Asset-Herausgeber

Neue Normalität von Familie?

von Martin Bujard
von Kerstin Ruckdeschel

Eine kurze Bestandsaufnahme

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Familien werden immer vielfältiger: Die Zahl der unehelichen Geburten steigt seit Jahrzehnten an, Alleinerziehende werden oft in familienpolitischen Debatten thematisiert und nicht wenige Paare leben dauerhaft ohne Kinder. Diese Entwicklung wird im öffentlichen Diskurs sogar verstärkt dargestellt: Man liest über Regenbogenfamilien, also gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern, und über Familiengründungen durch Eizellspende im Ausland, bei denen die Frau, die das Kind austrägt, nicht die genetische Mutter ist. Angesichts dieser Eindrücke stellt sich die Frage, wie es um die traditionelle Familie, als Ehepaar von Frau und Mann mit leiblichen Kindern, bestellt ist, die früher als „normal“ galt. Stirbt sie aus? Manche befürchten sogar einen Verfall der Familie. Wie sieht die Familie der Zukunft aus? Was wird möglich sein und was gesellschaftlich akzeptiert?


Ein Blick auf die Zahlen hilft, die Situation besser einschätzen zu können. In Deutschland leben 11,6 Millionen Familien mit ledigen Kindern, davon 7,9 Millionen Ehepaare. Mit 68 Prozent leben folglich mehr als zwei Drittel der Familien mit Kindern in einer klassischen Ehe. Eine knappe Million Familien, acht Prozent, leben in einer nichtehelichen und weniger als 0,1 Prozent in einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft. Von den 2,7 Millionen alleinerziehenden Familien sind 2,3 Millionen Mütter und 0,4 Millionen Väter mit Kind oder Kindern. Mit einem Anteil von 23 Prozent ist inzwischen also jede vierte Familie allein- beziehungsweise getrennt erziehend.



Sieben von zehn Kindern wachsen in „klassischen“ Familien auf


Ein Rückblick auf die letzten zwanzig Jahre zeigt einen Wandel bei Lebensformen mit Kindern. Der Anteil der Ehepaare ist in dieser Zeit zurückgegangen, von 79 auf 68 Prozent. Dagegen ist die Menge alleinerziehender Mütter von 14 Prozent 1996 auf rund 20 Prozent im Jahr 2011 gestiegen und seit einigen Jahren konstant. Auch der Anteil nichtehelicher Lebensgemeinschaften hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten mehr als verdoppelt, wobei diese Lebensform in Ostdeutschland dreimal so häufig ist wie im Westen.


Der Anteil nichtehelich geborener Kinder liegt in Deutschland bei 35,5 Prozent, in Ostdeutschland deutlich höher. Allerdings heiraten viele Paare nach der Geburt der Kinder, sodass die Kinder sozusagen nachträglich ehelich legitimiert werden, wobei pragmatische Faktoren wie Sorgerecht, finanzielle Absicherung oder Namensgebung eine Rolle spielen, deren rechtliche Regelung durch eine Eheschließung erleichtert wird. Letztlich wachsen sieben von zehn Kindern mit verheirateten Eltern von Mutter und Vater auf.


Die Sicht auf Familie wird auch durch neue Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin verändert, die vielen Paaren ermöglicht, ihren Kinderwunsch zu erfüllen. In den meisten Fällen wird eine Frau mithilfe künstlicher Befruchtung mit eigenen Eizellen und Samen ihres Partners schwanger, was familiale Abstammungsverhältnisse unberührt lässt. Anders ist es, wenn Keimzellen von Dritten verwendet werden, also Samen- oder Eizellspende. In diesen Fällen sind biologische und soziale Elternschaft getrennt und das Kind hat im Spender beziehungsweise der Spenderin einen zusätzlichen dritten Elternteil. Samenspende ist in Deutschland erlaubt, Schätzungen gehen von etwa 1.200 Spenden pro Jahr aus. Die Grauziffer durch private Arrangements dürfte aber höher sein. Eizellspenden sind in Deutschland dagegen verboten, jedoch in Nachbarländern erlaubt. Dadurch gibt es auch in Deutschland Familien mit Kindern, die infolge von Eizellspenden gezeugt wurden. Zahlen liegen nicht vor, aber der Bedarf an Eizellspenden wird auf über 1.000 Patientinnen pro Jahr geschätzt. Die faktische Verbreitung komplexer Familienformen infolge reproduktionsmedizinischer Verfahren war 2017 gering: Von insgesamt 785.000 Geburten entstand weniger als ein Prozent mithilfe von Keimzellen Dritter.


