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Ländliche Räume unter Druck

von Roland Löffler

Veränderungen durch demografischen Wandel und Urbanisierungstendenzen

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Am 3. Juli 1889 schrieb der Maler Otto Modersohn über seinen ersten Besuch in Worpswede in sein Tagebuch: „Ich sah gleich, dass meine Erwartungen nicht getäuscht waren. Ich fand ein höchst originelles Dorf, das auf mich einen durchaus fremdartigen Eindruck machte; der hügelige sandige Boden selbst, die großen bemoosten Strohdächer und alles so weit und so groß wie am Meer.“ In bewusster Distanz zu den urbanen Zentren mit ihren sozialen Herausforderungen und ihrem festgefahrenen Kulturbetrieb entwickelte sich dort eines der berühmtesten Künstlerdörfer der Kunstgeschichte. Um 1900 war es also gar nicht so anders wie in unserer Zeit, in der Ökologen und Kreative oft Dörfer als Ruhe versprechende, etwas romantisierte Rückzugsorte betrachten. Wieder andere verlassen das Land, dessen biedere Enge und überkommene Traditionen sie stören.

Dem Land als romantischem Sehnsuchtsort, der den Einstieg in die Natur und Ruhe jenseits der Hektik der Großstadt verheißt, steht das Bild biederer Enge, der Sozialkontrolle und des Verharrens in überkommenen Traditionen gegenüber.

Gleichgültig, wie man den ländlichen Raum deutet: Unbestritten ist, dass Dörfer und Kleinstädte in den letzten 100 Jahren einen tiefgreifenden Funktionswandel erlebt haben. Sie haben zumeist ihre ursprüngliche Bedeutung als Orte der Land- und Forstwirtschaft verloren. Der Agrarsektor macht nur noch rund 0,9 Prozent der deutschen Volkswirtschaft aus. Dörfer sind oft zu reinen Schlafstätten für Pendler geworden. Doch Land ist nicht gleich Land: Während im Münsterland annähernd Vollbeschäftigung herrscht, innovative Mittelständler auf internationalem Parkett zu bestehen wissen, findet sich in Vorpommern, der Altmark, im Hunsrück oder in Osthessen deutlich weniger Wirtschaftskraft. Aus Orten wie Anklam oder Demmin sind deshalb seit der Wende über zwanzig Prozent der Bevölkerung abgewandert. Landflucht ist in Deutschland kein neues Phänomen: Im 19. Jahrhundert im Zuge der beginnenden Industrialisierung, dann im 20. Jahrhundert während des Niedergangs der landwirtschaftsnahen Arbeitsplätze und nun im 21. Jahrhundert als Folge des demografischen Wandels gab es stets große Binnenmigrationsbewegungen zu verzeichnen.

Ballungsräume wachsen deshalb mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Sie bilden Cluster aus florierender Wirtschaft, innovativer Forschung, einer breiten Kulturlandschaft, einem attraktiven Einzelhandel und Nischen für unterschiedliche Lebensstile – mithin ein breites Angebot, das für viele Menschen attraktiver ist als weite Gärten, Misthaufen und Vogelgesang.

 

Demografische Entwicklungen

Der demografische Wandel besitzt im Kern drei Dimensionen: Die Bevölkerung wird älter, sie schrumpft, und sie wird heterogener. Dabei sind genaue Prognosen der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland nicht einfach, weil sie von der Interaktion der drei genannten Faktoren abhängen, wie der Kölner Demograf Eckart Bomsdorf gezeigt hat. Die deutsche Bevölkerung wird – je nach Fertilitäts-, Lebenserwartungs- und Migrationsquote – bis 2060 zwischen fünf und fünfzehn Millionen Menschen verlieren. Mit einem weitblickenden Bündel an Maßnahmen (Renten-, Familien-, Einwanderungs-, Strukturpolitik) lasse sich der Bevölkerungsrückgang in Deutschland nicht stoppen, sondern nur dämpfen, so Bomsdorf. Die Gründe für die Alterung der Bevölkerung und die Schrumpfung der deutschen Gesellschaft liegen auf der Hand: Deutschland besitzt eine im internationalen Vergleich niedrige Fertilitätsrate von aktuell 1,5 Kindern pro Frau. 25 Prozent der deutschen Frauen gebären gar kein Kind – eine der höchsten Quoten weltweit. Und deutsche Eltern werden immer älter: 1980 freuten sich junge Paare mit 25 Jahren über ihren Nachwuchs, heute liegt der Altersdurchschnitt bei knapp 29 Jahren.

