Asset-Herausgeber

von Christian Bermes

Politische Sprache und die Illusion der Unmittelbarkeit

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Das Motto der gerade vergangenen Digitalkonferenz 2019 re:publica „tl;dr – too long; didn’t read“ hat auf die Schattenseiten von Verkürzungen in der digitalen Kommunikation hingewiesen. Verknappung und Komprimierung von Inhalten sind sicherlich nicht immer einfach zu handhaben und können einerseits zu gefährlichen Missverständnissen führen. Andererseits ist sprachliche Verdichtung nicht nur ein wichtiges Werkzeug der Politik. Im Journalismus, in einer lebendigen Rhetorik, ja selbst in der Wissenschaft ist dieses Mittel ebenso von Bedeutung, nicht nur, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, sondern auch, um Prägnanz und Anschlussfähigkeit zu ermöglichen. Doch jenseits von sich steigernden Tendenzen sprachlicher Verkürzung, die bis hin zur bloß affektiven Symbolisierung in der digitalen Kommunikation reichen können, ist die gegenwärtige Situation nicht ausschließlich durch Verkürzungen, sondern ebenfalls durch Kurzschlussillusionen ausgezeichnet. Kurzschlussillusionen liegen vor, wenn Unmittelbarkeit suggeriert – vielleicht auch propagiert – wird, jedoch nur Vermittlung zum Ziel führen kann. Es ist ein Merkmal nicht weniger Kommunikationspraktiken in digitalen Medien sowie im Kontext populistischer Tendenzen zeitgenössischer Politik, anstelle von Vermittlung die Illusion von Unmittelbarkeit zu erzeugen.

Unmittelbarkeit jedoch ist kein Merkmal einer Sprach- und Debattenkultur in einer liberalen demokratischen Ordnung. Denn der Sprache kommt grundsätzlich die Funktion der Vermittlung zu – und die politische Sprache hat eine ganz besondere Vermittlungsaufgabe zu meistern, weshalb auch die Reflexion auf die politische Sprache seit der Antike bei Platon und Aristoteles über die Neuzeit bis hin zur Gegenwart kein bloßes Beiwerk der politischen Theorie ist, sondern einen elementaren Bestandteil der politischen Praxis ausmacht. Denn politisches Handeln wird nicht einfach durch die Sprache begleitet, sondern realisiert sich in derselben. Dabei steht die politische Sprache nicht erst seit heute, sondern grundsätzlich unter einer besonderen Herausforderung: Unter der Bedingung von Unsicherheit soll Verbindlichkeit erzielt werden. Angesichts divergierender Interessen, einer Pluralität von Handlungsoptionen und einer Vielzahl von Stimmen und Stellungnahmen ist es das Ziel, Verbindlichkeiten in und durch Verständigung zu erlangen. Auch wenn solche Verbindlichkeiten ihrerseits über längere Zeit im gesellschaftlichen Prozess provisorischen Charakter besitzen, ändert dies nichts an dem Grad ihrer Verpflichtung, der in und mit der jeweiligen Verständigung erzielt wird. Die Sprache ist das einzige Mittel – wenn man von Zwang und Gewalt absieht –, das Menschen zur Verfügung steht, um diese Spannung zwischen Unsicherheit und Verbindlichkeit zu moderieren oder zu vermitteln.

Prekäres Medium der Verständigung

Gegenwärtig rückt die Funktion der öffentlichen und politischen Sprache mit besonderer Vehemenz in das Zentrum der öffentlichen Diskussion. Hate Speech, Filterblasen, alternative Fakten auf der einen Seite und Framing oder das gezielte Manipulieren der Sprache durch umgewertete Begriffe und Symbole auf der anderen Seite lassen es gegenwärtig fraglich erscheinen, ob Verständigung noch möglich ist, wenn das Medium der Verständigung selbst prekär geworden ist. Die politische und öffentliche Sprache scheint in diesem Sinne ihre Selbstverständlichkeit der Vermittlung verloren zu haben; und die Struktur einer gelingenden Debattenkultur scheint fraglich geworden zu sein, weil Direktheit, Authentizität oder Unmittelbarkeit zum Prinzip erhoben werden. Durs Grünbein hat in einem Essay kürzlich auf die komplexe Gemengelage verwiesen: „Zu konstatieren ist eine Radikalisierung des öffentlichen Sprechens, zwischen den Nationen wie im Umfeld jedes Einzelnen, im Streit der Parteien wie in den Kneipen, im Parlament wie auf der Straße. Da ist zum einen der Gebrauch herabsetzender Formeln für den politischen Gegner, die Diskriminierung von Menschengruppen, die in ihrer Schwäche zu Opfern der Weltpolitik werden. Da ist zum anderen aber auch ein allgemeiner Verfall der ethischen Standards, eine Versumpfung der Sprache in den Boulevardblättern wie in den sozialen Netzwerken. Jeder beklagt das mittlerweile, aber keiner kennt das Rezept, herauszufinden aus diesem Labyrinth.“

