Asset-Herausgeber

von Christine Bach

Normalitätsmaßstäbe in der Geschichte der Sozialversicherung

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Staatliche Sozialpolitik beruhte im 20. Jahrhundert auf der Vorstellung von standardisierten, insofern „normalen“ Lebensläufen. Zum Zeitpunkt der Einführung der Dynamischen Rente durch die Regierung Konrad Adenauer 1957 galt das Leitbild des männlichen Normalarbeitsverhältnisses, genauer eines abhängigen und unbefristeten Lohnarbeitsverhältnisses auf Vollzeitbasis. „Normal“ war Mitte der 1950er-Jahre eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 48,6 Stunden – weit mehr als die heutigen 38,1 Stunden (2016).


Als „normal“ galt in der Adenauer-Zeit das Modell der Hausfrauenehe: Während der männliche Normalverdiener das Einkommen der Familie in Lohnarbeit erwarb, kümmerte sich die Gattin zu Hause um Haushalt und Kinder. Doch schon damals stimmte dieses Bild nur in Teilen mit der Realität überein. Tatsächlich betrug 1950 die Erwerbsquote aller Frauen im erwerbsfähigen Alter in der Bundesrepublik bereits 44,4 Prozent und stieg bis 1961 weiter auf 48,2 Prozent an. Signifikant war der Anstieg der Erwerbsquote bei der Gruppe der verheirateten Frauen: Diese erhöhte sich im selben Zeitraum von 26,4 auf 36,5 Prozent.


Gleichwohl war das bürgerliche Familienideal grundlegend für die Rentenreform, die am 21. Januar 1957 im Deutschen Bundestag mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD verabschiedet wurde. Die Rentenreform gilt als einer der größten sozialpolitischen Erfolge der Unionsparteien in der Regierungszeit Adenauers. Im Ergebnis brachte sie eine Erhöhung der laufenden Renten um durchschnittlich sechzig bis siebzig Prozent.



Solidarität der Generationen


Mit der Rentenreform 1957 entstand eine neue Normalität in der letzten Lebensphase: Der zuvor kaum aufzulösende Zusammenhang von Armut und Alter wurde – zumindest für große Teile der Bevölkerung – durchbrochen. Mehr noch: Dank der Dynamisierung der Renten war es nun auch für diejenigen möglich, am steigenden Wohlstand und an den zunehmenden Konsummöglichkeiten zu partizipieren, die aufgrund ihres Alters bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschieden waren.


Nahezu revolutionär war der Gedanke der „Dynamisierung“ – der Koppelung der Renten an die jeweils aktuelle Entwicklung der Löhne und Gehälter. Ermöglicht wurde dies durch die Abkehr vom Kapitaldeckungsprinzip hin zum sogenannten Umlageverfahren. Dies bedeutete, dass die Rentenzahlungen fortan nicht mehr durch die Entnahme durch einen angesparten Kapitalstock bestritten wurden, sondern mithilfe der Gelder, die nahezu zeitgleich von den aktuell im Erwerbsleben stehenden Lohnempfängern erwirtschaftet wurden. Damit trat an die Stelle der finanziellen Deckung der Rentenzahlungen die Solidarität der Generationen. Mit der Rentenreform wurde der Gedanke des „Generationenvertrags“ erstmals als grundlegende Kategorie in das deutsche Sozialversicherungsrecht eingeführt.


Trotz des unbestreitbaren Erfolgs der Reform und obwohl sie einen wesentlichen gesellschaftspolitischen Beitrag zur Stabilisierung der Bundesrepublik leistete, beinhaltete das Rentenkonzept von Anfang an jedoch auch ein grundlegendes Strukturproblem. Dieses hängt eng mit den Normalitätsvorstellungen jener Zeit zusammen.


Zum einen ging mit der Koppelung der Rente an die Entwicklung der Löhne und Gehälter eine Ausrichtung der sozialen Sicherung im Alter an das Leitbild des männlichen Familienernährers einher. Die lohnunabhängige Arbeit im Haushalt und die Erziehung von Kindern fanden im Rentenrecht dagegen vorerst keine Berücksichtigung. Im Kern bedeutete dies die Inkaufnahme einer strukturellen Benachteiligung der – zumeist von Frauen geleisteten – Familienarbeit.