 

Urbanisierung und Peripherisierung

Die Veränderung der Lebensverhältnisse, der demografische Wandel und die damit einhergehende Urbanisierung sind keine deutschen, sondern internationale Phänomene. Deutschland liegt mit einem Verstädterungsgrad, also dem Anteil der Stadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung, von gut 73,0 Prozent noch deutlich hinter den USA mit 83,0 Prozent, Belgien mit 97,5 Prozent oder Dänemark mit 87,0 Prozent.

Schaut man sich die Siedlungstypologie genauer an, so zeigt sich, dass hierzulande die Übergänge von Stadt zu Land fließend sind. Das Gros der Deutschen wohnt zwar großstadtnah, aber nicht direkt in den Metropolen. Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) unterscheidet für Deutschland vier Kategorien: Großstädte, verdichtetes Umland, ländliches Umland und ländlichen Raum. Nach dieser Einteilung leben mit Blick auf die Gesamtbevölkerung in Westdeutschland 21,95 Prozent, in Ostdeutschland 7,35 Prozent der Menschen in Großstädten, 40,85 Prozent (West) beziehungsweise 3,30 Prozent (Ost) im verdichteten Umland, während das ländliche Umland und der ländliche Raum jeweils rund 8,5 Prozent (West) beziehungsweise 4,5 Prozent (Ost) der Menschen umfasst.

Diese Tendenz zur Verstädterung setzt sich allen Prognosen zufolge bis 2050 fort: Die wirtschaftlich starken Regionen wie das Rhein-Main-Gebiet, Köln-Düsseldorf, der süddeutsche Raum von Stuttgart über Augsburg bis München sowie die norddeutschen Metropolen Hamburg und Berlin samt Speckgürtel werden einen Zugewinn an Bürgern erleben, während periphere ländliche Räume schrumpfen.

 

Gefahr eines „Abwärtsstrudels“

Die Göttinger Sozialwissenschaftlerin Claudia Neu, seit vielen Jahren eine der führenden Demografinnen Deutschlands, spricht deshalb auch von der „Peripherisierung ländlicher Räume“: In schrumpfenden Gesellschaften führe eine zunehmende Verstädterung zu sinkenden Bevölkerungszahlen in der Fläche. „Dünne Besiedlung ländlicher Räume ist für sich genommen selbst in Europa keine Seltenheit und bietet zunächst noch keinen Anlass zur Sorge. Die aktuelle Dramatik für (entlegene) ländliche Räume liegt vielmehr darin, dass sinkende Einwohnerzahlen sinkende Steuereinnahmen und mangelnde Infrastrukturauslastung nach sich ziehen. In Kombination mit wirtschaftlicher Strukturschwäche, hoher Arbeitslosigkeit und De-Infrastrukturalisierung erzeugt die dünnere Besiedlungsdichte aber einen Abwärtsstrudel, der die betroffenen Regionen immer weiter ins Hintertreffen geraten lässt.“

Nach dem „Raumordnungsbericht“ des BBSR aus dem Jahre 2011 sind bereits 22 Kreise im Westen und 21 Kreise im Osten, also zehn Prozent aller deutschen Kreise, von diesen Entwicklungen erfasst. Neu verweist darauf, dass der Raumordnungsbericht 2011 dezidiert von „ungleichwertigen Lebensverhältnissen“ spreche: hier die florierenden Regionen des Südwestens – dort die eher schwachen ostdeutschen Kommunen. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass sich nach einer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 2014 veröffentlichen Allensbach-Umfrage 25 Prozent der deutschen Landbevölkerung über eine ungenügende Infrastrukturausstattung beklagen: fehlende wohnortnahe Schulangebote, langsame Internetverbindungen oder einen ausgedünnten öffentlichen Personennahverkehr.

In den kommenden zwei bis drei Jahrzehnten werden Kommunal- und Landespolitik durch das Zusammenspiel von demografischem Wandel und De-Infrastrukturalisierung unter erheblichem Druck stehen. Städte und Gemeinden in strukturschwachen Regionen brauchen deshalb ein gutes und zukunftsweisendes Zusammenspiel zwischen Verwaltung, Zivilgesellschaft und Wirtschaft, um die Lage zu stabilisieren oder Trends zu brechen, so der Berliner Sozialwissenschaftler Johannes Staemmler. Nur wenn Bewegung in solche Kommunen komme, sei es durch Impulse der Stadtverwaltung, sei es durch Modellprojekte oder Initiativen der Zivilgesellschaft, sei es durch das Engagement einzelner Unternehmen, könnten positive Veränderungen in Gang gesetzt werden. Da Städte im Strukturwandel zugleich „Orte der Krise“ seien, warnt Staemmler vor übereiltem Handeln und fordert auch bei der zwingend gebotenen Bürgerbeteiligung ein behutsames Vorgehen, um die verunsicherte Bürgerschaft nicht durch zu hohe Anforderungen und Erwartungen zu überlasten oder zu enttäuschen.