In Zeiten „verschärfter Rhetorik“, so Grünbein weiter, sei auch unklar geworden, wie mit dem Befund umgegangen werden kann, wie und wo Lösungen zu suchen sind: „Journalisten tappen im Dunkeln, gebildete Zeitgenossen, eben noch cool und mit allen Wassern gewaschen, fragen sich, was da los ist. Die meisten sind ohne Kompass, kreiseln verwirrt in alle Richtungen, kein Gespräch, in dem die Verunsicherung nicht um sich greift. Denn nun rächt es sich, dass der Lateinunterricht abgeschafft ist, die Rechtslage ungeklärt, die Grundregeln einer Demokratie unbekannt und niemand mehr Vergleichsmöglichkeiten hat und ein inneres, historisch geschultes Ohr“ (Grünbein 2019).

Authentizität statt Legitimation

Sicherlich ist Sprache immer schon durch Wandel ausgezeichnet, und es wäre eine (fatale) Illusion, darauf zu setzen, die Elastizität der Sprache und der Sprachverwendung in der lebendigen Kommunikation einschränken oder fixieren zu wollen. Eine durch Sprache gestiftete politische Öffentlichkeit lässt sich nicht – und zwar grundsätzlich nicht in einer liberalen demokratischen Ordnung – diktieren. Im Gegensatz dazu muss immer um sie gerungen werden – und dies gelingt nur, wenn die Sprache ihre Elastizität behält. Nur dann kann sie ihr zivilisatorisches Potenzial ausspielen.

Nicht zuletzt ist es darum auch eine wichtige Frage, was genau unter der gegenwärtig diagnostizierten „Verrohung“ zu verstehen ist und wie ein „radikalisierter Sprachgebrauch“ beziehungsweise eine „toxische Rhetorik“ identifiziert werden kann (Bermes 2019). Ebenso wichtig ist es, die Rahmenbedingungen in den Blick zu rücken, die dazu führen, dass sich Kurzschlussillusionen der beschriebenen Art Bahn brechen können. Sicherlich spielen gesellschaftliche Entwicklungen ebenso eine Rolle wie die Etablierung und Nutzung neuer Kommunikationstechniken. Doch das Feld ist weiter und vielschichtiger, und die aktuelle Problemlage verweist darauf, dass die Herausforderungen tiefer liegen.

Moderation von Unsicherheit mit Blick auf Verbindlichkeit gelingt im Medium der Sprache, wenn diese nicht auf die Herstellung von Kurzschlüssen reduziert, sondern als ein Medium verstanden wird, das einerseits Vermittlungen fordert und andererseits Umwege eröffnet, die zum Ziel führen. Unmittelbarkeitsphantasien setzen an die Stelle politischer Legitimation ein Versprechen von Authentizität, das erstens in der – politischen und gesellschaftlichen – Praxis nicht einlösbar ist und das zweitens zu Mystifikationen führt.

Der Zauber der Grenzwerte

Grenzwerte und deren quantifizierende Bemessung sind zu einem markanten Bestandteil der politischen Sprache geworden – ob es sich nun um die Erderwärmung im Kontext des Klimawandels, den Schadstoffausstoß von Autos oder Kohlekraftwerken oder auch den Anteil von Zucker und anderen Stoffen in Lebensmitteln handelt. Quantifizierende Vermessungen sozialer, ökonomischer und kultureller Tatbestände durch Leistungsindikatoren oder Rankings bestimmen zusätzlich als „politische Zahlen“ (Schlaudt 2018) die öffentliche und politische Sprache – und Zahlen beziehungsweise Grenzwerte mobilisieren inzwischen auch soziale Bewegungen.