Kindererziehungszeiten im Rentenrecht


Nach dem Amtsantritt von Helmut Kohl als Bundeskanzler wurden immerhin mit dem Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz ab dem 1. Januar 1986 Kindererziehungszeiten im Rentenrecht berücksichtigt. Damit rückte die Arbeit in der Familie „erstmals in den Rang einer rentenrechtlich erheblichen Qualifikation auf“ (Günter Hockerts). Dies stellte einen Schritt hin zu einer stärkeren Würdigung der Arbeit von Frauen und Familien im Rentenrecht dar, allerdings blieb die Anerkennung dieser Arbeit aus fiskalischen Gründen eng begrenzt.


Mit dem Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz wurde zunächst eine Kindererziehungszeit von einem Jahr anerkannt, es galt für alle Versicherten ab dem Geburtsjahrgang 1921. 1992 erfolgte mit einem Rentenreformgesetz eine Ausdehnung der Regelung: Für Geburten ab dem Jahr 1992 führte der Gesetzgeber nun eine Verlängerung der angerechneten Kindererziehungszeiten von einem auf drei Jahre ein. 2014 kam es, mit dem Ziel des Ausgleichs von Ungleichbehandlungen, zu einer weiteren Modifikation: Für die vor dem 1. Januar 1992 geborenen Kinder wurde die Erziehungszeit um ein weiteres Jahr ausgedehnt, sodass je Kind nun zwei Jahre Kindererziehungszeit anerkannt werden.


Durch die Neuregelung waren zunächst diejenigen Mütter benachteiligt, die neben der Kindererziehung zeitgleich einer Erwerbstätigkeit nachgingen. Erziehungsleistungen wurden in diesem Fall in einem geringeren Maß berücksichtigt. Erst durch das Rentenreformgesetz 1999 wurde dies ausgeglichen. Seitdem werden Zeiten der Erziehungsleistung und der Erwerbstätigkeit bis zur Beitragsbemessungsgrenze addiert.


„Kinder kriegen die Leute immer“ – angeblich reagierte Konrad Adenauer mit diesem Ausspruch auf bereits zeitgenössisch auftretende Bedenken, ob die Geburtenrate langfristig stabil bleiben und damit die wichtigste Grundlage des Generationenvertrags Bestand haben werde. Dass diese Äußerung bis heute nicht belegt ist, kann hier vernachlässigt werden. Schwerwiegend ist dagegen die Tatsache, dass die verbreitete Einschätzung des „normalen“ Reproduktionsverhaltens falsch war. Nachdem die Bundesrepublik im Hinblick auf die Geburtenrate zwischen 1952 und 1965 einen „Boom“ erlebt hatte, setzte danach ein deutlicher Wandel ein. Seit 1965 reduzierte sich innerhalb von nur zehn Jahren die Zahl ihrer Kinder von 2,5 auf 1,4 pro Frau.


Langfristig kamen damit seit 1975 nur noch etwa zwei Drittel der Kinder zur Welt, die nötig gewesen wären, um die Bevölkerungszahl konstant zu halten. In der DDR unterschied sich die Geburtenentwicklung bis zur Mitte der 1970er-Jahre kaum von der in der Bundesrepublik. Auch hier gab es einen „Baby-Boom“ und einen „Pillenknick“. Danach entwickelte die Regierung der DDR Instrumente zur Familienbildung, zum Beispiel durch direkte Maßnahmen wie Geldzuwendungen und bezahlte Freistellungen der Mütter von der Erwerbsarbeit. Infolgedessen stieg die Geburtenrate auf immerhin 1,8 Kinder pro Frau zu Anfang der 1980er-Jahre. Danach schwächte sich diese Entwicklung ab, und zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung war die Geburtenrate in Ostdeutschland fast so niedrig wie in Westdeutschland.



Reaktionen auf den demografischen Wandel


Die Unionsparteien reagierten auf den seit den 1970er-Jahren ersichtlichen demografischen Wandel zunächst mit einer Aufwertung familienpolitischer Maßnahmen, wozu die Anrechnung von Kindererziehungszeiten im Rentenrecht zählte. Hinzu kam eine Reihe von Anpassungen des Rentenrechts, etwa durch die Rentenreform 1992, die darauf ausgerichtet war, durch Detailanpassungen Spareffekte zu erzielen. Zentrale Elemente der Reform waren die Bindung der Rentenanpassung an die Nettolohnentwicklung und die Anhebung der Altersgrenze auf generell 65 Jahre (außer für Schwerbehinderte). Ein vorzeitiger Renteneintritt zog von da an Abschläge nach sich, allerdings galten hierfür Übergangsfristen.


