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von Roswitha Müller-Piepenkötter

Warum Kriminalitätsopfer auch in Zukunft eine Lobby brauchen

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„Du bist ein Opfer, kein Player, kein Rapper, kein Mann“, höhnt ein Berliner Rapper, und prominente Kriminalitätsopfer wie Richard Oetker oder die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker müssen sich überwinden, über ihre Erfahrungen zu berichten, andere verweigern sich aus Angst, „auf ihre Opferrolle reduziert zu werden“, wie sie es ausdrücken. Andererseits meinen einige Rechtspraktiker und Wissenschaftler, einen Siegeszug des Opfers in der Strafrechtstheorie feststellen zu können, sie diagnostizieren eine „viktimäre Gesellschaft“, in der „überzogene Opferzuwendung“ herrsche.

Zwischen diesen Polen bewegen sich Kriminalitätsopfer in unserer Gesellschaft: einerseits Häme und Geringschätzung als Verlierer und Schwächlinge, andererseits Ablehnung von angeblich „zu viel“ Anerkennung.

Dabei betrifft Kriminalität sehr viele Menschen: 2016 verzeichnete die Polizeiliche Kriminalstatistik allein bei Gewalt- und Freiheitsdelikten 1.017.602 Opfer.3 Die betroffenen Menschen müssen neben Schäden an Eigentum und Vermögen Störungen in ihrem sozialen Leben bis hin zu Beeinträchtigungen ihrer physischen und psychischen Gesundheit und ihrer Arbeitsfähigkeit aushalten. Bei der Bewältigung haben sie mit zahlreichen Schwierigkeiten zu kämpfen.

Das Strafverfahren spielt dabei eine zentrale Rolle. Einerseits konfrontiert es die Betroffenen im Zuge der Ermittlungen und in der oft mehrtägigen Hauptverhandlung immer wieder mit der erfahrenen Aggression, andererseits bedeutet es für viele Opfer die Möglichkeit, diese leidvolle Lebensphase abschließen und im Idealfall die Anerkennung der Verletzung ihrer Rechte erleben zu können. Der Strafprozess dient nicht dem Opfer: In ihm realisiert die Rechtsgemeinschaft ihren Sanktionsanspruch, der „der Aufrechterhaltung des inneren Friedens und damit dem öffentlichen Interesse“ dient. Das bedeutet, dass die Stellung des Kriminalitätsopfers im Strafprozess im Wesentlichen die eines Beweismittels ist. Als Zeuge und Spurenträger, der Untersuchungen am Körper und an seinem Eigentum dulden muss, hat es zur Wahrheitsfindung im Prozess beizutragen. Das ist gut und richtig und wird sich nicht ändern lassen, denn an der zentralen Aufgabe des Strafprozesses, der Wahrheitsfindung, darf nicht gerüttelt werden.

Diese Ambivalenz,5 die sich aus der Stellung des Kriminalitätsopfers als objektiv zu betrachtendes Beweismittel und seiner Betroffenheit durch die Tat ergibt, ist keine neue Erkenntnis; sie wurde bald nach Erlass der Strafprozessordnung von 1877 deutlich, und schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann die Debatte um den Opferschutz im Strafverfahren. Was aber die Mitwirkungspflicht im Strafprozess für das Opfer bedeutet, kann nur nachvollziehen, wer sich klarmacht, welche psychischen und psychotraumatischen Dimensionen die Straftat für das Opfer hatte. Opfer von Gewalttaten, aber auch Opfer von Wohnungseinbrüchen erleben mindestens für einen Moment den Verlust der Kontrolle über ihr Leben, ihre Freiheit, ihre persönliche Sphäre. Ohnmacht und Hilflosigkeit sind die größten Beeinträchtigungen, die Kriminalitätsopfer empfinden – stärker noch als Körper- und Vermögensschäden.

Wahrung der Rechte, Schutz der Persönlichkeit

Und was passiert im Strafverfahren? Wieder bestimmen fremde Personen ‒ Polizisten, Staatsanwälte, Richter, Gutachter stellen Fragen, treffen Entscheidungen. Erneut geschieht etwas, was das Opfer nicht kontrollieren kann, ja worüber es oft nicht einmal umfassend und verständlich informiert wird.