 

„Ordnungsrahmen für das Kleinerwerden“

Die Zukunft ländlicher Räume ist also keineswegs nur ein Thema für Landromantiker, Ökologen, die Bauern- und Waldbesitzerverbände. Vielmehr können die sozialen Folgen des demografischen Wandels Wohlstandskonflikte provozieren, die alle betreffen. Die alternde Gesellschaft fordere nicht nur die finanzielle Leistungsfähigkeit der Sozialversicherungskassen und die technische Infrastruktur schrumpfender Regionen heraus, so der Kasseler Soziologe Berthold Vogel. Die veränderte Altersstruktur einer Gesellschaft rufe zugleich neue Verteilungsfragen hervor – zwischen Alten und Jungen, zwischen Dorf und Stadt, zwischen Pendlern und Immobilen, zwischen partikularen Interessen und Fragen des Gemeinwohls. Im Falle des demografischen Wandels gibt es nach Vogel keine konfliktneutralisierenden, sondern ausschließlich konfliktgestaltende Strategien.

Johannes Beermann, ehemaliger Chef der Sächsischen Staatskanzlei und heute Vorstandsmitglied der Bundesbank, fordert deshalb eine ehrliche Debatte über die grundgesetzlich verankerte Forderung nach der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“. Aus diesem Prinzip könne seiner Meinung nach kein Anspruch auf Gleichheit der Lebensverhältnisse in städtischen oder ländlichen Räumen gezogen werden. Das Grundgesetz ziele lediglich auf ein Mindestmaß an sozialem Zusammenhalt, um ein Auseinanderdriften bundesstaatlicher Ordnung zu verhindern.

Ähnlich argumentiert Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung in der 2013 erschienenen Studie Vielfalt statt Gleichwertigkeit. Was Bevölkerungsrückgang für die Versorgung ländlicher Regionen bedeutet. Für Klingholz steht der Gleichwertigkeitsansatz einer nachhaltigen Raumentwicklung sogar im Wege, denn die dafür nötigen Rahmenbedingungen existieren nicht mehr. Notwendig seien ein „Ordnungsrahmen für das Kleinerwerden“, regional angepasste Standards und individuelle Lösungen für betroffene Kommunen. Politik und Gesellschaft müssten es wagen, unbequeme Fragen zu stellen, etwa ob es sich lohne, in kleinen Dörfern mit Bevölkerungsrückgang noch den Straßenausbau zu fördern, Linienverkehr zugunsten einer individuellen Beförderung von Schülern einzustellen, die Entsiedelung bestimmter Gebiete aktiv zu fördern – eine These, die Klingholz übrigens heftige Kritik eingebracht hat.

Wer Anpassungsstrategien und individuelle Lösungen fordert, die ohne eine Ko-Produktion von Wohlfahrt durch Staat und Zivilgesellschaft nicht denkbar sind, fordert die Kommunen heraus, ihre Leistungsangebote zu priorisieren. Das führt in der Regel zu Kürzungen der Ressourcen oder zur Absenkung von Qualitätsstandards. Wie diese Anpassungen vorzunehmen sind, kann nicht „par ordre du mufti“ entschieden werden, sondern ist Aufgabe der öffentlichen, politischen Debatte in jeder Kommune, in jedem Bundesland. Diese Debatte betrifft aber auch das Verhältnis des Bundes zu Ländern und den Kommunen – gerade, wenn es um die Verteilung der öffentlichen Finanzen geht. Die Debatte über die Zukunft der ländlichen Räume im demografischen Wandel verdient deshalb einen vorderen Platz auf der politischen Agenda.

Literaturhinweis

Eichert, Christof / Löffler, Roland (Hrsg.): „Landflucht 3.0. Welche Zukunft hat der ländliche Raum?“, Herder Verlag, Freiburg 2015. Darin finden sich auch die genannten Beiträge von Claudia Neu, Berthold Vogel, Johannes Staemmler und Johannes Beermann.

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Roland Löffler, geboren 1970 in Homberg (Efze), evangelischer Theologe, Geschäftsführer der Stiftung Westfalen-Initiative in Münster.

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