Mehrere weitere Einzelgesetze, die in den 1990er-Jahren beschlossen wurden, zielten auf eine Absenkung des Leistungsniveaus und eine Entlastung der Arbeitgeber bei den Lohnnebenkosten. Durch das noch von der Regierung Kohl beschlossene Rentenreformgesetz 1999 wurde erstmals ein „demografischer Faktor“ in die Rentenformel eingeführt. Damit nahm die Regierung eine Anpassung an die gewandelte Normalität seit den 1960er-Jahren vor. So betrug die durchschnittliche Rentenbezugszeit 1998 aufgrund der längeren Lebensdauer der Menschen sechzehn Jahre, während sie 1960 nur 10,1 Jahre betragen hatte.


Den seit 1957 gravierendsten Einschnitt im bisherigen „Pfad“ des Rentenversicherungsrechts brachte dann die Reform unter der rot-grünen Bundesregierung. Das Rentenreformgesetz 2001 schuf die Grundlagen für eine staatlich geförderte kapitalgedeckte, private Zusatzrente, die die gesetzliche Rentenversicherung ergänzen sollte. Bis 2020, so die Festlegung, sollte der Beitragssatz nicht über zwanzig Prozent und bis 2030 nicht über 22 Prozent steigen. Für diejenigen Arbeitnehmer, die die staatliche Förderung privater Altersvorsorgeprodukte in Anspruch nehmen („Riester-Rente“) und hierfür monatlich vier Prozent ihres Einkommens aufbringen, summiert sich der Gesamtbetrag allerdings auf 24 beziehungsweise 26 Prozent. Insofern bedeutete die Reform 2001 weniger eine Kostensenkung als vielmehr eine Verlagerung der Kosten auf die Arbeitnehmer und, da die private Vorsorge steuerlich begünstigt wird, auf den Bundeshaushalt.


Zugleich wurde der erst 1999 eingeführte demografische Faktor wieder gestrichen. Eine Veränderung der Rentenanpassungsformel hat bewirkt, dass seither die Entwicklung der Renten hinter der Lohnentwicklung zurückbleibt und das Rentenniveau insgesamt langsam sinkt. Damit wurde 2001 der seit 1957 geltende Normalitätsstandard – die Sicherung des vor dem Renteneintritt erarbeiteten Lebensstandards – aufgegeben. Ersetzt wurde diese Vorstellung durch ein neues Leitbild: die aus mehreren Säulen bestehende „Lebensstandardsicherung“. Die volle Aufrechterhaltung des Lebensstandards im Alter ist seither nur noch zu erreichen, wenn Rentner und Rentnerinnen neben der gesetzlichen Rente Leistungen aus einer Betriebsrente oder aus der privaten Altersvorsorge erhalten.


Einen weiteren Schritt zur Sicherung der Rente angesichts des demografischen Wandels stellte 2012 die schrittweise Anhebung der Regelaltersgrenze für den Bezug von Leistungen von 65 auf 67 Jahre dar.


Nach den Zahlen des 2017 veröffentlichten Versichertenberichts der Deutschen Rentenversicherung waren im Jahr 2015 in Deutschland 17.912.116 Frauen und 19.114.598 Männer aktiv rentenversichert. Dies entspricht einer Versichertenquote der Menschen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren von 68,3 Prozent. Seit der Adenauer-Zeit hat sich dabei der Anteil der Männer und Frauen stark angenähert, er lag 2015 bei den Frauen bei 67,2 Prozent, bei den Männern bei 69,5 Prozent. Deutliche Unterschiede bestehen jedoch nach wie vor in der Höhe der Renten. Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung bezogen Männer ab 65 Jahren in Deutschland 2015 durchschnittlich 1.154 Euro aus der gesetzlichen Rente, bei den Frauen waren es dagegen nur 634 Euro pro Monat.


Die Zahlen zeigen, dass die gesetzliche Rentenversicherung nach wie vor die tragende Säule des deutschen Systems der Alterssicherung ist und insgesamt, trotz struktureller Defizite, bislang eine Erfolgsgeschichte.


In der laufenden Legislaturperiode des Deutschen Bundestags soll die neu berufene zehnköpfige Rentenkommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ dafür sorgen, dass dies so bleibt. Die Kommission soll bis 2020 einen Bericht vorlegen, der dazu beiträgt, die Rentenhöhen und damit die soziale Lage der Rentner langfristig zu sichern. Es ist zu wünschen, dass die Kommission dabei die „Normalität“ der nach wie vor unterschiedlichen Lebensläufe von Frauen und Männern stärker in der Gesamtkonzeption berücksichtigt, als dies bei vergangenen Reformen der Fall war.


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Christine Bach, geboren 1970 in Sankt Ingbert, Wissenschaftliche Referentin in der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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