Zwar hat das Bundesverfassungsgericht bereits 1974 betont, dass der Zeuge nicht zum bloßen Objekt des Verfahrens gemacht werden darf, und verlangt, „als Verfassungsgebot“, dass der Zeuge auf den Gang und das Ergebnis des Teils des Verfahrens, der seine Vernehmung umfasst, Einfluss nehmen kann. Trotzdem bedurfte es eines langen und zähen Kampfes, bis wenigstens für die am schwersten betroffenen Opfer die Rechte als Nebenkläger ausgeweitet, der Opferanwalt eingeführt und Hinweis- und Belehrungspflichten kodifiziert wurden.

Aktuell mehren sich die Widerstände wieder. Die bei der Bielefelder Fachtagung von Kriminologen, Strafrechtlern, Rechtsanwälten und Richtern 2011 in den Raum gestellte „Instrumentalisierung des Opferschutzes, um freiheitlich-rechtsstaatliches Strafrecht zurückzuschneiden“, ist nur ein Beispiel. Ein nächster Anlass, Opferrechte infrage zu stellen, war der NSU-Prozess in München – mit der zugegebenermaßen großen Zahl an Nebenklägern und Nebenklägervertretern. Die Strafverteidigervereinigung NRW forderte zu Beginn des Prozesses die Beschränkung der Nebenklägerrechte, und auch der Strafkammertag hat sich jüngst für eine Beschneidung des Rechts von Nebenklägern auf freie Anwaltswahl ausgesprochen, wenn eine Vielzahl von unmittelbar und mittelbar Geschädigten nebenklageberechtigt ist.

Es geht im Strafprozess nicht darum, ein hilfloses Opfer zu schützen, sondern darum, das vom Bundesverfassungsgericht beschriebene Verfassungsgebot zu verwirklichen. Da gibt es noch immer erhebliche Lücken. So ist Deutschland eines von wenigen Ländern, in denen gegen eine Einstellungsentscheidung im Ermittlungsverfahren aus Opportunitätsgründen kein gerichtlicher Rechtsbehelf gegeben ist. Das führt dazu, dass Einstellungsbescheide bei Opportunitätseinstellungen öfter nur formelhaft, schwer verständlich und weniger auf das Vorbringen des Anzeigeerstatters bezogen begründet werden, als Einstellungen mangels hinreichenden Tatverdachts. Noch immer gibt es keine überprüfbare Verpflichtung, bei Verständigungen in der Hauptverhandlung die Opferbelange zu berücksichtigen. Verletzungen der Informations- und Beteiligungsrechte von Opferzeugen bleiben von Gesetzes wegen folgenlos, während Verletzungen der Rechte des Angeklagten in der Regel zur Aufhebung des Urteils in der Revision führen. Die berechtigten Interessen der Kriminalitätsopfer an der Überwindung der Ohnmacht, an Information und Einflussmöglichkeiten könnten in Deutschland in allen Stadien des Strafverfahrens verbessert werden, ohne die Grundprinzipien des Strafprozesses zu beeinträchtigen. Die Verwirklichung der Forderungen des WEISSEN RINGS unter anderem nach ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmung, dass die Opferbelange bei Opportunitätseinstellungen mit zu berücksichtigen sind, nach Einführung der sofortigen Beschwerde gegen die Verneinung der Berechtigung zum Anschluss als Nebenkläger, Verpflichtung zur förmlichen Ladung des anwaltlichen Beistands des Nebenklägers zur Hauptverhandlung, Beschwerderecht des Nebenklägers gegen die Versagung der Prozesskostenhilfe und Eröffnung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung von Fristen infolge Verstoßes gegen die Informationspflichten der Strafverfolgungsorgane würde weder die Unschuldsvermutung beeinträchtigen noch der Wahrheitsfindung im Wege stehen.

Unterstützung und Hilfe im Sozialrecht

Kriminalitätsopfer haben es rechtlich jedoch nicht nur mit dem Strafrecht zu tun. Schäden an Körper und Gesundheit erfordern auch Unterstützung nach dem Sozialrecht. Die Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) stellen eine Absicherung für Opfer von körperlicher Gewalt dar, insbesondere durch den Anspruch auf Heilbehandlung und Rentenzahlungen, die in Fällen einer andauernden gesundheitlichen Einschränkung oftmals das Abgleiten in die Sozialhilfe verhindern.