Neben der tatsächlichen Verteilung der Lebensformen in Deutschland stellt sich die Frage, was gesellschaftlich als Familie anerkannt wird. Für bestimmte Konstellationen ist die soziale Akzeptanz als Familienform allein schon deshalb wichtig, weil sie erst dadurch zu einer realistischen Option der Lebensgestaltung werden. Der Familienleitbildsurvey des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) ermöglicht eine Einschätzung der Wahrnehmung von familialer Vielfalt. Sieben verschiedene Lebensformen sollten dahingehend beurteilt werden, ob man sie persönlich als Familie bezeichnen würde, angefangen bei verheirateten Paaren mit eigenen Kindern bis hin zum unverheirateten kinderlosen Paar.



Vielfalt wird akzeptiert


Der Satz „Familie ist da, wo Kinder sind“ kann als gesellschaftlicher Konsens angesehen werden. Vor allem bei Elternpaaren mit eigenen Kindern ist das keine Frage, unabhängig davon, ob sie verheiratet sind oder nicht. Verheiratete Elternpaare mit eigenen Kindern stellen somit seit dem „golden age of marriage“ Mitte des letzten Jahrhunderts ein Stück gesellschaftlicher Kontinuität dar. Die Geburt eines Kindes hat die Ehe als einziges konstituierendes Element von Familie abgelöst. Die umfassende Akzeptanz von nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit eigenen Kindern, die sich letztlich nicht von verheirateten Ehepaaren mit Kindern unterscheidet, zeigt dies eindrücklich.


Sogenannte „unkonventionelle“ Lebensformen, die zum Beispiel bei der Geschlechterkonstellation oder der leiblichen Elternschaft von der Normalschablone des Paares mit eigenen Kindern abweichen, finden durch Kinder immer noch in vergleichsweise hohem Maße Anerkennung als Familie. Auch Alleinerziehenden und ihren Kindern wird weit überwiegend zugesprochen, eine „Familie“ zu sein, obwohl sie früher in der amtlichen Statistik als „unvollständige Familie“ bezeichnet wurden.



Ehepaar mit zwei Kindern bleibt Normalität


Die große Toleranz gegenüber verschiedenen Lebensformen bedeutet allerdings nicht, dass nicht auch eine große Übereinstimmung in Bezug auf die Vorstellung davon besteht, was „normal“ ist. Von einem Bedeutungsverlust der Kernfamilie aus Vater, Mutter und Kindern kann nicht gesprochen werden, wie eine qualitative Studie „Familie in Bildern“ bestätigt. Als Befragte eine aus ihrer Sicht „richtige“ Familie zeichnen sollten, sich also auf ein einziges Modell festlegen mussten, wurde überwiegend ein heterosexuelles Paar mit Kindern gezeichnet, also letztlich das „klassische“ Modell. In den Augen vieler Deutscher stellt sich Familie also als das Zusammenleben eines Paares mit seinen Kindern dar. Andere Lebensformen, die mit der klassischen Vorstellung von Familie brechen, werden auch als Familie akzeptiert, ohne dass dadurch aber das im Kern seit langem stabile Leitbild der „klassischen“ Familie an Bedeutung verlieren würde.


Bemerkenswert ist außerdem die Zwei-Kinder-Norm, die in Deutschland seit Jahrzehnten vorherrscht. Mehr als die Hälfte der jungen Erwachsenen wünscht sich zwei Kinder, nur zehn Prozent möchten kinderlos bleiben, fast ebenso viele, elf Prozent, wünschen sich ein Kind, und nur jeder Vierte möchte drei oder mehr Kinder haben. Diese Norm ist in Deutschland sehr stabil und spiegelt sich in Kinderbüchern, im Wohnungsangebot und sogar im Mutterpass wider, in dem nur Platz für zwei Schwangerschaften ist.


Kontinuität gilt allerdings nur in Bezug auf die äußere Form, binnenstrukturell hat sich dagegen in den letzten Jahrzehnten viel verändert. Die in den 1950er-Jahren vom amerikanischen Soziologen Talcott Parsons konstatierte klare Rollenzuweisung in der modernen Kleinfamilie – der Mann als Familienernährer und die Frau als Hausfrau und Mutter mit der Hauptaufgabe der Fürsorge für die restlichen Familienmitglieder – ist im Wandel begriffen und besteht so nicht mehr. Die Vorstellungen der jungen Generation entsprechen dem flexiblen Zwei-Verdiener-Modell, bei dem Mütter und Väter erwerbstätig sind, jedoch in bestimmten Familienphasen in unterschiedlicher Intensität.