Ulrich Beck hat bereits in den 1980er-Jahren auf eine besondere Ambivalenz der Grenzwerte hingewiesen, wenn diese zwischen Wissenschaft und Politik changieren. Denn Grenzwerte markieren dann nicht einfach nur Schutzschranken, durch die etwas verhindert, abgemildert oder aufgehoben wird; als Grenzwerte sind sie auch „‚Persilscheine‘ dafür, Natur und Menschen ein bißchen zu vergiften. […] Mit Grenzwerten wird zugleich das festzulegende ‚Bißchen‘ Vergiftung Normalität“ (Beck 1987, S. 85 f.). Grenzwerte sind jedoch nicht nur in dieser Hinsicht ambivalent, wenn sie aus dem Sprachspiel der Wissenschaft in das Sprachspiel der Politik Eingang finden; sie suggerieren zugleich Legitimation. Dies ist durchaus problematisch, denn die wissenschaftliche Begründung eines Grenzwerts fällt nicht mit der politischen Rechtfertigung einer Handlungsoption zusammen.

Die – wie man es vielleicht nennen könnte – „Verzahlung“ der politischen Sprache verspricht Legitimation ohne politische Rechtfertigung. Der politische Gesellschaftsvertrag, der sich in der sprachlichen Verständigung immer wieder neu einrichtet und adjustiert, wandelt sich auf diese Art und Weise zu einer Zielvereinbarung, die es zu erfüllen gilt. Politik erscheint dann als Dienstleistung im Kontext einer Zielerfüllung, ohne dass man an der „Bemessung“ der Ziele – die eigentlich eine Bewertung sein müsste – beteiligt wäre. Man wird daraus nicht schließen dürfen, dass unter den Bedingungen der Moderne die quantifizierende Erfassung der sozialen Welt keine Rolle spielen sollte oder es gar ein sinnvolles Ziel sein könnte, sie nicht zu beachten. Das wäre nicht nur illusorisch, sondern in hohem Maße töricht. Doch man wird ebenso darauf hinweisen müssen, dass Zahlen keine Argumente sind und dass der Gesellschaftsvertrag nicht durch ein Spiel mit Zahlen gewonnen, sondern in einer lebendigen Sprache gestiftet wird.

Wie Meinungen zu Dogmen werden

Der beschriebene Positivismus der Quantifizierung provoziert Gegenentwicklungen. Ist die eigentliche politische Legitimation fraglich geworden, wird sie an anderen Stellen gesucht. Es ist der (vermeintlich) authentische Ausdruck in Teilen der modernen Kommunikationsmedien, der dies verspricht.

So, wie sich bereits in dem Konzept des Grenzwertes und dem politischen Gebrauch von Quantifikationen eine Ambivalenz zeigt, so zeigt sich auch in diesem Prozess eine Zweideutigkeit. Die Ambivalenz von Twitter-Meldungen kann hierfür ein Beispiel bieten: „Jede Twitter-Timeline, jeder Instagram-Beitrag legt heute Zeugnis von der kollektiven Verschlagwortung der Welt ab, die in den Sozialen Netzwerken von allen Nutzern betrieben werden kann, als ein schöpferischer Akt, ohne die Einschränkung vorinstallierter Standards oder hierarchisch gestaffelter Zugangsweisen“ (Bernard 2018, S. 8). Die Ambivalenz ist darin zu erkennen, dass die „verstreuten Stimmen zum Ertönen“ gebracht werden und gleichzeitig das getilgt wird, „was an ihnen unverrechenbar ist“ (Bernard 2018, S. 82). Das Unverrechenbare zeigt sich beispielsweise darin, dass eine Meinungsäußerung nicht einfach als eine schlichte mediale Präsentation oder Zur-Schau-Stellung einer Stimmung oder eines plötzlichen Befindens ausgezeichnet ist, sondern eine komplexe Stellungnahme in der Welt bedeutet. Bereits Hannah Arendt hat darauf hingewiesen und das Unverrechenbare einer Meinungsäußerung zumindest in Teilen expliziert: „Eine Meinung bilde ich mir, indem ich eine bestimmte Sache von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachte, indem ich mir die Standpunkte der Abwesenden vergegenwärtige und sie so mitrepräsentiere. Dieser Vergegenwärtigungsprozeß akzeptiert nicht blind bestimmte, mir bekannte, von anderen vertretene Ansichten. Es handelt sich hier weder um Einfühlung noch darum, mit Hilfe der Vorstellungskraft irgendeine Majorität zu ermitteln und sich ihr dann anzuschließen. Vielmehr gilt es, mit Hilfe der Einbildungskraft, aber ohne die eigene Identität aufzugeben, einen Standort in der Welt einzunehmen, der nicht der meinige ist, und mir nun von diesem Standort aus eine eigene Meinung zu bilden“ (Arendt 1994, S. 342).