Eine Weiterentwicklung der gesetzlichen Regelungen auf die Fälle psychischer Gewalt ist erforderlich, denn wir wissen heute, dass psychische Verletzungen zu ebenso gravierenden und langwierigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen können wie körperliche Schädigungen. Das reicht von Schlafstörungen, Angst und Übererregbarkeit über Herz-Kreislauf- und Magen-Darm-Erkrankungen bis hin zu Depressionen, Sucht und Suizidgefahr.

Für die Menschen, die als missbrauchte Kinder, aber auch als Opfer von Menschenhandel und Stalking psychische Gewalt erlitten haben, ist es von entscheidender Bedeutung, dass den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Entwicklungen im Bereich psychischer Gewalt und den Erfahrungen bei der Verhütung von posttraumatischen psychischen Erkrankungen durch Akutversorgung in Trauma-Ambulanzen endlich Rechnung getragen wird. Das haben die damaligen Regierungsparteien bereits in den Koalitionsverhandlungen 2013 anerkannt, allerdings hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales den damals erteilten Reformauftrag nicht nur nicht ausgeführt, sondern hat gegen Ende der Legislaturperiode einen Arbeitsentwurf vorgelegt, der sogar der Aussage des Koalitionsvertrages, dass „mit der Gesetzesreform keine Leistungsverschlechterungen einhergehen“ sollen, entgegensteht.

Der Entwurf schränkt die Leistungen bei Heilbehandlung und Rente gerade für schwerstgeschädigte Opfer entscheidend ein, ebenso die zur Verarbeitung der Tat auch schon vor Abschluss eines Strafverfahrens unbedingt erforderlichen vorläufigen Leistungen; die Verfahrensregelungen und Beweisregeln erschweren Kriminalitätsopfern die Geltendmachung von Ansprüchen im Vergleich zu bisherigem Recht deutlich. Dabei wird so getan, als ob insgesamt Kürzungen nicht vorgenommen würden, indem die bereits in Paragraph 14 Sozialgesetzbuch I als Verwaltungshandeln zwingend vorgeschriebene Begleitung und Beratung der Berechtigten durch das Antragsund Leistungsverfahren unter dem Namen Fallmanagement in eine nach Ermessen zu gewährende „Leistung“ umdeklariert und die Finanzierung von Beratungsstellen als Leistung an die Berechtigten ausgegeben werden.

Mitmenschliches Eintreten der Gesellschaft

Staat und Recht können nicht alles lösen. Nach den Ergebnissen der Traumaforschung brauchen Traumatisierte vor allem eine stabile Bezugsperson, jemanden, der ihnen Ruhe und Sicherheit gibt. Zeit, Zuwendung, Emotionen und Wissen über Hilfsmöglichkeiten ‒ das ist für Kriminalitätsopfer wichtig, und deshalb sind neben Rechten und gesetzlichen Ansprüchen Menschen, die das zur Verfügung stellen, notwendig.

Kleinfamilien, berufstätige Partner und anonyme Nachbarschaften können diese Unterstützung vielfach nicht erbringen, Freunde und Arbeitskollegen sind dazu nur begrenzt bereit. Ehrenamtliche Helfer, die im WEISSEN RING organisiert und ausgebildet sind, springen hier ein. Das wird deutlich in dem Bericht einer jungen Frau, die unter jahrelanger Gewalt ihres Ex-Ehemannes und den Folgen litt. Sie stellt fest, „die normalen Leute, die verstehen das einfach nicht“ und „für mich ist der WEISSE RING eine Gemeinschaft, die wie ein Weggefährte ist durch eine Zeit von ganz viel Verwirrung, ganz viel Unsicherheit“.

Deshalb geht Opferschutz alle an. Damit Menschen nach dem Erleben einer Gewalttat wieder Vertrauen fassen können, bedarf es auch in Zukunft und selbst dann, wenn alle Forderungen erfüllt werden sollten, der Unterstützung durch von keinen bürokratischen Anforderungen eingeschränkte, jederzeit zum Zuhören bereite und mit Informationen zur Verfügung stehende Mitmenschen.

Für die vollständige Fassung inkl. Quellenhinweisen nutzen Sie bitte die PDF-Version.

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Roswitha Müller-Piepenkötter, geboren 1950 in Waltrop, 1976 bis 2005 Richterin, zuletzt am Oberlandesgericht Düsseldorf, 2005 bis 2010 Justizministerin in Nordrhein-Westfalen, seit 2010 Bundesvorsitzende WEISSER RING e.V.

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