werden kann. Hubschraubertransporte sind sehr schnell, und die Erschütterungen sind deutlich geringer als die eines Fahrzeugs, das über Wege und Straßen fahren muss.

Die Notfallstellen liegen ja nicht immer in leicht zugänglichen Bereichen. In der Regel benötigt der Rettungswagen meist doppelt so lange zum Krankenhaus, es sei denn, es befindet sich eines in unmittelbarer Nähe. Anderenfalls muss man mindestens die doppelte Fahrzeit rechnen. Nach diesen Kriterien wird entschieden, ob geflogen wird oder nicht. Je nachdem, wie weit der Hubschrauber vom Notfallort entfernt ist, tragen wir den Patienten auf der Trage, oder der Rettungswagen transportiert den Patienten zum Hubschrauber. Anschließend wird das Krankenhaus angeflogen, das die Rettungsleitstelle für uns ausgewählt hat. Wir teilen der Leitstelle das Meldebild mit, und sie entscheidet, welches Krankenhaus geeignet ist und die Kapazität hat, den Patienten aufzunehmen. Speziell in den Sommermonaten erleben wir immer wieder, dass Krankenhäuser eine Aufnahme aufgrund von Überlastung und fehlender Kapazitäten ablehnen. In solchen Fällen müssen wir eine Zwangsbelegung „durchdrücken“.

Sind die Notärzte haupt- oder nebenberuflich für die ADAC Luftrettung tätig?

Gerhard Wittmann: Die Notärzte und -ärztinnen bei der ADAC Luftrettung kommen aus Fachgebieten mit einem unmittelbaren Bezug zur Notfall- und Intensivmedizin (Anästhesie, Innere Medizin und Chirurgie). Sie sind hauptberuflich in großen Kliniken der jeweiligen Region tätig, um den Bezug zu den operativen Abläufen in der Akutmedizin und einen aktuellen Wissensstand über notfall- und intensivmedizinische Weiterentwicklungen zu garantieren. Wir sind in Deutschland zumeist in der Nähe von Kliniken stationiert; im Ausland ist das nicht unbedingt der Fall. Da sitzen viele Rettungshubschrauber-Stationen auf der grünen Wiese. Bei uns hat es sich historisch so entwickelt.

Kommen die Ärzte wochenweise zu ihren Einsätzen?

Gerhard Wittmann: Nein, sie kommen tageweise. Zwischen zehn und fünfzehn Ärzte fliegen auf einer Station. Die Normalstation setzt sich aus drei Piloten, die bei der ADAC Luftrettung fest angestellt sind, und aus vier bis sieben TC HEMS, also Notfallsanitätern, zusammen. Mittlerweile sind viele Notfallsanitäter fest bei der ADAC Luftrettung angestellt. Wir haben jedoch auch feste Verträge mit Hilfsorganisationen wie Feuerwehr, Rotem Kreuz, Malteserhilfsdienst, über die wir in Arbeitnehmerüberlassung Notfallsanitäter einsetzen. Die Ärzte kommen – wie eben schon gesagt – meistens von den Kliniken.

Was motiviert Sie persönlich für Ihre Arbeit?

Gerhard Wittmann: Menschen in Not zu helfen, motiviert mich. Mir wurden christliche Werte in meiner Kindheit und Jugend vermittelt, die mich überzeugt haben. Nächstenliebe und altruistisches Handeln ist mir schon immer gegeben. Bevor ich zur ADAC Luftrettung gewechselt bin, war ich Polizist und Pilot bei der Polizeihubschrauberstaffel Bayern. Ich habe mich dann 1992 entschieden, von der Polizei zur ADAC Luftrettung zu wechseln, weil mir die Nächstenliebe, das Helfen sehr wichtig war und die Hilfe im Rettungsdienst unmittelbarer am Menschen ist als die Polizeiarbeit mit dem Hubschrauber.

Wie und wodurch werden Gemeinsinn und Zusammenhalt in Ihrem Arbeitsalltag sichtbar und gelebt?

Gerhard Wittmann: Die Besatzung startet in der Früh mit dem sogenannten „Daily Briefing“. Es geht dabei um die sogenannte I’m-Safe-Regel: Illness Medication, Stress, Alkohol, Fatigue, Emotions, also diese ganzen „Wie geht es mir?“-Fragen. Da darf, soll, muss sich jeder äußern, damit wir wissen, wo unser Team in Bezug auf Leistungsfähigkeit steht.