Meinungen präsentieren nicht einfach etwas, sie repräsentieren in einem komplexen Sinne, indem die Position dessen, der eine Meinung artikuliert, zum Ausdruck kommt und indem immer auch der Horizont, in dem andere Meinungen möglich sind, mit in den Blick gerät. Ein Kurzschluss liegt dann vor, wenn die Authentizität der eigenen Meinung ohne die Repräsentation anderer Meinungen und die Repräsentation der Welt, in der Meinungen anschlussfähig sein können, zum Primat erhoben wird. Dann wandeln sich Meinungen zu Dogmen, und die politische Debatte gleicht eher dem zum Scheitern verurteilten Versuch einer Kommunikation unter (digitalen) Litfaßsäulen.

Meinungsbildung und Medienkompetenz

In und mit den sogenannten sozialen Medien sind die Kommunikationsmöglichkeiten gesteigert und ausgeweitet worden. Dies ist als eine Errungenschaft zu begreifen, die als kulturelle Erfolgsgeschichte bedeutet, dass frühere Begrenzungen der Kommunikation aufgehoben wurden und sich neue Dimensionen von kommunikativer Freiheit ergeben. Wird in diesem Sinne Freiheit möglich, so bedeutet dies immer auch, dass Verantwortung notwendig ist, um die gewonnene Freiheit zu gestalten und sie nicht wieder zu verlieren. Meinungsbildung gelingt dann, wenn Verantwortung für die eigene Meinung übernommen wird, indem das Unverrechenbare der Meinungsäußerung nicht aus dem Blick gerät. Die Mittel, die hierzu zur Verfügung stehen, sind Umsicht, Takt, Urteilskraft und Klugheit. Es sind dies die geradezu klassischen Werkzeuge der Medienkompetenz, die sich auch nicht quantifizieren lassen. Und es sind zugleich die zivilisatorischen Mittel der Kommunikation, die Humanität ermöglichen, indem gefährliche Abkürzungen vermieden werden und an die Stelle von Kurzschlüssen wieder die Kunst tritt, Umwege zu meistern. „Nur wenn wir Umwege einschlagen, können wir existieren. Gingen alle den kürzesten Weg, würde nur einer ankommen“ (Blumenberg 2017, S. 137).

Literatur

Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, Piper Verlag, München/Zürich 1994.

Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 3. Aufl., Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1987.

Bermes, Christian: Wandel der Sprach- und Debattenkultur. Verbindlichkeit – Artikulation – Meinung, Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin 2019.

Bernard, Andreas: Das Diktat des Hashtags. Über ein Prinzip der aktuellen Debattenbildung, S. Fischer Verlage, Frankfurt am Main 2018.

Blumenberg, Hans: Die Sorge geht über den Fluß, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2017. Grünbein, Durs: „Wie aus Sprache Gewalt wird“, in: Die Zeit, Nr. 3/2019, 10.01.2019, S. 39.

Schlaudt, Oliver: Die politischen Zahlen. Über Quantifizierung im Neoliberalismus, Klostermann (Rote Reihe), Frankfurt am Main 2018.

Christian Bermes, geboren 1968 in Trier, Professor für Philosophie und Leiter des Instituts für Philosophie, Universität Koblenz-Landau (Campus Landau).

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