Die meisten Mütter wollen heute erwerbstätig sein, was angesichts der Teilhabechancen, des volkswirtschaftlichen Mehrwerts durch die Produktivität dieser hervorragend ausgebildeten jungen Generation, aber auch angesichts der hohen Trennungswahrscheinlichkeit unterstützenswert ist. Die Erwerbstätigkeit der Mütter minderjähriger Kinder ist seit Jahrzehnten angestiegen, von vierzig Prozent 1973 auf 72 Prozent 2016. Dabei hat Teilzeitarbeit kontinuierlich zugenommen. Viele Mütter wünschen sich, halbtags zu arbeiten, wenn die Kinder im Kleinkindalter sind, und später vollzeitnahe Teilzeitangebote. Gleichzeitig möchten sich Väter stärker an der Erziehung und Fürsorge beteiligen. Infolge des 2007 eingeführten Elterngeldes nehmen immer mehr Väter Elternzeit, inzwischen mehr als jeder dritte, jedoch meistens nur die zwei Monate, deren Kompensation durch Elterngeld sonst verfallen würde.



Atmende Lebensläufe ermöglichen


Der Wunsch der Mütter, erwerbstätig und ökonomisch unabhängig zu sein, sowie der Wunsch der Väter, eine aktivere Rolle als Vater anzunehmen, wird überwiegend durch das Zurückstellen eigener Bedürfnisse verwirklicht. Eltern kleinerer Kinder befinden sich häufig jahrelang in einer Phase mit erheblicher Überbelastung, oft als „Rushhour des Lebens“ bezeichnet. Fragt man Eltern nach ihrem dringendsten Bedürfnis, so ist die Antwort oft „mehr Zeit“. Atmende Lebensläufe und vollzeitnahe Teilzeitangebote für beide Geschlechter könnten für die Familien Abhilfe schaffen.



Familie bedeutet dauerhaft Verantwortung füreinander


Die zunehmende Erwerbstätigkeit der Mütter bedeutet keineswegs eine Reduzierung der Ansprüche an Elternschaft. Im Gegenteil: Eltern orientieren sich an einer verantworteten Elternschaft, sie lesen Ratgeber und haben steigende Ansprüche an die eigene Erziehungsleistung und die Möglichkeiten, die sie ihren Kindern bieten möchten. Aber auch beim Schutz vor Unfällen, bei gesundheitlicher Unterstützung und der Förderung von Bildung und Kompetenzen wird von heutigen Eltern mehr erwartet.


Familienformen und das, was die Menschen unter Familie verstehen und gesellschaftlich akzeptieren, befinden sich also in einem umfassenden Wandel. Das eheliche Familienmodell von Frau und Mann ist nicht mehr das einzige, zunehmend sind Familien ohne Trauschein, alleinbeziehungsweise getrennt erziehende Eltern, Regenbogenfamilien und komplexe Elternschaften infolge von Samen- oder Eizellspende hinzugekommen. Die Gesellschaft reagiert tolerant auf diese neuen Familienformen. Mit mehr als zwei Dritteln lebt aber auch heute noch die Mehrheit der Kinder in einer ehelichen Familie. Eine gestiegene Vielfalt betrifft aber auch die Aufteilung von Erwerbstätigkeit sowie Erziehung, Fürsorge und Hausarbeit zwischen den Eltern. Von einem „Verfall der Familie“ kann keine Rede sein. Familie wird vielfältiger, die dauerhafte Verantwortung füreinander bleibt zentraler Bestandteil von Familie.


Neue Familienformen erfahren eine überproportionale Beachtung: in den Medien, da Neues spannend ist, und im politischen Diskurs, da Sozialsysteme und Familienrecht für diese Gruppen angepasst werden müssen. Trotz der Vielfalt und des weiterhin zu erwartenden Wandels gibt es eine „Normalität“, die gelebt und wahrgenommen wird. Sie präsentiert sich in Form von Elternpaaren von Frau und Mann – oft verheiratet –, die mit ihren Kindern zusammenleben, sich beide um die Kinder kümmern und bei denen auch die Mutter, jedoch weniger als der Vater, erwerbstätig ist.




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Martin Bujard, geboren 1975 in Worms, Forschungsdirektor des Bereichs „Familie und Fertilität“ am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Wiesbaden.




Kerstin Ruckdeschel, geboren 1970 in Kulmbach, Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Bereichs „Familie und Fertilität“ am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Wiesbaden.

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