Im Anschluss daran wird meistens gemeinsam gefrühstückt, und Themen, die uns und den Tagesablauf betreffen, werden besprochen. Die ganzen Checks, die ich vorhin angesprochen habe, werden gemeinsam durchgeführt, aber auch Hubschrauber waschen und die gemeinsame Abarbeitung der Einsätze. Jeder hilft jedem. Ich stehe, falls erforderlich, für die medizinische Besatzung zur Verfügung, wenn sie am Notfallort noch irgendetwas braucht. Ich halte Infusionen, unterstütze bei Reanimationen und nehme während der Versorgung schon mal die Patientendaten auf. Nach dem Einsatzende dokumentieren wir die Einsätze gemeinsam. Nach besonders belastenden Einsätzen oder bei besonderen Vorkommnissen führen wir regelmäßig gemeinsame Debriefings, also Nachbesprechungen, durch.

Während eines Einsatztages ist die Besatzung zwar nicht immer, aber meistens zusammen. Wir arbeiten im Team und tauschen aktuelle Informationen aus. Als Pilot gebe ich beispielsweise die aktuellen Wetterinformationen oder die aktuellen Flugsicherheitsinformationen weiter.

Alle Stationsmitarbeiter beteiligen sich auch an gemeinsamen Ausflügen, die zwar nicht wöchentlich, aber in einem bestimmten Zeitabstand durchgeführt werden. Stationsveranstaltungen, wie Stations- und Jahresabschlussfeiern, stärken den Gemeinschaftssinn, der sich im Einsatz und in der Freizeit zeigt.

Sind Sie neben Ihrer Aufgabe als Fachbereichsleiter Flugbetrieb auch noch aktiv in eine Station mit eingebunden?

Gerhard Wittmann: Ja, wenn auch leider nicht mehr so häufig. Ich habe in der ADAC Luftrettung eine „klassische“ Karriere absolviert. Im Jahr 1992 habe ich als Stationspilot in Ingolstadt angefangen. Nach ein paar Jahren wurde ich Stationsleiter, dann Regionalleiter, dann stellvertretender Fachbereichsleiter. Mittlerweile bin ich bereits seit zehn Jahren Fachbereichsleiter. Seit 1998 bin ich ein „Type Rating Examiner“. In dieser Funktion nehme ich den Piloten die halbjährlich geforderten Checkflüge ab. Ich fliege regelmäßig – wenn auch seltener – auf Station, weil es aus meiner Sicht wichtig ist, immer wieder den Finger am Puls der Zeit zu haben, um zu sehen, welche Bedürfnisse die Mitarbeiter haben.

In welcher Station sind Sie dann?

Gerhard Wittmann: Ich fliege hauptsächlich noch an drei Stationen. In Ingolstadt, wo ich vor vielen Jahren bei der ADAC Luftrettung gGmbH angefangen habe, sowie in München und Murnau, um meine Windenberechtigung aufrechtzuerhalten. Ich habe die Berechtigung, mit einer Rettungswinde zu fliegen, schon seit 1994. Von der Zentrale der ADAC Luftrettung gGmbH in München ist der Weg zu den Rettungs-Transport-Hubschrauber(RTH)-Stationen in München-Harlaching und nach Murnau nicht so weit.

Was gefällt Ihnen an Ihrem Engagement am meisten? Was bekommen Sie durch Ihr Engagement zurück?

Gerhard Wittmann: Menschen zu helfen – das habe ich schon angesprochen –, ist das Schönste an meinem Beruf. Leben zu retten, Leid zu mindern und Hilfe zu geben, ist sehr erfüllend und befriedigend. Natürlich habe ich schon sehr viele schlimme Dinge erlebt, aber auch ganz viele tolle und schöne. Ich kann wirklich behaupten, dass wir im Team tatsächlich Leben gerettet haben. Natürlich machen wir das nicht jeden Tag. Ein Leben zu retten, ist nichts Alltägliches, auch nicht bei so vielen Einsätzen. Ich sage ja, wir haben vor wenigen Tagen den 1.000.000sten Einsatz geflogen.

Am eindrücklichsten in Erinnerung geblieben ist ein Einsatz vor vielen Jahren, bei dem ein Säugling nach einem Verkehrsunfall reanimiert werden musste. Mit zwei Fingern wurde das Mädchen erfolgreich reanimiert und lebt heute ganz gesund. Die Dankbarkeit der Menschen nach unserer Hilfeleistung ist sehr erfüllend und befriedigend.

Was bekomme ich zurück? Dankbarkeit, Unterstützung, Zufriedenheit, aber auch Demut. Zu sehen, wie wertvoll, wie kostbar und wie leicht verletzlich unser Leben ist. Das unmittelbar zu erleben, ist ein Geschenk.

Gerhard Wittmann, geboren 1962 in Schwandorf (Bayern), Fachbereichsleiter Flugbetrieb der gemeinnützigen ADAC Luftrettung.

Das Gespräch führte Ralf Thomas Baus am 5. April 2019.

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